Montag, September 30

Statt Sonderwünschen sollte in der Schule wieder der Gemeinsinn im Zentrum stehen. Dabei sind nicht nur die Eltern in der Pflicht.

Sie wollten doch nur auf die Malediven. Eine Zürcher Mutter hat für sich und ihre Kinder Traumferien gebucht: ein Water-Bungalow am Indischen Ozean, türkisfarbenes Wasser statt wolkengraue Schweiz.

Das Problem: Eine Woche der Ferien lag in der Schulzeit der Tochter. Die Schule gab ihr nicht frei – zu viele alte Absenzen, zu viel verpasster Stoff. Der Mutter war das egal. Sie ging trotzdem.

Der Fall, der kürzlich vor einem Zürcher Gericht in einer Verurteilung der Mutter mündete, ist nur einer von vielen. Schulleiter und Lehrpersonen berichten von immer abenteuerlicheren Wünschen aus der Elternschaft. Die bereits heute bestehenden Jokertage reichen vielen nicht: Sie wollen dann in die Ferien, wann es ihnen gerade passt.

Schulzeit? Egal. Das Nein der Schule? Ein Skandal.

Die Haltung dahinter ist leider alles andere als neu. Rekurse, Notenerwartungen, Extrawürste: Die Volksschule scheint in den Augen vieler Eltern zunehmend ein Wunschkonzert zu sein.

Der Sohn besteht die Gymiprüfung nicht? Sofort Rekurs einlegen. Die Noten sind zu tief? Ein Fall fürs Bundesgericht. Ein Mobbing-Verdacht gegen den Junior? Der Anwalt steht schon bereit.

Die Schule ist nicht für die Eltern da

Kein Gespräch mit einer Lehrerin oder einem Lehrer dreht sich früher oder später nicht um solche Fälle. Laut dem kantonalen Schulleiterverband hat die Streitwilligkeit der Eltern zugenommen. Gerade in Zeiten des Lehrerinnen- und Lehrermangels ist das ein Problem. Schulen ächzen unter den zeitlichen und finanziellen Kosten von Prozessen und langwierigen Verhandlungen mit Eltern, die nicht einsehen wollen, warum für sie und ihren Nachwuchs gelten soll, was auch für alle anderen gilt.

Dabei ist die Sache eigentlich klar: Ferien sind Ferien. Schulzeit ist Schulzeit. Nicht bestanden ist nicht bestanden. Und die Volksschule ist kein Wunschkonzert, sondern eine Pflichtveranstaltung – so wie es auch im Volksschulgesetz steht.

Das heisst nicht, dass Rekurse nicht zuweilen berechtigt sind: Lehrpersonen und Schulen machen – wie Eltern – manchmal Fehler. Und es ist gut, dass man sich in der Schweiz auf dem Weg des Rechtsstaats dagegen wehren kann. Doch sind es leider genau die berechtigten Fälle von Elternprotest, die unter der Streitflut am meisten leiden. Sie drohen darin nämlich unterzugehen.

Das Problem der elterlichen Anspruchshaltung ist ein grundsätzliches: Sie verkennt, wozu die Schule da ist. Und für wen: nicht für die Eltern und die Lehrpersonen nämlich, sondern für die Schülerinnen und Schüler.

Um ihre Grundbildung geht es, ein in der Bundesverfassung verankertes Recht. Und in gewisser Hinsicht auch um den nationalen Zusammenhalt: Die Volksschule ist die einzige Institution, durch die so gut wie alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz hindurchmüssen – egal, woher ihre Eltern kommen, was sie glauben, wo sie politisch stehen, wie reich oder arm sie sind.

In der Schule treffen auch jene zusammen, die sonst womöglich nie in Kontakt gekommen wären.

Im Geist der Aufklärung

Ähnlich dem Militär und dem Vereinswesen bietet die Schule im Idealfall das, was eine Demokratie wie die Schweiz zusammenhält: einen Sinn für Gemeinschaft, genährt von gemeinsam erlernten und diskutierten Werten.

Das erste Zürcher Volksschulgesetz – das erste seiner Art im deutschsprachigen Raum – entstand 1832 im Geist der Aufklärung. «Die Einrichtung der Volksschule», schreibt der Bildungsforscher Jürgen Oelkers, «war gleichbedeutend mit der Absage an jede Form von Standesschule, wie sie im europäischen Umfeld zu diesem Zeitpunkt noch völlig selbstverständlich war.»

Angesichts dessen ist es besorgniserregend, wenn heute die Privatschulquote im Kanton Zürich um einen Drittel höher ist als noch vor zwanzig Jahren – ein Wert, zu dem vor allem die Goldküsten-Gemeinden beitragen.

Es ist dabei auch an den Schulen, dem Eindruck entgegenzutreten, dass sie nur noch Sonderwünsche erfüllen, statt den Gemeinsinn zu fördern. Die vielen pädagogischen Reformen der letzten Jahrzehnte – selbstorganisiert, kompetenzorientiert, antiautoritär – drohen, bei all ihren Verdiensten, in der Summe auch zum Vertrauensverlust in das System Schule beizutragen, der sich in der Anspruchshaltung mancher Eltern zeigt.

Die Volksschule, immer mehr auf Individualisierung getrimmt, darf ihre gesamtgesellschaftliche Funktion nicht verlieren. Sie ist wichtiger als die Wünsche Einzelner – und erst recht als Ferien auf den Malediven.

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