Montag, September 30

Es braucht in den Vororten wieder Mut zu echtem Städtebau.

Wer die Bankrotterklärung des modernen Städtebaus besichtigen möchte, muss nicht weit fahren. Es reicht ein Ausflug dorthin, wo Stadt und Land zerfasern, wo die Agglo beginnt.

Etwa ins Zürcher Aussenquartier Affoltern, ein Beispiel unter vielen. Dort, gleich vor der Stadtgrenze, zwischen Bahnlinie und Autobahnumfahrung, ist in den vergangenen Jahren ein Stadtquartier entstanden, wie es im Grossraum Zürich – und in Agglomerationen in der ganzen Schweiz – immer mehr zum Standard wird.

Betonkolosse mit senffarben glänzenden Fassaden. Ein gigantisches Wohnviereck, das mit seinen verschachtelten Balkonen aussieht wie ein Ikea-Regal. Drei Wohnriegel, angeordnet wie eine Lärmbarriere, an deren Aussenwänden seltsame Muster die grossen Bäume imitieren, die es hier nicht gibt.

Die Überbauungen haben alles: gestaltete Fassaden und grosszügige Grundrisse, Balkone und Spielplätze, Glas, gute Lärmdämmung und viel, viel Beton. Nur etwas fehlt ihnen: Charme – und eine Beziehung zueinander.

Wie Inseln stehen die Siedlungen da, in sich geschlossen, ohne Verbindung zur nächsten. Das, was ein lebenswertes Quartier ausmacht – dass die Architektur sich der Umgebung anpasst, statt sie zu ignorieren, dass sie trotz unterschiedlichsten Einzelteilen ein organisches Ganzes ist –, sucht man hier vergebens.

Diese Bauten – sie könnten irgendwo in der Vorstadt stehen. Und je weiter man nach draussen in die Agglo fährt, desto mehr wird klar: Das tun sie auch, und sie werden immer mehr.

Die Wohn-Ufos kommen

Die Schweiz wächst nirgends so stark wie in ihren Agglomerationen. Städte wie Zürich werden voll und voller, die Bevölkerung drängt nach draussen. Die Stadt frisst das Land auf, den Ausfallstrassen und S-Bahn-Linien entlang. Aus Industriearealen werden gigantische Siedlungen, aus Bauernhöfen Mehrfamilienhäuser. Die Bodenpreise und Mieten explodieren.

Das sichtbarste Symbol dieser Entwicklung sind die neuen Überbauungen, die die Agglo fluten. «Wohn-Ufos aus Beton und Glas» nennt sie der Stadtplaner Angelus Eisinger. Der Immobilienunternehmer Balz Halter benutzt dasselbe Bild: «Heute kommen wir Investoren wie ein Ufo und sagen, auf dieser Insel brauche es ein Stück Stadt.»

Die ausserirdische Plage ist ein Symptom irdischer Probleme. Eigentlich müsste die Schweiz nämlich geplant verdichten statt planlos zersiedeln: So schreibt es das nationale Raumplanungsgesetz vor, das – nach einem deutlichen Volks-Ja – vor genau zehn Jahren in Kraft trat. Das Gesetz weist den Gemeinden eine entscheidende neue Rolle zu: Statt bloss Prüf- und Bewilligungsinstanz zu sein, müssen sie zu Gestaltern der Siedlungsentwicklung werden.

Das Ziel: bauen, wo schon etwas steht statt auf der grünen Wiese. Und zwar nicht einfach irgendwie, sondern nach einem übergeordneten Plan. Damit beispielsweise aus wachsenden Agglo-Gemeinden keine gesichtslosen Ansammlungen von Beton-Klötzen werden, sondern lebendige Städte.

Blickt man ins Zürcher Umland, so ist jedoch vielerorts das Gegenteil passiert. Fraglos gibt es auch positive Beispiele, etwa in Uster, Bülach oder Schlieren. Vielerorts, besonders in kleineren Gemeinden, scheint man aber zu glauben, mit mehr Häusern entstehe automatisch Verdichtung und mit Verdichtung automatisch eine Stadt.

Gebaut wird nicht, wo es ins Konzept passt, sondern wo sich ein Immobilienentwickler findet, der ein Areal entwickeln will. Ob das Resultat dann in die Umgebung passt, ist Zufall.

Verdichtung wird verzögert

Die Folgen dieser Planlosigkeit sind gravierend: Vielen Bauprojekten – grossen und kleinen – fehlt der Rückhalt in der lokalen Bevölkerung. Es hagelt Einsprachen; die Bewilligungsdauer steigt und steigt.

Von Nimby-ismus ist dann die Rede, also «not in my backyard», englisch für eine «Nicht in meinem Hinterhof»-Mentalität. Doch ist diese nicht die eigentliche Ursache des Problems, sondern mindestens zum Teil ebenfalls eine Folge von fehlendem Gestaltungswillen.

Wenn Städtebau nach dem Zufallsprinzip erfolgt, wenn Immobilienentwickler scheinbar aus dem Nichts die Dörfer stürmen und dort ihre Monster-Siedlungen hinterlassen – kein Wunder, regt sich Widerstand.

Das Tragische dabei ist, dass die lokale Stimmbevölkerung und die Gemeindepolitikerinnen es selbst in der Hand hätten, diese Entwicklung zu steuern. Mit Richtplänen, in der Bau- und Zonenordnung – und indem sie eine inhaltliche Vision für ihre Verwandlung zur Stadt entwickeln, statt sich gegen sie zu stemmen.

Das Problem ist: Viel zu oft tun sie das nicht. Zehn Jahre nach Inkrafttreten des neuen Raumplanungsgesetzes hat noch nicht einmal die Hälfte der Schweizer Gemeinden ihre Planung den neuen Realitäten angepasst. Das ergab unlängst eine Umfrage des Bundesamts für Raumentwicklung. Diese Untätigkeit hat gemäss der Umfrage einen simplen Grund: «Überforderung».

Wozu diese Unfähigkeit – oder dieser Unwille – führt, lässt sich im Immobilien-Monitoring der Beratungsfirma Wüest Partner nachlesen: Trotz rasant steigender Nachfrage nach Wohnraum wird in der Schweiz zu wenig gebaut. Und wenn, dann tendenziell noch immer auf der grünen Wiese.

Die Verdichtung auf bereits bebauten Flächen stockt – obwohl genau sie am dringendsten nötig wäre.

35 000 Mietwohnungen werden bis Ende Jahr schweizweit fehlen. Am meisten, so der Bericht, werde sich die Wohnungsknappheit im Kanton Zürich verstärken. Dort sind die Mieten ausgeschriebener Wohnungen zuletzt innert eines Jahres um 8,4 Prozent gestiegen.

In einem solchen Kontext werden Neubauprojekte – auch wenn sie mehr Wohnraum schaffen – immer kritischer betrachtet. Das betrifft insbesondere solche, die nicht auf der grünen Wiese stehen. Und zwar weil ihnen oft alte Gebäude mit günstigen Wohnungen zum Opfer fallen. Und weil bei einem Umzug so gut wie immer eine markant höhere Miete droht. Nicht nur deshalb spricht Unternehmer Halter von einer «Wachstumsmüdigkeit in der Bevölkerung».

Menschen, nicht Beton, machen eine Stadt

Fehlender Gestaltungswille und Bauen im Ufo-Stil befeuert also einen Teufelskreis: Wildwuchs – Widerstand – Wohnungsknappheit. Und als Resultat davon noch mehr Wildwuchs und Widerstand.

So kann es nicht weitergehen. Die Lösung des Problems muss dort beginnen, wo auch das Problem seinen Anfang nimmt: bei den verengten städtebaulichen Visionen, die seit Jahren echte Innovation und Stadtentwicklung behindern.

Eine Stadt besteht nämlich nicht aus Beton, Glas und möglichst vielen Stockwerken. Sie besteht aus Menschen, ihrer Geschichte, ihren Beziehungen – und den Orten, an denen beides gelebt wird. «Menschengerechte Verdichtung», so hat es der Architekt Jürg Sulzer einmal gesagt, «sollte auf Geborgenheit achten.»

Diesem Gedanken muss die Stadtplanung vermehrt folgen. Agglo-Gemeinden mit starkem Wachstum müssen das Raumplanungsgesetz endlich richtig umsetzen. Sie müssen demokratisch beschliessen, wo genau wie stark verdichtet werden soll. Sie müssen Bauherren klarere Vorgaben zu Bauweise und Wohnungsarten machen – um sicherzustellen, dass Neubauten sich in die werdende Stadt einfügen. Und die bisherige Bevölkerung nicht übergangen wird.

Wo die Gemeinden das nicht schaffen, muss als letzte Möglichkeit der Kanton eingreifen und definieren, auf welchem Weg sich die Metropole Zürich aufs Land fressen soll. Dabei darf es auch für unorthodoxe Lösungen keine Denkverbote geben.

So könnten etwa Rekursmöglichkeiten limitiert und Bewilligungsverfahren dergestalt gestrafft werden, dass nicht mehr Partikulär-, sondern allgemeine Interessen die Baupolitik bestimmen – und Immobilienfirmen wieder mehr Raum für Innovation erhalten.

Gerne geht vergessen, dass es im Kanton Zürich Unternehmer wie Ernst Göhner waren, die mit neuartigen Bauweisen und architektonischen Experimenten den Beginn der Agglo-Expansion in den 1960ern und 1970ern prägten. Und dass sie dabei die Schaffung von Wohnraum mit der Rücksicht auf soziale Aspekte der Raumentwicklung verbanden.

Die Ausgangslage ist heute eine andere. Göhners megalomanischer Baustil, gedacht für das Bauen auf der grünen Wiese, wäre nicht mehr zeitgemäss. Aber das Rezept dahinter – architektonisch etwas zu wagen, das Ökonomische mit dem Sozialen zu verbinden – bleibt vorbildlich.

Immobilienfirmen in der Pflicht

Neben den Gemeinden sind somit auch die Immobilienfirmen gefordert: Sie profitieren vom Wachstum der Städte und von den staatlichen Investitionen in Verkehr und Infrastruktur, die dieses Wachstum erst ermöglichen. Die Wohnungen werden ihnen, einmal gebaut, aus der Hand gerissen.

Ein zu grosses Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage kann allerdings auch träge machen. Es wird Zeit, dass die Entwickler den Agglos mehr bieten als die immer gleichen Wohn-Ufos, die in Opfikon, Dietikon und Regensdorf überall ähnlich aussehen.

Letzten Endes sind es aber genau jene, die sich angesichts explodierender Preise und wachsender Städte am machtlosesten fühlen, die die Entwicklung der Agglo am stärksten prägen können: ihre Bewohnerinnen und Bewohner.

Sie haben über die Lokalpolitik einen grossen und oft ungenutzten Gestaltungsspielraum auf die Raumplanung. Doch statt ihn zu nutzen, verhindern viele von ihnen lieber in Nimby-Manier Projekt um Projekt mit Einsprachen. Oder führen einen aussichtslosen Kampf gegen Verdichtung und böse Immobilienhaie.

Sie müssen aus ihrer selbstgewählten Ohnmacht erwachen und erkennen: Die Agglo kann sich selbst retten – sie muss es nur wollen.

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