Dienstag, Oktober 8

Bundesrichter Thomas Stadelmann bezeichnet die Verurteilung der Schweiz als «richterlichen Aktivismus». Nicht nur er sieht das so.

Es gehört zum täglichen Brot von Bundesrichtern, sich mit rechtlichen Einschätzungen anderer Gerichte auseinanderzusetzen. Dies geschieht aber üblicherweise, wenn Urteile an die höchste nationale Instanz weitergezogen werden.

Der Luzerner Bundesrichter Thomas Stadelmann (Mitte) hat nun einen anderen Weg beschritten: In einem Interview mit CH Media hat er zu einem umstrittenen Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) Stellung genommen – und dieses scharf kritisiert.

Die sogenannten Klimaseniorinnen, im Grunde eine Frontorganisation der Umweltorganisation Greenpeace, hatten die Schweiz verklagt, weil das Land angeblich zu wenig unternehme, um ältere Frauen vor den Folgen des Klimawandels zu schützen. Die Strassburger Richter hiessen die Klage im April gut. De facto erhoben sie also den Klimaschutz zum Menschenrecht.

Dies kritisiert Bundesrichter Stadelmann mit deutlichen Worten. Das Urteil sei absurd, sagte er. Es handle sich um richterlichen Aktivismus.

Die Richter hätten sich auf das Pariser Klimaabkommen gestützt, sagt Stadelmann. Dieses sei aber rechtlich nicht verbindlich. Es handle sich um eine politische Übereinkunft, und es sei nie vereinbart worden, dass Einzelpersonen einen Staat verklagen könnten, wenn dieser seine Klimaziele verfehle.

Bundesrichter Stadelmann wirft den Kollegen in Strassburg vor, die Menschenrechtskonvention eigenmächtig weiterzuentwickeln. Sie würden ausserhalb ihrer eigenen Kompetenzen Recht schaffen. Es sei aber Aufgabe der Legislative, Gesetze zu erlassen. «Richter und Richterinnen müssen Gesetze interpretieren, aber nicht selber Gesetze schaffen», sagte Stadelmann.

Er habe das Vertrauen in den Gerichtshof komplett verloren. Auch in anderen Urteilen seien die Begründungen oft hanebüchen. Er könne die Urteile nicht mehr ernst nehmen, sagte Stadelmann im Gespräch mit CH Media.

Parlament hat Urteil nicht akzeptiert

Dass ein amtierender Bundesrichter derart offensiv und öffentlich Kollegenschelte übt, ist ungewöhnlich. Allein steht Stadelmann mit seiner Kritik aber bei weitem nicht da.

Der frühere Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer hatte bereits im April in einem Gastkommentar in der NZZ festgehalten, dass das Urteil auf tönernen Füssen stehe. Letztlich habe der EGMR über die schweizerische Klimapolitik als solche geurteilt, und dies sei eine unzulässige Einmischung. Am Klimaschutz an sich werde kein Jota verbessert. Umsetzbar sei das Urteil nicht.

Auch das Schweizer Parlament hat das Urteil zurückgewiesen. Der National- und der Ständerat kamen im Juni zu dem Schluss, dass der Strassburger Richterspruch die Gewaltenteilung verletze.

Der Gerichtshof habe ein neues Menschenrecht, nämlich das auf Klimaschutz, geschaffen, das von der Menschenrechtskonvention nicht gedeckt sei. Die Schweiz habe die beanstandeten Massnahmen gegen den Klimawandel bereits erfüllt oder eingeleitet.

Der für Umweltfragen zuständige Bundesrat Albert Rösti (SVP) hat das Urteil ebenfalls hinterfragt. In einem Interview mit Radio SRF sagte er im April, man müsse den Richterspruch sehr kritisch beurteilen. Der Gesamtbundesrat hat angekündigt, noch im August offiziell zum Urteil Stellung zu nehmen.

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