Myanmar ist nicht nur vom Erdbeben erschüttert, es bleibt ein Land im Krieg. In geheimen Spitälern im Dschungel improvisieren Ärzte und Pflegerinnen mit dem, was sie haben.
Eine Kugel fliegt über den Schützengraben, alle ducken sich. Den Kopf im falschen Moment zu heben, kann tödlich sein. Drei junge Männer vom Bataillon Urban Revolutionary Front bewegen sich gebeugt weiter. Nur sechzig Meter trennen sie von den Stellungen der Militärjunta unter General Min Aung Hlaing.
Ein Land im Aufstand – und unter Dauerbeschuss
Seit dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 kämpfen die Rebellen beim Dorf Moe Bye, östlich der Hauptstadt Naypyidaw, für eine Rückkehr zur Demokratie. Viele der Rebellen sind kaum älter als zwanzig. Sie ziehen mit leichten Sturmgewehren in den Krieg.
Nachdem die Junta die friedlichen Demonstrationen niedergeschlagen hatte, griffen viele Menschen im ganzen Land zu den Waffen. Mit Erfolg: Die Junta hat mittlerweile die Herrschaft über weite Teile des Landes verloren. Laut einer Schätzung der Menschenrechtsgruppe Special Advisory Council sind 86 Prozent des Gebiets entweder unter Kontrolle von bewaffneten Gruppen oder umkämpft. In diesen Regionen leben fast zwei Drittel der Bevölkerung Myanmars.
Am 28. März 2025 wurde Myanmar vom schwersten Beben seit hundert Jahren erschüttert. Es gab über 3500 Tote, 4500 Verletzte. Trotzdem flog das Regime seither mehr als 129 Luftangriffe.
Es ist möglich, über die thailändische Grenze in das Rebellengebiet zu gelangen. Vor Ort zeigt sich: Trotz der am 2. April ausgerufenen Waffenruhe, die den Erdbebenopfern helfen sollte, geht der Krieg weiter.
Medizin zwischen Baumwurzeln und Bomben
Ein Stöhnen durchbricht die Stille des Waldes. Rund dreissig Kilometer von der Front entfernt nimmt ein geheimes Spital verletzte Rebellen auf. Im Fall eines Luftangriffs steht ein Schutzbunker bereit – Platz für fünfzig Personen, in die Erde gegraben. Das dichte Blätterdach und schwarze Planen über den Gebäuden sollen verhindern, dass Drohnen das Lager namens Luker erspähen.
Im Hauptgebäude arbeiten Pflegerinnen. Sie sind zwischen 18 und 30 Jahre alt, ungelernt, sie improvisieren mit dem, was sie haben. Inmitten des Dschungels versorgen sie offene Wunden mit erstaunlicher Präzision. Meist stammen die Verletzungen von Granatsplittern oder Bomben.
Ein Kämpfer um die vierzig mit gebrochenem Arm verbeisst sich in der Decke, als 90-prozentiger Alkohol über den offenen Bruch läuft. Direkt neben ihm liegt ein Mann mit abgetrenntem Bein auf einem alten, staubigen Bett, er ist ganz ruhig, obwohl er Höllenqualen leiden müsste – offenbar hat er Morphium bekommen. Plötzlich schreit ein junger Verwundeter auf. Splitter haben sein Bein und seine Schulter schwer verletzt. Weil es keine Narkosemittel mehr gibt, halten ihm Kameraden das Bein fest, während eine Pflegerin seine Wunde während dreissig Minuten mit einem Stofffetzen säubert.
Seit dem Morgen ist der einzige Neurochirurg der Klinik im Einsatz. Er überwacht jede Operation. Als der Putsch begann, hatte er gerade seine Ausbildung abgeschlossen. Jetzt leitet er ein ganzes Notfallteam nahe der Front. «Wir haben einen Operationsraum, aber keine Intensivstation. Es fehlt an Personal. Jeder, der helfen will, wird angelernt», sagt er. Etwa dreissig Freiwillige arbeiten derzeit im Spital.
Der Klinikleiter, der sich unter den schattigen Bäumen vor dem Spital kurz ausruht, hatte vor Wochen überlegt, ganz zu schliessen. Zweimal seien sie im Februar bombardiert worden, die Bomben verfehlten ihr Ziel nur um 300 Meter. Die Klinik blieb zwei Wochen geschlossen, dann machte sie wieder auf. «Sie wissen, wo wir sind. Ich weiss nicht, wie lange wir noch weitermachen können.»
Das Erdbeben hielten sie zunächst für einen erneuten Luftangriff. Sauerstoffflaschen stürzten um, eine von zwei Narkosemaschinen ging zu Bruch. Im gesamten Gliedstaat Kayah hat das Beben Spuren hinterlassen. In der Stadt Demoso stürzte eine Kirche ein. In der Nähe der Häuser öffnete sich ein gewaltiger Krater im Boden, die Leute sagen, er reiche hundert Meter in die Tiefe. Immer wieder stehen Neugierige am Rand und spähen in das Loch.
Der Kämpfer, der Bauer werden will
Zwischen Felswänden, Bäumen und Gestrüpp versteckt liegt ein weiteres geheimes Spital, es trägt den Namen O1. Auch hier schützt das Blätterdach die Klinik vor Spionagedrohnen aus der Luft. Im O1 erhalten Kämpfer wie Zivilisten Hilfe. Kinder, Schwangere und Kriegsverwundete liegen Tür an Tür. Manche sind auf eine Mine getreten, andere wurden von einer Kugel gestreift – oder hatten einfach einen Unfall.
Eine 31-jährige Frau kam am 4. April nach einem Verkehrsunfall an. «Die Bremsen haben versagt. Zwei Freundinnen starben», sagt sie. Andere warten auf eine Biopsie oder eine Chemotherapie, doch beides ist hier nicht möglich. Ein alter Mann windet sich vor Schmerzen auf einem provisorischen Bett. «Wir vermuten Magenkrebs», sagt der Allgemeinarzt Soe Yan Naing.
Vor zwei Monaten spielte die 14-jährige Margaret mit einer Freundin in einem Lager für Vertriebene, als ein Sprengsatz aus der Luft abgeworfen wurde. «Ich habe das Geräusch über mir gehört, aber war vor Schreck erstarrt. Meine Freundin konnte noch in den Wald rennen.»
Margarets Schienbein ist gebrochen, das Becken verschoben. Sie hat Glück gehabt, dass ihr Bein nicht amputiert werden musste. Seit dem Angriff spricht sie so leise, dass man sie kaum noch versteht. «Es ist ein posttraumatischer Schock», erklärt der Arzt. «Ihr Gehirn hat die Schmerzen noch nicht verarbeitet. Wir wissen auch nicht, wie wir Kinder richtig betäuben sollen. Die Dosierungen sind unklar.»
Ein junger Mann mit weichem Gesichtsausdruck richtet sich auf seinem Krankenbett auf. Der 19-jährige Sweta Ning stammt aus Moe Bye – nahe der Front. Sein linker Fuss wurde von einer Mine zerfetzt. «Ich habe mich selbst amputiert. Brauchte keinen Arzt», sagt er zu seiner Freundin, er kann noch witzeln.
Nach der Explosion band ihm ein Sanitäter den Oberschenkel ab, um die Blutung zu stoppen. Dann der Transport: anderthalb Stunden über holprige Waldwege bis ins Spital. «Hier kann ich endlich ruhen», sagt er erschöpft.
In zwei Monaten, so hofft er, bekommt er eine Prothese. Dann will er nicht mehr kämpfen. «Ich habe meinem Kommandanten schon die Kündigung geschrieben. Ich will heiraten und Bauer werden.» Jetzt sorgt er sich um seinen jüngeren Bruder. Der ist 17 und wurde nach zehn Tagen militärischer Ausbildung an die Front geschickt.
Ein einziger Chirurg
In einer Holzhütte, die als Notaufnahme dient, weint ein Mann über dem Leichnam eines Verwandten. Eine graue Decke bedeckt den Toten – ein Zivilist, etwa vierzig Jahre alt, gestorben an Granatsplittern. Myanmar verzeichnet jedes Jahr weltweit die meisten Opfer durch Sprengfallen, die Menschen töten oder verletzen, mehr als Syrien, Afghanistan oder die Ukraine.
Das Spital hat einen unterirdischen Operationsraum, betrieben von zwei Generatoren. Im März führten die Ärzte dort 117 Eingriffe durch – vier pro Tag, durchgeführt von einem einzigen Chirurgen ohne Fachausbildung. Es ist der Spitalleiter.
In der improvisierten Küche des Spitals isst er rasch eine Schüssel Reis. Seinen Namen nennt er nicht – aus Angst vor Vergeltung durch die Junta. Vor dem Krieg führte er eine Praxis in Yangon, heute behandelt er Schusswunden und Explosionstraumata. «Am schwierigsten ist die Neurochirurgie. Da zählt jede Bewegung.» Er bildet sich mit Youtube-Videos fort.
Der Spitalleiter stammt aus gutem Haus. Familie und Freunde raten ihm zur Flucht nach Europa. Aber er will bleiben. «Ich würde es mir nie verzeihen, zu gehen. Ich könnte nicht einfach so weiterleben», sagt er und blickt in die Baumkronen. «Ich wollte nur ein paar Monate bleiben. Jetzt sind es vier Jahre. Ich glaube nicht, dass ich Yangon je wiedersehe.»
Im Spital O1 ist vieles improvisiert, aber es ist erstaunlich gut ausgerüstet: Neben dem Operationsraum hat es auch eine mobile MRI-Röhre und ein Röntgengerät.
«Das Material kommt in Einzelteilen, versteckt in Fahrzeugen. Es muss illegal von Yangon hierhergebracht werden, vorbei an den Checkpoints der Junta», sagt Soe Yan Naing, während er raucht. Der Allgemeinarzt ist 31, er hatte gerade sein Studium abgeschlossen, als der Krieg begann. «Ich habe Molotowcocktails gebaut. Ein Kamerad wurde zum Tode verurteilt. Als mein Name im Staatsfernsehen genannt wurde, bin ich abgehauen», erzählt er.
Soe Yan Naing war von Anfang an Teil des Widerstands gegen die Junta. Myanmar stand bis 2011 unter Militärherrschaft, danach gab es zehn Jahre eine vorsichtige Öffnung unter Aung San Suu Kyi – die ersten freien Wahlen seit 1948. Für viele junge Menschen wie Soe Yan Naing war die Rückkehr zur Diktatur undenkbar.
Seit Beginn des Kriegs ringt der Arzt mit sich: Waffe oder Skalpell? Er entschied sich fürs Heilen. «Es fällt mir schwer, gefangene Soldaten der Junta zu behandeln. Sie sind keine Menschen», sagt er. Dann stockt er. «Aber ich muss es tun.»
Ein Badezimmer als Krematorium
Wer sich aus dem Dschungel hinauswagt, sieht, was vom Krieg übrig geblieben ist. Demoso ist beinahe menschenleer – ein Geisterdorf. Vor dem Krieg lebten hier über 5000 Menschen, in der umliegenden Region knapp 90 000. Jetzt sind die Hauswände durchlöchert, in den Gärten klaffen Granattrichter. Auch eine Kirche wurde getroffen, ihre bunten Glasfenster sind zerschlagen.
Die Region rund um Demoso ist mehrheitlich christlich geprägt, das ist im buddhistischen Land eine Ausnahme. Die Junta besetzt Kirchen wie jene in Demoso gezielt. Seit siebzig Jahren versucht die Zentralregierung in Myanmar, ethnische und religiöse Minderheiten mit Gewalt zu assimilieren.
Im Zentrum von Demoso steht ein Hotel, das nie eröffnet wurde. Wie die Kirche diente es der Armee als Stützpunkt – bis es Ende 2023 von Rebellen eingenommen wurde. Noch immer klebt Blut an den Wänden. Auf dem obersten Stock liegt ein Scharfschützentisch. In einem der Bäder sollen die Rebellen die Leichen der getöteten Soldaten verbrannt haben. «Dieses Badezimmer war ihr Krematorium. Die Rebellen stapelten die Leichen, zündeten sie an, sammelten danach Knochen und Zähne ein, um keine Spuren zu hinterlassen», sagt ein lokaler Journalist, der anonym bleiben will.
Gegenüber dem Hotel ist die 52-jährige Elisabeth in ihr zerfallenes Haus zurückgekehrt. Sie ist gläubige Baptistin. Lange lebte sie im Flüchtlingslager. Jetzt kümmert sie sich wieder um ihre Blumen – aber nur im Vorgarten. «Hinten gehe ich nicht mehr hin. Kämpfer haben mir gesagt, dort lägen Minen.» Ein benachbartes Ehepaar, beide über 80, wollte bloss seinen Hof aufräumen – und dabei verloren beide ein Bein.
Der Konflikt in Myanmar zählt zu jenen im 21. Jahrhundert mit den meisten Todesopfern. Laut der Organisation Armed Conflict Location and Event Data starben bereits über 50 000 Menschen. Selbst Beerdigungen sind gefährlich. Jede Versammlung kann die Aufmerksamkeit der Luftwaffe auf sich ziehen.
In einer Lichtung oberhalb von Demoso liegt ein versteckter Friedhof für gefallene Kämpfer. Der Pfarrer, der anonym bleiben möchte, hält dort eine Beerdigung nach der anderen ab. «Wir machen es schnell, mit so wenig Leuten wie möglich», sagt er und zeigt auf ein frisches Grab. Der Tote war 19.
Paul Boyer und Pierre Terraz sind ein freies Reporter-Team aus Frankreich.