Freitag, November 1

Gleich zwei grosse Häuser warten mit neuen «Rheingold»-Inszenierungen auf: das Teatro alla Scala und die Bayerische Staatsoper.

«Zurück vom Ring», ruft Hagen, das Halbblut, den Rheintöchtern zu. Es sind die letzten Worte, die in Richard Wagners Tetralogie gesungen werden, während im Hintergrund die Götterburg aufbrennt, der Fluss über die Ufer tritt. Das Ende ist da. Es bleiben nur noch rund fünfzig Takte Orchestermusik übrig. Die allerdings steuern auf ein hell leuchtendes Erlösungsmotiv zu, welches überhaupt nur zweimal in diesem vierteiligen Riesenwerk auftaucht und diesmal alles, was die Figur Hagen verkörpert, ein für alle Mal zurücknimmt.

Warum sich der Regisseur David McVicar ausgerechnet den Ruf des Bösewichtes als Motto erwählte für seine neue Lesart des «Ring des Nibelungen» am Mailänder Teatro alla Scala, bleibt sein Geheimnis. Auf dem Theatervorhang wie auch auf den Zwischenvorhängen, die die fliessenden Verwandlungen im «Rheingold» aktweise in Stücke hacken, liess er dazu passend eine Handfläche abbilden, mit weit gespreizten Fingern, in Abwehrhaltung.

An wen richtet sich diese Geste? Wer bitte soll künftig die Finger lassen vom «Ring»? McVicar selbst ist es sicher nicht, auch Tobias Kratzer nicht, der jetzt zur selben Zeit an der Bayerischen Staatsoper München seine erste «Ring»-Inszenierung in Angriff nimmt. Und es gibt noch ein Dutzend weitere Regiekollegen, die zurzeit mit neuen «Ring»-Produktionen beschäftigt sind. In diesem Gewerbe geht es gerade so hektisch zu wie in einem Schlussverkauf.

Wagner hält viel aus

Früher waren «Ring»-Pausen von mehr als zwanzig Jahren an den Theatern normal. Heute hat sich die Frist auf weniger als die Hälfte verkürzt. An der Scala ist die mythenraunende «Ring»-Inszenierung von Guy Cassiers zuletzt 2013 gezeigt worden. An der Bayerischen Staatsoper wurde das «Rheingold» in der gefällig umtanzten «Ring»-Inszenierung von Andreas Kriegenburg erst vor drei Jahren letztmals gezeigt. London setzt seinen bunten Barrie-Kosky-«Ring» demnächst im Mai fort mit der «Walküre». Die Bastille-Oper in Paris startet ihren neuen Calixto-Bieito-«Ring» mit dem «Rheingold» im Januar. In Zürich ist der Homoki-«Ring» seit einem Jahr komplett, in Basel ist Benedikt von Peter gerade damit fertig geworden, in Bern werkelt Ewelina Marciniak noch am letzten Teil.

Sogar kleine Stadttheater, wie Saarbrücken oder Halberstadt, folgen inzwischen dem Trend. Wagner hält wahrlich viel aus. Es gab kühle Labor-«Ringe», lauwarme Märchen-«Ringe» und hitzige Anti-«Ringe», Psychologisierendes, Historisierendes, Kapitalismuskritisches, Klimapolitisches, Netflixiges. Kritiker wünschten sich ein «Ring»-Moratorium. Wagnerianer befürchteten, diese multipel ausgeschlachtete Weltuntergangsstory sei mittlerweile auserzählt. Aber so etwas hat es noch nie gegeben: dass gleich zwei grosse Häuser Neuproduktionen starten, im 24-Stunden-Abstand, Kopf an Kopf.

In Mailand hätte eigentlich ein Christian-Thielemann-«Ring» daraus werden sollen – letzter glorreicher Wurf des so unglamourös hinauskomplimentierten Intendanten Dominique Meyer. Doch Thielemann sagte ab. Simone Young sprang kurzfristig ein. Zuletzt hat sie im Sommer den Bayreuther «Ring» dirigiert. In Mailand ist sie, immerhin, nach Speranza Scappucci die zweite Frau überhaupt, die eine Premiere verantworten kann. Als souveräne Kapellmeisterin alten Schlags hat Young ihren Wagner zuverlässig und ohne Klimbim im kleinen Finger – gestenklar die Phrasierungen, fliessend in grossen, dynamisch federnden Bögen, bei durchaus detailverliebter Stimmgruppenarbeit. Die Hörnerklänge verschmelzen im Es-Dur-Vorspiel, während der Erregungspegel mählich ansteigt.

Von Young getragen und befeuert, stehen die Göttinnen und Götter der alten Welt, die sich wegen der vielen schweren, kostbaren Stoffe, in die sie gehüllt sind, sowieso kaum bewegen können, an der Rampe herum und verströmen sich: Michael Volle als kraftvoller Wotan, Christa Mayer als samtig-sonore Erda, Okka von der Damerau als divenglänzende Fricka, Olga Bezsmertna als silberfeine Freia, Andrè Schuen als eleganter Donner, Siyabonga Maqungo als leuchtender Froh. Man müsste sie alle nennen, jeden einzeln rühmen. Auch die Zwerge, die Riesen und die Rheinmädchen. Als konzertante Darbietung ist dieses «Rheingold» ein einmalig luxuriöses Fest.

Szenisch dagegen: ein Reinfall. Seinem Motto gemäss hat McVicar sich eine überdimensionale Handskulptur bauen lassen, darauf klettern die Rheintöchter anfangs munter herum. Das Rheingold wird verkörpert von einem hübschen, schlanken, nackten Tänzer, dem alsbald von einem hässlichen, in einen Fatsuit gesteckten Alberich die goldene Maske abgeknöpft wird. Zwei Tänzer ergänzen später auch Loge, der wie eine Hindu-Gottheit mehrere Arme hat, mit denen er flammenartig sinnlos herumwedelt. Es bleibt mit die einzige Bewegung auf der Bühne. Alles Übrige ist gespreizter Popanz. Statt auf lichten Bergeshöhen steht da, zum Beispiel, im Halbdunkel eine pompöse Walhall-Treppe herum, zu steil, um sie erklimmen zu können. Sie führt nirgendwohin. Drunten in Nibelheim dagegen prangt der aufklappbare Riesentotenschädel, der auch schon in anderen McVicar-Inszenierungen dekorative Dienste tat.

Grusel in München, gepflegte Langeweile in Mailand

Das neue Münchner «Rheingold» dagegen verhält sich zu Mailands gepflegter Langweile wie das Feuer zum Wasser. Es lodert und sprüht. Aber auch reichlich «Gotham City»-Grusel ist hier inklusive. Inszenierungen von Tobias Kratzer sind nie nur dekorativ. Jede seiner Bildideen ist aktuell, aus der Musik entwickelt und führt sicher irgendwohin. Auch er stellte diesmal einen splitternackten Mann in den Mittelpunkt der Story. Der ist weder hübsch noch jung, trägt nicht einmal den bühnenüblichen hautfarbenen Stringtanga. Es ist Alberich, der Nibelung.

Überlistet in seiner Tarnhelmgestalt als Kröte, wird das Tierchen von Wotan daheim aus der Transport-Tupperware geschüttet. Er knallt es brutal auf den Fussboden des trauten Götterheims, wo es sich flugs in den Zwerg zurückverwandelt. Krötenartig kriecht der Nibelung zuerst noch auf allen vieren herum, mit Hängebauch trotz Heldenbrust, existenziell erniedrigt, in Demutshaltung. Eine Folterszene folgt, die in ihrer Gewalttätigkeit das Blut gefrieren lässt. Markus Brück realisiert diese Alberich-Partie mit radikaler Klangrede, er hat eine enorme Bühnenpräsenz, selbst noch in dieser für einen Sänger unzumutbaren Lage. Noch nie wurde der Fluch des Nibelungen so schneidend klar und verzweifelt herausgeschrien. Noch nie war dieser Fluch so nachvollziehbar irreversibel und entsetzlich.

Brück verlässt die Szene im aufrechten Gang. Er pinkelt höhnisch an die neogotische Kirchenbank, an die er gekettet war. Und dann noch einmal, an eine der Säulen, die das noch im Bau befindliche Walhall schmücken. Es ist dies mehr als nur Götterlästerung. Es ist eine Kriegserklärung. Hagen, der Sohn Alberichs, wird diesen Krieg in der Münchner «Götterdämmerung» eines Tages zu Ende führen. Wie und auf welche Weise das geschehen wird, darauf darf man jetzt schon gespannt sein.

Kratzers unterhaltsame und wahrhaftige «Ring»-Lesart ist nicht minder luxuriös in der Sängerbesetzung als die von McVicar in Mailand. Aber ungleich beweglicher. Anders als Young in Mailand präsentiert Vladimir Jurowski die Partitur mit Ehrgeiz, aufregend schnell, kühl und analytisch, was an die französische Lesart von Pierre Boulez erinnert. Leitmotive werden aufgeklappt, schöne Stellen jedoch nicht denunziert.

Wirklich neu indes ist die Idee des Regisseurs, an diesen schon so oft platt gewalzten und ausgeweideten Stoff endlich die Gretchenfrage zu stellen. Kratzer zeigt eine im Sinne Nietzsches von allen Göttern entvölkerte Welt. Die Einzigen, die das zu Anfang noch nicht wissen, sind die Götter selbst. Wie sollten sie auch? Im Schlussbild des Münchner «Rheingold» wird jenes legendäre Schlussbild aus dem Chéreau-«Ring» von 1976 zitiert: Statisten strömen auf die Bühne, Männer, Frauen, Kinder von heute. Sie stehen und staunen und beugen das Knie, vor diesem triumphalen Irrtum: dem gleissend falschen Altar der Wotanssippe, im Dom zu Walhall.

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