Donnerstag, Oktober 3

Der britische Premierminister Keir Starmer hat sich mit der EU-Spitze über eine Vertiefung der Beziehungen unterhalten. Dass er zuerst nach Berlin und Paris gereist war, ist kein Zufall.

In der Geschichte der europäischen Integration war der Brexit einer der tiefsten Einschnitte – und die Folgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU sind auch mehr als acht Jahre nach dem Entscheid noch nicht vollständig verarbeitet. Nicht weniger als sechs Premierminister hat Grossbritannien seit dem ominösen Referendum von Juni 2016 erlebt, mehrere von ihnen bissen sich am bilateralen Verhältnis die Zähne aus.

Der neuste Regierungschef, Keir Starmer, hat sein Amt im Juli dieses Jahr mit dem Versprechen angetreten, für einen «Reset des Brexits» zu sorgen. Damit meint er nicht etwa eine Rückkehr zum Status quo ante – Grossbritannien will der EU nicht wieder beitreten und auch weiterhin dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion fernbleiben. Aber die Briten wie auch die EU haben im Handels- und Kooperationsabkommen (TCA), das die wirtschaftlichen Beziehungen seit 2021 regelt, eine ganze Reihe von Punkten erörtert, die in ihren Augen Nachbesserungen erfordern.

Starmer reiste am Mittwoch entsprechend nach Brüssel, wo er Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Rats-Präsident Charles Michel und EU-Parlaments-Präsidentin Roberta Metsola traf. Dass er schon kurz nach Amtsantritt Berlin und Paris besucht hatte, sich für den Gang in die EU-Zentrale aber fast drei Monate Zeit liess, ist mehr als nur kalendarischen Unpässlichkeiten geschuldet: Bei allem Bestreben, die Beziehungen zu stärken, würde es innenpolitisch nicht goutiert, gegenüber Brüssel zu grosse Nähe zu markieren. Brexit bleibt Brexit – auch unter dem Labour-Mann Starmer, der sich als Oppositionspolitiker leidenschaftlich gegen den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU eingesetzt hatte.

Ukraine-Krieg hat die Ausgangslage verändert

Worüber also haben Starmer und von der Leyen gesprochen? Von offizieller Seite waren nicht viel mehr als Plattitüden zu erfahren. Man wolle «weiterhin eng zusammenarbeiten, um umfassendere globale Herausforderungen» anzugehen, heisst es in einem gemeinsam veröffentlichten Communiqué. Dies betreffe etwa «wirtschaftlichen Gegenwind, geopolitischen Wettbewerb, irreguläre Migration oder Klimawandel und Energiepreise».

Hinter verschlossenen Türen ging es allerdings um durchaus handfestere Fragestellungen. So wünscht sich die EU eine enger abgestimmte Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bei den Verhandlungen zum TCA wurde jener Bereich auf Bestreben der Briten ausgeklammert, spätestens mit dem russischen Angriffskrieg hat sich die Gemengelage aber verändert.

Konkret könnten Sanktionen gegen Russland oder die militärischen, wirtschaftlichen und zivilen Hilfen an die Ukraine auf eine formellere Basis gestellt werden, als dies bis anhin der Fall ist. Der EU-Parlamentarier David McAllister erachtet die Chancen für eine Einigung als durchaus intakt: «Für die neue EU-Kommission sind Fragen der Verteidigung und besonders der Verteidigungsindustrie so wichtig wie noch nie – da würden beide Seiten von mehr Zusammenarbeit profitieren», sagt der CDU-Mann, der als Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten die Brexit-Verhandlungen eng begleitet hatte. Eine separate Vereinbarung sei denkbar, die EU habe aber immer klargemacht, dass eine Neuverhandlung des Handels- und Kooperationsabkommens ausgeschlossen sei.

Die Furcht vor der Personenfreizügigkeit

Umstrittener ist der Jugendaustausch. Grossbritannien hat mit dem Brexit nicht nur die Personenfreizügigkeit beendet, sondern auch den Zugang zum Erasmus-Programm aufgegeben. Bisher hat auch keine Regierung Anstalten gemacht, wieder in das Programm zurückkehren zu wollen – zu heiss wird das Thema Migration diskutiert.

Die EU würde ihrer Jugend aber gerne wieder einen Studien- oder Arbeitsaufenthalt auf der Insel ermöglichen, die Kommission schlägt dem EU-Rat entsprechende Verhandlungen vor. In Grossbritannien ist gar innerhalb von Starmers Kabinett die Skepsis weiterhin gross: Die Befürchtung lautet, dass das Austauschprogramm als teilweise Rückkehr zur nicht mehr erwünschten Personenfreizügigkeit interpretiert werden könnte.

Zudem ist angesichts der Grössenunterschiede wahrscheinlich, dass mehr Jugendliche und junge Erwachsene aus der EU nach Grossbritannien strömen würden als umgekehrt. Die nun angelaufenen Gespräche könnten möglicherweise in einen Kompromiss münden: Die maximale Aufenthaltsdauer könnte auf ein Jahr beschränkt und der Zugang zum Arbeitsmarkt limitiert werden.

Vorwurf der Rosinenpickerei

Längst nicht alle Bestrebungen für eine engere Zusammenarbeit gehen freilich von der EU aus. Für Grossbritannien hat sich der Brexit bisher wirtschaftlich nicht ausbezahlt, weshalb das Land nun auch mehr Anliegen hat. So möchte die neue Regierung zur Erleichterung des Handels etwa ein Veterinärabkommen aushandeln, die Anerkennung von beruflichen Abschlüssen verbessern, tourenden Musikern erleichterten Zugang zu den europäischen Konzertsälen ermöglichen oder einige Zollkontrollen abschaffen.

Brüssel verschliesst die Türen nicht, will sich aber nicht über den Tisch ziehen lassen. «Man darf nicht vergessen, dass im Rahmen des Brexits viel Vertrauen verlorengegangen ist. Es gibt innerhalb der EU nun gewichtige Stimmen, die den Briten Rosinenpickerei vorwerfen – sie wird nur einwilligen, wenn für sie etwas Handfestes herausschaut», sagt Fabian Zuleeg, Leiter des European Policy Centre.

Konkrete Entscheide sind am Mittwoch nicht gefallen – das war auch gar nicht das Ziel des ersten Treffens in Brüssel gewesen. Das letzte soll es freilich nicht gewesen sein. Die EU und Grossbritannien sind übereingekommen, dass man die Agenda nun «zügig voranbringen» wolle. Noch diesen Herbst sollen weitere Gespräche stattfinden. Um die «Entwicklung der Beziehungen zu überwachen», sollen ab kommendem Jahr dann gar regelmässige Gipfeltreffen zwischen dem britischen Premierminister und den EU-Spitzen eingeführt werden.

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