Die britische Labour-Regierung sucht nach dem Brexit die vorsichtige Annäherung an die EU – und Inspiration in der Schweiz.
«Es fällt uns auf, dass die Schweiz als Drittstaat über viele Jahre hinweg in der Lage war, durchaus zu ihrem Vorteil eine ansehnliche Zahl von Verträgen mit der EU abzuschliessen.» Die Aussage stammt nicht von einem Schweizer EU-Turbo, sondern vom Duke of Wellington. Der Spross einer alten englischen Adelsfamilie heisst mit bürgerlichem Namen Arthur Wellesley und ist Mitglied des Europaausschusses im House of Lords, der letzte Woche eine Anhörung zur Schweiz durchführte. «Die Schweiz ist durchaus erfolgreich beim Erreichen ihrer Verhandlungsziele», fuhr der Duke of Wellington fort. «Wie würden Sie das erklären?»
Die Frage ging an Markus Leitner, den Schweizer Botschafter in London, der im Oberhaus eine Stunde lang zu den bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel Red und Antwort stand. Hintergrund ist der Plan der Labour-Regierung, die Beziehungen zur EU nach dem Brexit auf eine neue Basis zu stellen.
Lord Jackson fragte, ob Brüssel gegenüber London ähnliche Flexibilität walten lassen werde wie im «Schweizer Modell» der neuen EU-Verträge. Baroness Ashton, die ehemalige EU-Aussenbeauftragte, bat den Schweizer Botschafter gar um Tipps und fragte nach den Lehren, welche Grossbritannien aus der helvetischen Verhandlungstaktik ziehen könnte. Leitner liess diplomatische Zurückhaltung walten. Er sprach nicht von einem «Schweizer Modell», sondern von einem «massgeschneiderten Ansatz», den Bern und Brüssel nun zukunftsfähig machen wollten.
«Schweiz weist Grossbritannien den Weg»
Dass das britische Interesse an der Schweiz und den neuen EU-Verträgen gerade jetzt zunimmt, ist kein Zufall. Am Montag findet in London ein Gipfeltreffen zwischen Premierminister Keir Starmer und der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen statt. Geplant sind der Abschluss eines Verteidigungspakts und womöglich der Startschuss für Verhandlungen zu sektoriellen Verträgen – etwa zum Jugendaustausch, zur Verknüpfung der Emissionshandelssysteme oder im Veterinärbereich.
«Die Schweiz weist Grossbritannien den Weg für den EU-Reset», so lautete jüngst der Titel eines Aufsatzes des Politologen Joël Reland von der Denkfabrik UK in a Changing Europe. Im Gespräch ergänzt Reland, dass die Labour-Regierung aufgrund ihrer roten Linien bei einem ähnlichen Ansatz wie jenem der Schweiz gelandet sei.
Starmer hatte schon im Wahlkampf im letzten Sommer klargemacht, dass er sein Land weder in den Binnenmarkt noch in die EU-Zollunion führen wolle. Ein starres Modell, wie es Norwegen mit dem EWR oder die Türkei als Mitglied der Zollunion verfolgen, war damit vom Tisch. «Die Labour-Regierung setzt nun auf eine flexible Annäherung in spezifischen Sektoren, was an den Schweizer Weg erinnert», sagt Reland.
«Die Schweiz ist heute ein Referenzpunkt für London», erklärt auch der Botschafter Leitner nach der Anhörung im House of Lords im Gespräch. «Wir sehen, dass die Briten unseren Ansatz studieren und nach Inspiration suchen.» Gleichzeitig weist der Botschafter auf grundlegende Unterschiede hin – etwa bei der dynamischen Rechtsübernahme: «Als Exportnation haben wir ein Interesse, die Standards unserer Kunden in einem der grössten Binnenmärkte der Welt zu erfüllen.»
Die Schweiz ist teilweise in den EU-Binnenmarkt mit dem freien Personenverkehr integriert. Als Mitglied des Schengenraums übernimmt sie in diesem Bereich bereits heute dynamisch EU-Recht. Die neuen EU-Verträge sollen die dynamische Rechtsübernahme ausdehnen und die Streitschlichtung regeln, wobei bei der Auslegung von EU-Recht der Europäische Gerichtshof (EuGH) massgebend wäre.
Grossbritannien hingegen verfügt bloss über ein Freihandelsabkommen mit Brüssel. Damit übernimmt das Land kein EU-Recht. Im Gegensatz zu Schweizer Unternehmen müssen britische Firmen beim Export in die EU aber nachweisen, dass ihre Produkte den EU-Sicherheits- und -Gesundheitsvorschriften entsprechen. Wegen dieser Brexit-Zollbürokratie haben viele KMU den Handel mit der EU eingestellt.
Wie viel Binnenmarkt ist möglich?
Sowohl Grossbritannien als auch die Schweiz wollen die wirtschaftlichen Kosten des politischen Abseitsstehens minimieren. In Brüssel sind dieselben Beamten für beide Dossiers zuständig. Aus Bern hiess es in den letzten Jahren immer wieder, die EU gebe sich kompromisslos, da sie befürchte, sonst auch London entgegenkommen zu müssen. Nun hat sich die Ausgangslage verändert: Die Schweiz hat ihre EU-Verträge ausgehandelt, während die Briten erst zu neuen Verhandlungen aufbrechen. «Die Schweiz wird eng verfolgen, worauf sich Grossbritannien und die EU einigen», sagt Leitner.
«Die entscheidende Frage ist, wo genau die Teilhabe am Binnenmarkt beginnt und zu welchen Bedingungen sie zu haben ist», erklärt der Politologe Reland. So strebt Grossbritannien den Abschluss eines Veterinärabkommens mit der EU an, um die Zollbürokratie beim Export von tierischen und pflanzlichen Produkten zu verringern. Die EU pocht darauf, dass Grossbritannien EU-Recht übernimmt und dass dieses im Streitfall letztlich vom EuGH ausgelegt wird – gleich wie gegenüber der Schweiz.
Eine gewisse Übernahme von EU-Regeln würde auch die Verknüpfung des britischen mit dem EU-Emissionshandelssystem erfordern. Dieser Schritt, der an ein ähnliches Abkommen zwischen Bern und Brüssel erinnert, soll verhindern, dass beim Export von britischem Dünger oder Strom in die EU künftig eine Grenzsteuer fällig wird.
Personenfreizügigkeit als Reizthema
Die EU hat sowohl gegenüber der Schweiz wie auch gegenüber Grossbritannien stets deutlich gemacht, dass sie den freien Personenverkehr als Bedingung für den Zugang zum Binnenmarkt erachtet. Doch in Grossbritannien ist die Personenfreizügigkeit inzwischen selbst für Labour ein Tabuthema, zumal sich Starmer neuerdings als migrationspolitischer Hardliner gibt.
Aus geopolitischen Gründen dürfte sich die EU zwar bereit erklären, britische Firmen an ihren Bemühungen zur Aufrüstung zu beteiligen. «Darüber hinaus wird die EU Grossbritannien wohl nur dort limitierten Marktzugang gewähren, wo dies das Nordirland-Problem entschärft», sagt Reland. Dass die britische Provinz im Zuge des Brexits faktisch im EU-Binnenmarkt verblieb, erschwert in Nordirland derzeit Importe von Grossbritannien und sorgt für politische Spannungen.
Ohne Personenfreizügigkeit bleibt aber das Ambitionsniveau des «Brexit Reset» also bescheiden. Und ganz ohne Freizügigkeit ist womöglich selbst der geplante limitierte Marktzugang nicht zu haben: So fordert die EU von London nicht nur langfristigen Zugang zu den britischen Fischgründen, sondern auch ein Mobilitätsprogramm. Dieses würde unter 30-jährigen EU-Bürgern ermöglichen, zeitlich befristet in Grossbritannien zu arbeiten oder zu studieren. Schon Wochen vor dem Gipfel warnten die Opposition und die Boulevardpresse Starmer davor, die EU-Personenfreizügigkeit durch die Hintertür wieder einzuführen.