Sonntag, Oktober 6

Die zweite Säule ist den Leuten fremd. Eine Umfrage offenbart grössere Fehleinschätzungen. Viele überschätzen die Folgen der Reform, die im September an die Urne kommt.

Es klingt fast wie ein Zwischenzeugnis, allerdings kein sehr gutes: «Die Schweizer Bevölkerung geht mit ungenügenden Basiskenntnissen und verzerrten Vorstellungen in die Abstimmungsdebatte zur BVG-Reform.» Zum Beispiel überschätze sie massiv den Anteil der Versicherten, die bei einer Annahme der Vorlage betroffen wären. So steht es in einer am Montag publizierten Studie zur beruflichen Vorsorge (BVG), die das Forschungsbüro Sotomo im Auftrag der Zürich-Versicherungen verfasst hat. Sie basiert auf einer Befragung von gut 1600 Personen.

Wissenslücken und Fehleinschätzungen: Die sind laut den Autoren weit verbreitet. Dass viele nicht genau wissen, wie die zweite Säule der Altersvorsorge funktioniert, ist keine völlig neue Erkenntnis und angesichts der abschreckenden Komplexität auch nicht überraschend. Die Umfrage verdeutlicht jedoch, dass zusätzlich zum Nicht- und Halbwissen auch von einer verzerrten Wahrnehmung und von Irrtümern auszugehen ist. Und diese könnten die Abstimmung über die BVG-Reform am 22. September direkt beeinflussen.

Erstes Problem: Die Folgen der Reform werden überschätzt. Im Zentrum der Vorlage steht die Reduktion des gesetzlichen Umwandlungssatzes. Dieser legt fest, wie das angesparte Guthaben bei der Pensionierung in eine Rente umgerechnet wird. Heute ist der Satz angesichts der Lebenserwartung und realistischer Anlagerenditen zu hoch. Nun soll er von 6,8 auf 6 Prozent reduziert werden. Die Reform sieht Kompensationen wie höhere Lohnbeiträge vor, die darauf abzielen, Rentenkürzungen zu verhindern.

Die Sache mit den freiwilligen Einzahlungen

Die grosse Frage ist nun aber, wer von all dem überhaupt betroffen ist. In der Umfrage wurden die Teilnehmenden gebeten, zu schätzen, wie viele Versicherte wegen der Reduktion wohl eine tiefere Rente erhalten würden. Durchschnitt der Schätzungen: 63 Prozent wären von Kürzungen betroffen. Das ist ein unrealistisch hoher Wert. Laut amtlichen Angaben und Fachleuten ist klar, dass die grosse Mehrheit der Angestellten von der Reduktion des Umwandlungssatzes nicht betroffen sein wird. Laut dem Bundesrat ist dies bei mindestens zwei Dritteln der Versicherten der Fall. Andere Prognosen gehen sogar davon aus, dass 85 Prozent nichts davon bemerken werden.

Des Rätsels Lösung liegt in einer Besonderheit der beruflichen Vorsorge, die oft für Verwirrung sorgt: Sie besteht aus einem gesetzlichen Minimum, das quasi den Sockel der zweiten Säule bildet. Die Abstimmungsvorlage bezieht sich nur auf diesen Teil. Die meisten Pensionskassen gehen aber freiwillig über dieses Minimum hinaus. Hier zahlen die Angestellten und ihre Arbeitgeber einen grösseren Teil des Lohns direkt in die Pensionskasse ein als vom Gesetz vorgesehen – sie legen also mehr Geld fürs Alter zur Seite, als zwingend vorgeschrieben. Vielfach ist es auch so, dass die Arbeitgeber freiwillig mehr als die Hälfte der Beiträge bezahlen.

In all diesen Fällen besteht das individuelle Sparguthaben, das sich über die Berufsjahre summiert, aus einem «obligatorischen» und einem «überobligatorischen» Teil. Auch Personen mit tiefen Löhnen können viel überobligatorisches Kapital haben. In solchen Fällen können die Pensionskassen bei der Berechnung der Renten schon heute eine Mischrechnung machen, um die Vorgaben des Gesetzes einzuhalten. Dadurch können sie den Umwandlungssatz tiefer als die gesetzlichen 6,8 Prozent ansetzen und die Mindestvorgaben dank dem überobligatorischen Kapital immer noch einhalten. Deshalb kann die Mehrheit der Versicherten davon ausgehen, dass sie von der jetzt geplanten Senkung des gesetzlichen Umwandlungssatzes nichts merken werden.

Umwandlungssätze sind tiefer, als die meisten meinen

An dieser Stelle offenbart die Umfrage zwei weitere wesentliche Fehleinschätzungen. Erstens: Der freiwillige Teil der zweiten Säule wird stark unterschätzt. Laut offiziellen Statistiken haben 85 Prozent der Versicherten einen relevanten Teil ihres Pensionskassenguthabens im überobligatorischen Bereich. In der Umfrage aber zeigten sich nur 30 Prozent überzeugt, dass sie persönlich überobligatorisch versichert seien. Weitere 45 Prozent waren nicht sicher. Gefragt, wie gross gesamthaft der Anteil des freiwilligen Teils an den Sparguthaben wohl sein mag, ergab die Umfrage eine Schätzung von nur einem Drittel. In Tat und Wahrheit sind es gut 60 Prozent.

Zweitens: Man kennt den eigenen Umwandlungssatz nicht – und meint offenbar, er sei deutlich höher. Die Teilnehmenden sollten bei der Befragung schätzen, wie hoch die tatsächlichen Umwandlungssätze der Pensionskassen im Durchschnitt sind, wenn man auch den überobligatorischen Teil einbezieht. Antwort: 6,2 Prozent. Richtig wäre: 5,2 Prozent. Es braucht wenig Phantasie, um sich auszumalen, was dieser Grundlagenirrtum für die Chancen der BVG-Reform bedeuten könnte – wie viel ihres Schreckens die vorgesehene Reduktion auf 6 Prozent verlieren würde, wenn man wüsste, dass die meisten Umwandlungssätze längst weit darunter liegen.

Die Sache bleibt zwiespältig. Obwohl die zweite Säule hohe Akzeptanz geniesst und geschätzt wird, weiss man nicht genau, wie sie funktioniert, und steht ihr offenbar relativ fremd gegenüber. So nimmt rund die Hälfte der Versicherten laut der Umfrage das angesparte Guthaben in ihrer Pensionskasse nicht als das wahr, was es ist: ihr eigenes Vermögen.

Gegner sind im Vorteil

Was tun? Die Autoren der Studie weisen auf den alljährlichen Versand der individuellen Pensionskassenausweise hin. Dieses Dokument wird laut der Umfrage von zwei Dritteln der Versicherten tatsächlich angeschaut. Somit biete sich hier eine Chance, die Bevölkerung besser über die zweite Säule aufzuklären, halten die Autoren fest. Man kann es auch anders formulieren: Offenkundig sind die Ausweise heute nicht besonders gut gemacht, wenn die meisten Versicherten sie zwar lesen, aber nicht besser Bescheid wissen.

Bleibt die Frage, was das alles für die Abstimmung im September bedeutet. Die BVG-Reform hat schon aus rein politischen Gründen einen schweren Stand. Sie wird nicht nur von der geeinten Linken bekämpft, sondern auch Teile des Gewerbes und der Landwirtschaft sind skeptisch. Hinzu kommen die Probleme, auf welche die neue Studie hinweist.

Der Autor Michael Hermann sagt, die Gegner der Reform könnten sich das fehlende Wissen und die verbreiteten Fehleinschätzungen zunutze machen und die Verunsicherung in der Bevölkerung noch verstärken. «Je mehr sich widersprechende Aussagen, Einschätzungen und Behauptungen im Raum stehen, desto eher klammert sich die Bevölkerung an den Status quo.»

Die Befürworter hingegen haben es umso schwerer, müssen aufklären, erklären, informieren, richtigstellen. Michael Hermann: «Gelingt die Aufklärungsarbeit nicht, wird es die Vorlage schwer haben.»

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