Donnerstag, Oktober 10

Bei der Abstimmungsvorlage zur beruflichen Vorsorge heben sich Gewinne und Verluste auf. Die beliebte Suche nach Opfern und Profiteuren ist ein tückisches Geschäft.

Hier ist die gute Nachricht zur umstrittenen Pensionskassenreform: Das Projekt entzieht dem Volk keinen Wohlstand, der sich in der Folge in Luft auflösen würde. Die Kampfparole der Gewerkschaften («mehr Beiträge, weniger Rente») kann man deshalb getrost als bewusste Irreführung abhaken. Die schlechte Nachricht: Die Reform verteilt kein neues Geld, das mit einem Volks-Ja vom Himmel fallen würde.

Lässt man den administrativen Aufwand für die Umsetzung des Projekts sowie potenzielle Verhaltensänderungen grosszügig ausser acht, geht es um ein Nullsummenspiel. Es gibt Profiteure und Nettozahler, und in Franken heben sich diese beiden Gruppen auf. Das beliebte Ratespiel lautet: Wer gehört zu welcher Gruppe? Die Kurzantwort heisst: Das hängt von den Umständen im Einzelfall ab. Dazu gehören Alter, Einkommen, Arbeitspensum, Karriereentwicklung, Pensionskasse, Vorsorgeplan, künftige politische Entscheidungen, Finanzmarktentwicklung und manches mehr.

Schwer durchschaubare Wirkungen

Die lange Antwort beginnt mit dem Verweis auf die unterschiedlichen Elemente der Abstimmungsvorlage mit zum Teil gegenläufigen Wirkungen. Hier sind die Kernelemente:

  • Mindestrente. In der beruflichen Vorsorge wird bei der Pensionierung das persönlich angesparte Vorsorgekapital via Umwandlungssatz in eine Jahresrente umgerechnet. Im obligatorischen Teil gibt es einen gesetzlichen Mindestumwandlungssatz von 6,8 Prozent; pro 100 000 Franken Alterskapital muss somit eine Jahresrente von mindestens 6800 Franken fliessen. Dies ist heute rechnerisch viel zu hoch, weil in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung laufend gestiegen ist, ohne dass das Rentenalter mit gestiegen wäre, und weil die Erwartungen zu den Anlagerenditen mit der Reduktion des Zinsniveaus gesunken sind.

    Die Reform bringt eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6,0 Prozent. Direkt davon betroffen sind laut Expertenschätzungen nur etwa 10 bis 20 Prozent der Versicherten; die anderen haben erhebliches überobligatorisches Vorsorgekapital. Im Überobligatorium schreibt das Gesetz keinen Mindestumwandlungssatz vor, so dass die Pensionskassen in einer Mischrechnung schon heute mathematisch angemessene Sätze anwenden können. Die Versicherten ohne viel überobligatorisches Kapital erhielten bisher aber eine massiv subventionierte Rente, die in der Regel durch die Erwerbstätigen der gleichen Pensionskasse bezahlt wird – zum Beispiel durch eine Reduktion der Verzinsung ihres Vorsorgekapitals.

    Die Senkung des Mindestumwandlungssatzes drückt nun zunächst die Jahresrente von Neurentnern um etwa 12 Prozent (die laufenden Renten bleiben unangetastet). Von dieser Kürzung der Rentnersubvention profitieren die Jüngeren – sie erhalten auf ihrem Vorsorgekapital eine bessere Verzinsung und damit später eine entsprechend höhere Rente. Der Saldo für die Gesamtgesellschaft ist somit null.

  • Rentenzuschlag. Etwa die Hälfte der Versicherten in 15 Übergangsjahrgängen (50- bis 64-Jährige beim Inkrafttreten der Reform) erhalten als «Kompensation» oder gar Überkompensation für die Senkung des Umwandlungssatzes einen lebenslangen Rentenzuschlag. Dieser ist abgestuft nach Alter und nach angespartem Vorsorgekapital. Der maximale Zuschlag beträgt 2400 Franken pro Jahr.

    Die Zuschläge sind eine neue Subvention als «Ausgleich» für die Kürzung der bisherigen Subvention. Die Rentenzuschläge kosten laut Bundesschätzung zum heutigen Geldwert etwa 11 Milliarden Franken. Dies ginge faktisch grösstenteils zulasten der Erwerbstätigen: Deren Renten werden künftig tiefer sein, als sie es ohne Zuschläge für die Übergangsjahrgänge wären.

    Laut diversen Experten sind die Rentenzuschläge so umfangreich, dass sie die Senkung des Umwandlungssatzes insgesamt überkompensieren, was die Quersubventionierung von Erwerbstätigen zu Rentnern vorderhand sogar noch erhöht. Erst langfristig würde sich das Bild umkehren. Auch die Rentenzuschläge verändern also per saldo den Wohlstand nicht.

  • Lohnabzüge. Die Reform bringt auch Änderungen bei den Lohnabzügen (im Jargon oft «Lohnbeiträge» genannt). Zurzeit gibt es im Obligatorium je nach Altersgruppe vier verschiedene Abzugssätze. Künftig soll es nur noch zwei Sätze geben: 9 Prozent für 25- bis 44-Jährige und 14 Prozent für 45- bis 64-Jährige. Dies erhöht die Lohnbeiträge bis Alter 34 und senkt sie danach. Dies soll die Älteren am Arbeitsmarkt, relativ gesehen, «billiger» machen.

    Gleichzeitig wächst aber der versicherte Lohnteil. Zum einen sinkt die Eintrittsschwelle: Künftig sollen Jahreseinkommen ab 19 845 Franken statt ab 22 050 Franken obligatorisch versichert sein. Die Obergrenze des versicherten Lohns im Obligatorium bleibt bei 88 200 Franken. Bedeutender ist die Änderung beim Koordinationsabzug. Dieser Abzug, der eine Doppelversicherung durch AHV und Pensionskasse vermeiden soll, beträgt 25 725 Franken. Künftig soll er variabel sein – 20 Prozent des Jahreslohns.

    Bei einem Lohn von zum Beispiel 50 000 Franken wären somit künftig im Obligatorium der beruflichen Vorsorge 40 000 Franken versichert (Lohn minus 20 Prozent) statt wie bisher nur 24 275 Franken (Lohn minus fixen Koordinationsabzug). Je tiefer der Jahreslohn ist, desto grösser ist somit der Ausbau des Versicherungsobligatoriums. Das entspricht dem Willen des Parlaments, die berufliche Vorsorge für tiefere Einkommensgruppen zu stärken.

    In der Gesamtbetrachtung führen die Änderungen bei den Beitragssätzen und dem versicherten Lohnteil zu einem Ausbau des Obligatoriums mit höherem Vorsorgekapital und damit auch höheren Renten. Im Gegenzug steigen aber auch die Lohnabzüge. Was meist ausgeblendet wird: Auch der Arbeitgeberanteil von Lohnbeiträgen dürfte faktisch grossenteils auf die Arbeitnehmer überwälzt werden – indem die höheren Lohnnebenkosten das Wachstum der Löhne bremsen, die Beschäftigung hemmen und die Arbeitnehmer in Form höherer Konsumentenpreise belasten.

Theoretische Falltypen

Wer gewinnt, und wer verliert? Diese Frage steht in der politischen und medialen Diskussion oft im Vordergrund – vor allem bezüglich Höhe der Renten. Eine seriöse Tabelle für den Gesamtsektor, unterteilt nach Alters- und Lohngruppen, ist kaum machbar, weil vieles von den Besonderheiten des konkreten Einzelfalls abhängt. Möglich sind aber modellhafte Betrachtungen für theoretische Versichertengruppen mit stark vereinfachenden Annahmen. Der Bund hat 2023 eine solche Tabelle mit verschiedenen Alterstypen (von 20 bis 65 Jahren) und Lohnklassen (von 25 000 bis 88 200 Franken) publiziert. Das genannte Alter bezieht sich dabei jeweils auf das Jahr des Inkrafttretens der Reform; diese würde bei einem Volks-Ja wohl frühestens Anfang 2026 in Kraft gesetzt.

Zu den zentralen Modellannahmen gehören: Die Betroffenen haben kein überobligatorisches Vorsorgekapital, die Löhne, Preise und die Verzinsung des Vorsorgekapitals entwickeln sich im Gleichklang, und es gibt keine Karrieresprünge, Erwerbsunterbrüche oder Änderungen beim Arbeitspensum. So dürften die publizierten Zahlen für kaum einen Einzelfall zutreffen, sondern höchstens grobe Tendenzaussagen zu den direkten Folgen für gewisse Falltypen erlauben. Eine ähnliche Tabelle hat die Beratungsfirma VZ Vermögenszentrum in einer Studie vom vergangenen Monat veröffentlicht. Im Unterschied zu den Bundesschätzungen haben diese Berechnungen laut VZ auch gewisse Karriereentwicklungen und damit Lohnsprünge berücksichtigt.

Beide Tabellen führen zu ähnlichen Tendenzaussagen. Hier zwei davon für Versicherte, die nur im gesetzlichen Minimum (BVG-Minimum) versichert sind: Bei Jahreslöhnen bis 50 000 Franken dürften die Jahresrenten in praktisch allen Altersgruppen steigen; und bei Jahreslöhnen von 70 000 bis knapp 90 000 Franken dürften die Renten zumindest in den Altersgruppen zwischen 35 und 55 sinken.

Laut Modellrechnungen der Beratungsfirma BSS für die Frauenorganisation Alliance F dürfte die Reform bei rund 85 Prozent aller Versicherten keine direkten Auswirkungen auf die Rentenhöhe haben – weil die Abdeckung dieser Versicherten heute deutlich über das gesetzliche Minimum hinausgeht. Bei etwa 10 Prozent der Versicherten dürften laut den Schätzungen die Renten steigen, und bei etwa 5 Prozent dürften sie sinken.

Der Saldo zählt

Entscheidend bei der Suche nach Profiteuren und Nettozahlern ist aber der Saldo von Rentenänderung und Beitragsänderung. Damit kommt man auf noch dünneres Eis. Der Bund hat in seinen theoretischen Modellrechnungen für Direktbetroffene, die praktisch immer nur im BVG-Minimum versichert sind, drei grobe Wirkungskategorien genannt:

  • Höhere Renten und höhere Beiträge: Personen mit einem Jahreslohn unter 60 000 Franken und Mehrfachbeschäftigte.
  • Tiefere Renten und tiefere Beiträge: 40- bis 60-Jährige mit einem Jahreslohn von konstant über 80 000 Franken.
  • Höhere Beiträge und tiefere Renten: Auf diesen unglücklichen Falltyp stürzen sich die Kritiker genüsslich. Bei diesen Fällen genügt in Bezug auf das Rentenniveau die Ausweitung des versicherten Lohnteils nicht, um die Senkung des Mindestumwandlungssatzes zu kompensieren. Laut Bund gehören zu diesem Falltyp Personen bis Alter 30 mit einem Jahreslohn von konstant mindestens 75 000 Franken. Und 35- bis 50-Jährige mit einem Lohn von konstant zwischen 65 000 und 80 000 Franken.

    Auch wohlmeinende Beobachter kritisieren dies als handwerklichen Fehler. Ein genannter Hauptgrund dahinter: Der neu in Prozent errechnete Koordinationsabzug beim versicherten Lohn führt dazu, dass bei den höheren Löhnen im Obligatorium der versicherte Lohnteil zu wenig steigt, um die Senkung des Umwandlungssatzes auszugleichen. Dies hätte sich laut Beobachtern durch Ergänzung mit einem Deckel des Koordinationsabzugs in absoluten Zahlen weitgehend verhindern lassen.

Die genannten Betrachtungen sagen mit Ausnahme des letztgenannten Falltyps noch nichts über den Saldo der Wirkungen aus. Und auch ohne die eher realitätsfernen Annahmen würden die erwähnten Berechnungen nicht das volle Bild zeigen, denn die indirekten Wirkungen sind nicht berücksichtigt. Zu diesen Wirkungen zählt die höhere Verzinsung des Vorsorgekapitals für die Jüngeren dank der Senkung des Umwandlungssatzes. Das dadurch erhöhte Kapital erhöht später auch die Rente. Dieser Effekt wird aber wegen der Rentenzuschläge für die Übergangsjahrgänge zur Kompensation der Senkung des Umwandlungssatzes erst weit später einsetzen.

Was nun?

Zur Gesamtwirkung aller Elemente lassen sich angesichts der Komplexität bestenfalls grobe Tendenzaussagen machen. Hier ein Versuch: Die meisten Versicherten sind von der Reform nicht direkt betroffen, aber fast alle sind indirekt betroffen, wenn auch oft nicht sehr stark; die Wirkungen hängen vom Einzelfall ab; die Lohngruppen über 90 000 Franken sind wenig betroffen, aber tendenziell eher Nettoverlierer; innerhalb der Lohngruppen bis knapp 90 000 Franken sind die tiefen Gruppen eher Nettogewinner; die Übergangsjahrgänge sind vor allem in den tieferen Lohnklassen eher Nettogewinner; die Jüngeren sind zunächst eher Nettoverlierer, doch sehr langfristig sollte sich dies umkehren.

Was sollen die Stimmbürger damit machen? Wer über die eigene Nasenspitze hinausblicken will, mag sich letztlich zwei Grundsatzfragen stellen wollen. Erstens: Will man den Mindestumwandlungssatz senken und damit die versteckte Quersubventionierung von Jung zu Alt reduzieren – aber gleichzeitig solch breite Rentenzuschläge zahlen, dass der angestrebte Effekt vielleicht erst nach weit mehr als einem Jahrzehnt einsetzt? Und zweitens: Will man die Zwangsversicherung in der beruflichen Vorsorge auf tiefere Jahreseinkommen und damit auch auf mehr Teilzeitbeschäftigte ausdehnen und dafür mehr Lohnabzüge für die Betroffenen in Kauf nehmen?

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