Montag, November 25

Wenn Touristen in den peruanischen Anden Kunsthandwerk von Frauen kaufen, ermöglichen sie diesen ein eigenes Einkommen und fördern deren finanzielle Unabhängigkeit. Doch dies hat nicht immer positive Auswirkungen auf die Lebensweise in den Dörfern.

Francesca Querar Mayta, zwei goldene Schneidezähne, strahlt eine Energie aus, der man sich kaum entziehen kann. Sie steht am Rande eines Hanges im Sacred Valley von Peru, trägt eine rüschenbesetzte weisse Bluse, darüber ein rotes, mit weissen Blumen besticktes Jackett, wie es auch in die Alpen passen würde, und einen weiten schwarzen Faltenrock mit bunten Mustern.

«Das ist Alpaka, Babyalpaka und Vincuña», sagt sie und zeigt auf drei Körbe mit beigen bis grauen Haarbüscheln. Francesca Querar Mayta gründete eine Kooperative für webende Frauen in Ccaccaccollo. Sie und ihre Mitstreiterinnen zeigen, wie aus Haarbüscheln bunte Wollfäden und Pullover, Schals, Handschuhe und Mützen werden: durch Säubern, Waschen, Färben, Spinnen; unter Zuhilfenahme von Pflanzen, Steinen und Mineralien aus der Gegend.

Nach der Präsentation dankt Francesca Querar Mayta der Göttin der Erde, der Patchamama, und einem kanadischen Reiseunternehmen, das etwas dazu beitragen will, dass man die Erde nicht mehr bewirtschaften muss.

Noch ungewöhnlicher ist, dass das Gelände der Kooperative direkt an die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten angrenzt, einer protestantischen Freikirche. Dort knien einige Dutzend Menschen in Freizeitkleidung auf dem Fliesenboden und lauschen einer Predigt. Zwischen diesen beiden Traditionen, der alten peruanisch-heidnischen und der neuen multinationalen-christlichen, stehen einige Touristen, die die Präsentation der Frauenkooperative verfolgt haben und Alpakas streicheln.

Ehemaliges Inka-Gebiet: Region Cusco

Komfort und lokales Engagement

Die Reisenden sind mit dem erwähnten Reiseveranstalter unterwegs, G Adventures, dessen Touren eine Mischung aus Rundreise und Backpacking-Trip sind: Die Touristen werden bequem überall hingebracht und können gleichzeitig in das Leben vor Ort eintauchen und dabei Gemeinschaften unterstützen, sich selbst zu helfen.

«Community-based tourism» oder gemeindegestützter Tourismus heisst das Konzept. Jährlich verreisen rund 200 000 Menschen auf diese Art mit der kanadischen Firma. Sie ist nicht das einzige Unternehmen, das diese Form des Reisens anbietet, aber zusammen mit dem australischen Veranstalter Intrepid eines der grössten. Auch deutschsprachige Veranstalter wie DER Touristik oder TUI fördern mittlerweile kleine, lokale Projekte in ihren Reiseländern. Ihnen ist gemein, dass sie Stiftungen gegründet haben, die Träger der Projektförderung sind. G Adventures hat 2003 Planeterra ins Leben gerufen. Sie gibt Anschubfinanzierung, Training und bietet Mentoring in den Initiativen an, die von den Einheimischen selbst verwaltet werden. Die Webkooperative von Ccaccaccollo war eines der ersten Planeterra-Projekte.

Um zu verstehen, warum ausgerechnet das Dorf Ccaccaccollo dazu auserwählt wurde, muss man zwei Dinge kennen: seine Lage und Francesca Querar Mayta.

Auf den Handelswegen der Inkas

Ccaccaccollo befindet sich im Sacred Valley, einem Tal auf dem Weg nach Machu Picchu. Schon vor langer Zeit, als die Inka herrschten, war dieses Tal ein wichtiger Ort. Es hat die Menschen zwischen Machu Picchu und Cusco mit Essen versorgt.

Heute folgen die Einheimischen dazu von Ccaccaccollo einer staubigen Piste, die sich die Hänge hinaufschraubt, bis man vom höchsten Punkt aus über das Tal schauen kann, das der Fluss Urubamba in die Landschaft gegraben hat.

Die Hänge sind kahl, aber bis in die kleinsten Eckchen wurden Terrassen zum Ackerbau angelegt. Sie sind Hunderte von Jahren alt; nur wenige werden noch genutzt. Das Wissen über die Bewässerung ist in den Wirren der Kolonisation zu grossen Teilen verlorengegangen. Nur vereinzelt sieht man heute Menschen auf den Äckern stehen und Kartoffeln ausbringen. Weil das Tal von intensiver Landwirtschaft geprägt ist, ist es auf den ersten Blick touristisch uninteressant, verschwindet im Schatten des übermächtigen Machu Picchu.

Allerdings braucht man, um Menschen nach Machu Picchu zu bringen, Personal: Reiseführer, Hotelangestellte, Fahrer, Träger. Viele von ihnen kommen aus den Gemeinden des Sacred Valley. 4044 Menschen dürfen täglich die Tempelstadt der alten Inkas besuchen, 500 von ihnen erhalten Genehmigungen, sie entlang eines 45 Kilometer langen Wegs zu erwandern, den auch schon die Herrscher vor Hunderten Jahren genommen haben. Dabei begleiten Träger die Wandernden, die Zelte, Nahrung und Wasser transportieren.

Frauen verdienen ihr eigenes Einkommen

2003 hat die peruanische Regierung die Arbeitsschutzregeln für Träger reformiert und die Last, die sie schultern dürfen, begrenzt. Reiseveranstalter brauchen seitdem doppelt so viel Träger. Mitarbeiter von G Adventures suchten neue Männer und fanden Francesca Querar Mayta.

«Ich hab ihnen gezeigt, was wir Frauen machen, und sie gefragt, ob das nicht auch interessant wäre.» Zwei Jahre zuvor hatte sie schon die Frauen des Dorfs versammelt und begonnen, aus Alpakawolle Pullover, Handschuhe, Mützen und andere Dinge zu stricken. Bis dahin hatten die Frauen ihre Produkte untereinander getauscht und dabei geringe Einnahmen erzielt. Jetzt verdienen sie mit den Touristen ihr eigenes Geld. «Früher waren wir Hausangestellte unserer Männer», erzählt Francesca, «jetzt nehmen sie uns ernst.»

Das Dorf Ccaccaccollo ist eine an den Hang gebaute, ungeordnete Ansammlung von ebenerdigen Hütten mit Ziegeldächern, aus Stein errichtet, mit rotem Lehm verkleidet, einige auch bunt gestrichen. Für viele Reisende ist die Siedlung der Ausgangspunkt einer einzigartigen Erfahrung. Von hier aus wandern sie nach Patabamba, wo kaum ein Dutzend Hütten stehen und einer der vielen Wege beginnt, welche die Inkas angelegt haben.

Die einfache Lebensweise verbindet sich mit traditioneller Handwerkskunst: Alltag in Ccaccaccollo.

Die Wege sind mit massiven Mauern gesichert, Treppen wurden in die Hänge gebaut, Brücken über Klüfte angelegt. Man folgt den alten Terrassen und begegnet Einheimischen mit geschnürten Päckchen auf dem Rücken. Man gelangt durch schmale Schluchten über einen Grat und folgt den Spuren der alten Herrscher talwärts, bis man vor einem mächtigen, gemauerten Tor steht, hinter dem sich ein weites Plateau ausdehnt, umgeben von den Überresten alter Stein- und Lehmbauten.

Huchuy Qosqo heisst der Ort, was übersetzt «kleines Cusco» bedeutet. Im 15. Jahrhundert hat sich der Inka Viracocha hier einen herrschaftlichen Sitz bauen lassen. Machu Picchu ist zwar die bekannteste archäologische Stätte, aber in den peruanischen Anden finden sich auch andere, kleinere, unbekanntere Orte. Und viele Reisende suchen nach besonderen Erfahrungen an Orten, die ihre Freunde und Bekannten noch nicht gesehen haben.

Die Win-win-win-Situation hat Tücken

Das klingt wie eine Win-win-win-Situation: Die Frauen haben ein Einkommen, die Touristen nicht nur eine, sondern zwei unverwechselbare Erfahrungen und das Reiseunternehmen ein besonderes Angebot. Aber so einfach ist es leider nicht.

Das erste Problem: Was passiert, wenn die Touristen ausbleiben? Dann stehen Gemeinden wie Ccaccaccollo, in denen die Männer als Träger arbeiten und die Frauen an ihren Pullovern verdienen, ohne Einkünfte da.

«Nach unseren Kriterien sollten touristische Projekte nur eine Zusatzeinnahme für Gemeinden bilden», sagt Claudia Mitteneder, Geschäftsführerin des deutschen Studienkreises für Tourismus und Entwicklung. «Sie sollten nicht andere Einkommensmöglichkeiten ersetzen.» Die Bewohner tun gut daran, ihre eigenen Gemüsegärten und ihre Landwirtschaft nicht aufzugeben.

Für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Der Durchschnittslohn liegt in Peru je nach Region bei 300 bis 400 Euro monatlich, jener von Alpakazüchtern und Subsistenzbauern liegt weit darunter. Ein handgestrickter Pulli aus der Webkooperative bringt 80 Franken. Schnell wird der Verkauf von Selbstgefertigtem an Touristen zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor – und der Gemüsegarten tritt in den Hintergrund.

Können Stiftungen wie Planeterra denn vorgeben, wohin sich eine Kooperative entwickelt, damit sie sich nicht in eine Abhängigkeit von den Touristen begibt? Jein, denn die Kontrolle über das Unternehmen sollte bei den Einheimischen selbst liegen. Aber, so Claudia Mitteneder, es gebe eine Verantwortung dafür, darauf hinzuweisen, dass im Falle einer touristischen Flaute auch andere lokale und regionale Märkte bedient werden können.

Missverständnis um indigene Lebensweise

Das zweite Problem besteht darin, dass der Tourismus das Leben in den Gemeinden verändert – was vielen Touristen nicht bewusst ist. Sie wollen etwas über das ursprüngliche Leben und die alten peruanischen Traditionen erfahren. Also etwas über ein Leben, in dem die Einheimischen aus der Not heraus das nutzten, was es um sie herum gab und gibt: Erde, Steine, Wolle.

Die Situation ändert sich schlagartig, wenn Reisende für lokale Produkte tief in die Tasche greifen und Touristenpreise zahlen. Dieses Geld ermöglicht den Dorfbewohnern, in den Städten günstige Pullover aus China zu erwerben. Die traditionelle Kunst der Wollverarbeitung – Reinigen, Waschen, Färben und Spinnen – wird nur noch zur Schau gestellt. In folkloristische Trachten gekleidet, demonstrieren sie den Touristen, wie einst Alpakapullover entstanden sind. Doch der Alltag hat sich gewandelt. Markenkleidung und Smartphones sind zur Selbstverständlichkeit geworden.

Viele Touristen verstehen oft nicht, dass die alten Techniken und Traditionen, die sie sehen, zwar ihrer Vorstellung von Folklore und traditioneller Kleidung entsprechen, aber nicht unbedingt dem heutigen Lebensstil der Einheimischen. Dadurch wird das Vorurteil verstärkt, dass indigene Völker und andere Einheimische rückständig sind; eine Fortsetzung des kolonialen Denkens.

Touristen bringen oft Mitgefühlsgeschenke wie Kugelschreiber und Plastikspielzeug in abgelegene Dörfer, die nach ihrer Abreise häufig im Müll enden, während die Einheimischen, unter ihnen auch Kinder, bereits moderne Technologien wie Smartphones nutzen oder in den Städten Universitäten besuchen, so etwa die Töchter von Francesca Querar Mayta, die in Lima Wirtschaft und BWL studieren.

Erhalt der Biodiversität: Tradition trifft auf Innovation

Lassen sich diese Probleme lösen? Rocio Zuñiga glaubt daran. Seit sechzehn Jahren betreibt sie in Cusco das «Nuna Raymi», ein Restaurant, auch das ist ein Stopp im Reiseverlauf von G Adventures. Man geht einige Treppenstufen hinauf, durch einen schmalen Gang, in dem unzählige Töpfe mit Kräutern stehen, in einen Raum mit Platz für fünfzig Gäste. Auf den einfachen Holztischen liegen Platzdecken aus Papier, darauf die Karte der Region, übersät mit den Namen der Menschen, mit denen sie zusammenarbeitet.

Das Kochen hat Zuñiga von ihrer Tante gelernt. Sie war die Einzige, die in deren Küche geduldet war. Viele Jahre später ist sie dieser Leidenschaft nachgegangen, wurde aber zunehmend frustriert: «Ich habe festgestellt, dass die Touristen europäisches Essen mit peruanischen Zutaten assen, Risotto aus Quinoa zum Beispiel. Was für eine Diskriminierung!» All das Wissen über die Bergkräuter in den Anden, die ganz anders schmeckten, gehe verloren.

Rocio Zuñiga hat sich deshalb bewusst dagegen entschieden, den Vorstellungen, Erwartungen und Geschmäcken der Touristen zu entsprechen. Während sie spricht, wird ein gebratenes Meerschweinchen durch den Raum getragen, es sieht aus wie ein gebratenes Schwein, nur ist es kleiner und hagerer.

Am Tisch zerlegt der Kellner es mit wenigen schnellen Schnitten. Es duftet gleichzeitig frisch und herb. «Das ist Huacatay», das auch als schwarze Minze bezeichnet wird, wie Rocio Zuñiga erklärt. Dazu gibt es Kartoffeln. Es existieren rund 4000 Kartoffelsorten in Peru. Rocio Zuñiga bezahlt einige Bauern, damit sie sehr seltene Sorten anbauen, solche, die die Bevölkerung nicht mehr kauft.

Dafür zahlt sie ihnen mehr Geld, als sie auf dem Markt bekämen, und die Transportkosten übernimmt sie ebenfalls. «Es geht mir nicht nur um Tradition», erklärt sie, «Biodiversität hilft uns, wenn sich das Klima ändert. Auch haben die alten Arten weniger Schädlinge als die hochgezüchteten.»

Konkurrenz und Neid in den Gemeinschaften

Rocio Zuñigas Ansatz ist nicht rückwärtsgewandt, sie nutzt altes Wissen, um damit die Zukunft zu gestalten. Ihre Produzenten haben von ihr gelernt. Julian Hancco, einer ihrer Bauern, ein sehr alter Mann, könne Erde essen und schmecken, welche Mineralien ihr fehlten, schwört Rocio Zuñiga. Seine Enkelin ist bei ihm ins Unternehmen eingestiegen, zusammen machen sie Kartoffelchips.

Allerdings kann man ihnen anders als den Frauen von Ccaccaccollo nicht dabei zusehen. Man kann nur ihre Produkte kaufen, die in einem Regal im Restaurant ausgestellt sind: Chips, Kakaobohnen mit Vanillekruste, Kaffee einer alten Bohnensorte. «Einige davon habe ich zufällig entdeckt, bei anderen habe ich Gemeinden unterstützt, damit sie aus ihren Ressourcen etwas entwickeln, was spannend schmeckt», sagt Rocio Zuñiga.

Der Kauf von traditionell hergestellten Produkten durch Touristen führt zu Neid und Konkurrenz innerhalb und zwischen den Dörfern. Dennoch betrachten einige Menschen dies als Ansporn, kreativ zu werden und zu zeigen, dass gemeinsame Herausforderungen nur gemeinsam bewältigt werden können.

Macht Rocio gemeindegestützten Tourismus? Das kommt auf die Sichtweise an. Ihre Gäste sind überwiegend Touristen, auch wenn seit der Pandemie viele wohlhabendere Einheimische kommen, und mit ihren Einnahmen finanziert sie ebenjene Menschen, die noch über traditionelles Wissen verfügen und traditionell arbeiten. Nur steht, wenn sie auf dem Acker die Kartoffeln setzen oder die Meerschweinchen züchten oder die Kräuter sammeln, kein Tourist daneben und schaut dabei zu. Vielleicht ist das aber der gemeindegestützte Tourismus auf Augenhöhe, bei dem eben auch der Reisende selbst anerkennen muss, dass sein direkter Blick, seine Sichtweise nicht wichtiger ist als die der Menschen, die vor Ort leben.

Woran erkennt man gute gemeindegestützte Projekte?

Neben menschenwürdigen Arbeitsplätzen, einer Kinderschutzpolitik und Umweltstandards ist es wichtig, dass die Projekte nur ein Zusatzeinkommen zur existierenden Wirtschaft bilden und diese nicht ersetzen. Die Initiative für die Projekte sollte von den Einheimischen selbst ausgehen, die sie auch aktiv gestalten. Sie entscheiden darüber, was sie beispielsweise stricken, wie die Einnahmen verteilt werden und was mit diesen gemacht wird.

Da nicht nur Einzelne, sondern die gesamte Gemeinde vom Tourismus profitieren soll, ist es wichtig, dass Teile der Einnahmen für kollektive Anschaffungen und Bauten genutzt werden, etwa für Schulen oder für Wasserleitungen. Häufig bekommen Projekte eine Anschubfinanzierung, sie sollen sich aber langfristig selbst tragen, zunehmend unabhängig werden und ihre eigene Zukunft sichern können.

Diese Reportage wurde möglich durch die Unterstützung von G Adventures.

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