Sonntag, November 24

In der urwüchsigen Landschaft von Mecklenburg-Vorpommern haben Argentinier mit ihren Criollo-Pferden und Rindern eine europäische Heimat gefunden und vermitteln ihre Traditionen.

Gross Ridsenow, eine halbe Autostunde von Rostock entfernt: Das 150-Seelen-Dorf im dünnbesiedelten deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern besteht aus ein paar Bauernhöfen, Siedlungshäusern und einem baufälligen Gutshaus. Was das verschlafene Örtchen so besonders macht? Ganz am Ende der asphaltierten Dorfstrasse liegt die «Cavalan-Ranch». Hier im «wilden Osten» hat Amancio Mendiondo eine neue Heimat gefunden.

Der Argentinier mit dunklem Bart und Wuschelhaaren stammt aus der Nähe von Buenos Aires. In Norddeutschland auf dem platten Land hat er ein Landgut mit Ställen, Scheunen und ein paar Hektaren Weideland gekauft: La Pampa mit fruchtbaren Böden zwischen der Ostsee und dem eiszeitlich geformten, hügeligen Recknitztal. «Für mich ist es ein bisschen wie zu Hause», sagt der Mittvierziger. «Hier hat man ein bisschen ein Gefühl von Patagonien.»

Amancio Mendiondo verbrachte seine Kindheit in Argentinien, und er erzählt von den weiten Grassteppen und der Rinderzucht, die ohne die berittenen Landarbeiter, die Gauchos, undenkbar war. Bis heute seien sie Teil der argentinischen Identität und seiner Familienbiografie. «Die Gaucho-Kultur mit dem einfachen Leben auf dem Land hat mich geprägt», erklärt er, besonders aber «die Verbindung zu den Pferden und zur Musik».

2012 ist er von Argentinien nach Deutschland gekommen. Der Liebe wegen, wie er sagt. Zunächst ging es nach Hamburg. Jahrelang suchte er vergeblich einen Ort, der ihn an die argentinische Pampa erinnert. Hier in Gross Ridsenow hat er sie.

Recknitztal in Mecklenburg

Der Porteño empfängt uns mit einer roten Baskenmütze. Das Erbe baskischer Einwanderer gehört ebenso zur Gaucho-Kultur wie seine weite Reithose, die Bombachas. Amancio Mendiondo ist kein Gaucho, kein berittener Viehhüter, aber er hat von den Wanderhirten das Reiten gelernt, die Arbeit mit Rindern und das Musizieren mit Freunden und Fremden – meist an einem Lagerfeuer mit viel gutem Essen und immer an der frischen Luft.

Genau das lebt er jetzt hier in der mecklenburgischen Pampa, trotz allen Unterschieden zu seinem Herkunftsland. Die Sprache sei anders, und die Strassen seien hier asphaltiert. «Wenn man auf dem Land in Argentinien ist, hat man automatisch viele Kilometer Sandweg.»

Doch in einem gleichen sich die argentinische und die mecklenburgische Wildnis: in der Weite und den Entfernungen zur nächsten Stadt. Eine scheinbar grenzenlose Natur, die vielen Wildtieren einen Lebensraum gibt, der oftmals starke, raue Wind und manchmal ein Himmel, der in eine sternenklare Nacht hineinblicken lässt.

Ausritte mit Picknick

Das Leben mit und in der Natur geniessen, unter freiem Himmel schlafen, das ist für Amancio Mendiondo Gaucho-Tradition und Lebensqualität. Dazu gehören Ausritte auf argentinischen Pferden, mit bequemen Sätteln, mit Schaffell gepolstert, und Pausen mit Picknick und Siesta. Eine Ferienwohnung für Touristen hat er renoviert, und zwei Glamping-Zelte stehen hinter dem Haus auf einem Feld bereit. Und nebenbei zeigt er den Besuchern, wie man in Argentinien Pferde hält, sattelt – und wie man es schafft, den ganzen Tag zu reiten.

«In Patagonien zu reiten, ist anders, als ich es als Kind auf der elterlichen Farm gelernt habe. Denn im südlichen Argentinien ist man den ganzen Tag unterwegs, um zum Beispiel die Rinder zu checken. Die Weideflächen sind dort so wahnsinnig weit», sagt Amancio Mendiondo. Er hatte dort immer das Gefühl, Anfänger zu sein. Mit den Gauchos unterwegs zu sein, fühlte sich für ihn an, als hätte er fast keine Reiterfahrungen gehabt. Demut vor der Natur, auch das habe er von den Gauchos gelernt, sagt er.

Von Freunden hatte Amancio Mendiondo von einem Gutshof in Mecklenburg gehört, auf dem argentinische Rinder und Pferde gezüchtet werden. Und nur wenige Kilometer davon entfernt, fand er seine Mini-Estancia in Gross Ridsenow, die selbst mit Navi und Google Maps schwer zu finden ist. Bis Rostock sind es 30 Kilometer, nach Hamburg und Berlin 200. Hier wollte er leben – so wie in Argentinien.

«Weil ich das Leben auf dem Land so gerne mag. Diesen Kontakt mit der Kultur des ländlichen Lebens», sagt Amancio Mendiondo. Auf dem Land sei es in Argentinien normal, mehrere Tage unterwegs zu sein – auf dem Pferd. Abends habe er andere Gauchos getroffen, mit ihnen zusammen Gitarre gespielt, gesungen und getanzt, dazu ein Lagerfeuer. Das gehöre zum Leben der Gauchos. Das alles vermisse er sehr.

Kompakte, unkomplizierte Pferde

Auf einer Weide, ein paar hundert Meter von der Ranch entfernt, grasen friedlich sechs Pferde. Criollos. Diese südamerikanische Rasse ist besonders robust und ausdauernd. Sie wurde für die Arbeit auf den argentinischen Estancias gezüchtet und geht auf die iberischen Pferderassen der Kolonialzeit zurück. Auch das Blut der nordamerikanischen Wildpferde soll in ihren Adern fliessen, deshalb heisst Criollo übersetzt: Kreole. Sie werden auch im Polo-Sport eingesetzt. Amancio Mendiondo: «In Argentinien reiten wir Criollos einhändig. Die Pferde leben das ganze Jahr draussen und sind daran gewöhnt. Deswegen habe ich die Rasse nach Deutschland geholt. Und die sind auch prima für Ausritte, es sind sehr ruhige und wendige Pferde, die sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene geeignet sind.»

Trittsicher, nervenstark, unkompliziert – Pferde, auf die man getrost einen Anfänger setzen oder mit denen man unsichere Reiter auf eine Tagestour mitnehmen kann. Zudem sind sie relativ klein wie ein Pony, doch das hört Amancio Mendiondo nicht so gern. «In Argentinien bezeichnen wir einen Criollo nie als Pony. Aber sie sind klein, die sind maximal 1 Meter 50, vielleicht ein bisschen höher. Die sind kompakter, kräftiger als Ponys – und vor allem sehr pflegeleicht. Criollos kommen auch mit wenig Gras zurecht.»

Geputzt, gesattelt und getrenst wird auf der Weide. Das Sattelzeug besteht aus einem massiven Ledersattel mit Knauf, einer dicken Satteldecke und einem geflochtenen Sattelgurt. Nachts legen sich echte Gauchos sogar darauf schlafen.

In Europa sei man an die englischen Sättel gewöhnt. «Die sind nicht für lange Ausritte gedacht. Aber die Sättel in Argentinien sind sowohl für das Pferd als auch für den Reiter sehr bequem.» Und das bedeute, so Amancio Mendiondo, dass man stundenlang auf dem Sattel sitzen könne. «Das ist schonend für den Rücken des Pferdes.» Anstatt mit einer gewöhnlichen Trense reiten Gauchos mit Kandare – einem schärferen Gebiss, mit dem man das Pferd leichter steuern kann. Die beiden Zügel liegen in einer Hand.

Lockere Gangart zwischen Schritt und Trab

Und dann geht es los. Eines unserer Pferde heisst Plantscha, hat schöne braune Augen und gerade eine Handvoll Hafer aus einem Eimer bekommen, damit es beim Aufsatteln ruhig steht. Amancio Mendiondo reitet mit seinem Pferd vorweg. Im Schritt geht es gemütlich einen Hang hinauf. Dann traben wir an und sitzen erstaunlich bequem. Der Grund sei eine Gangart, die zwischen Schritt und Trab liege, genannt Trotesito oder Jog, erklärt uns Mendiondo: «Das Schöne ist, man kann wirklich sehr lange in der Gangart reiten, denn das ist sowohl für das Pferd als auch für den Reiter ganz bequem.»

Und so überqueren wir ein grosses Feld. Der Boden ist weich, aber uneben, den Pferden macht das nichts aus, sie stolpern nie, geschickt wie Bergziegen gleichen sie jede Unebenheit aus. Wir sitzen ruhig, aber es fehlt uns ein konstanter Zügelkontakt, so wie bei der englischen und deutschen Reitweise.

«Wir reiten wirklich sehr, sehr locker», sagt der Argentinier. Es sei gut, wenn man locker sitze und dem Pferd zeigen könne, was man machen möchte. Sonst könne man Rinder nicht treiben. Man müsse das Pferd beherrschen. Wichtig sei bei den Ausritten, sich zu entspannen und das Reiten zu geniessen, gerade wenn man mit so lockeren, ruhigen Pferden reite.

Nach einem schnellen Galopp, der aber nie hektisch, sondern mehr schaukelnd, rhythmisch bleibt, erreichen wir einen kleinen Wald. Überall liegen Hölzer quer. Die Pferde steigen wie selbstverständlich darüber hinweg. Amancio erwähnt noch einen grossen Unterschied: In Deutschland sei man daran gewöhnt, dass eine Reitergruppe in einer Reihe hintereinander reite. «Das ist für uns total untypisch. Man würde nie auf die Idee kommen, sondern wird immer nebeneinander reiten. Und das ist witzig. Ich sage das immer wieder zu meinen Gästen: Ihr könnt hier gerne nebeneinander reiten. Aber zwei Minuten später reiten alle hintereinander in einer Reihe.»

Was für ihn das Reiten in der Natur bedeutet? «Ich bin damit aufgewachsen. Ich war auf dem Pferd, bevor ich laufen konnte. Das verbinde ich mit dem Leben auf dem Land, mit dem freien Leben draussen. Ja, mit meiner Kindheit, mit meiner Familie.» Und auch mit den Gauchos, ergänzt er später – mit dieser ganz besonderen Art, draussen zu leben. «Auf dem Pferd in die grosse Weite zu reiten, das ist schon ein sehr krasses Gefühl von Freiheit.»

In Deutschland ist ihm das Leben oft zu reglementiert. Ihm fehle die Lässigkeit, mit der man Ausflüge plane, manchmal ohne Helm ausreite, Projekte anschiebe und auch einmal Risiken eingehe. Das sei in Argentinien anders. Und dann ist da noch die Spontanität, die dem Argentinier im «wilden Osten» fehlt: «Hier muss man mehrere Tage im Voraus wissen, ob man sich an einem Mittwoch oder Donnerstag um 18 Uhr mit jemandem treffen will.» Amancio Mendiondo könne für sich nicht planen, die argentinische Lebensart, sagt er, sei da etwas anders.

Regelmässig veranstaltet Amancio Mendiondo einen Asado, einen argentinischen Grillabend nach Gaucho-Manier.

Asado mit Tanz und Wehmut

Amancio Mendiondo zeigt uns seinen Hof. Er liegt auf einer Anhöhe. Es gibt keine direkten Nachbarn. Der Blick schweift automatisch in die Ferne. In der riesigen Scheune steht ein langer Tisch, der am Wochenende festlich gedeckt wird. Mit Lichterketten ist eine Art Tanzfläche geschmückt. Hier hat er für seine Gäste vor ein paar Tagen eine Penja veranstaltet – ein Fest mit argentinischer Musik und Tanz. Tagsüber sind alle gemeinsam ausgeritten – alle, ausnahmslos. Ein grosser Unterschied: In Argentinien sitzt jede und jeder im Sattel, auch wenn man keine oder kaum Reiterfahrungen hat. In Deutschland sei das ein Ding der Unmöglichkeit: «Genau das ist typisch, wenn man auf einer Estancia lebt: Jemand kommt und hat keine Reiterfahrung. Der reitet natürlich mit, fertig. Auf das Pferd und los! Hier macht das niemand.»

Doch Gauchos sind nicht nur gute Reiter und Musiker. Amancio Mendiondo muss schmunzeln, als er von den Redensarten der Gauchos erzählt und von der besonderen Sprachmelodie, die man ihnen nachsage. Gauchos nutzen Begegnungen mit Fremden, um sich zu amüsieren, um manchmal auch Witze auf Kosten anderer zu machen. «Die Gauchos haben einen besonderen Humor. Sie sind sehr ironisch, und wenn jemand aus der Stadt kommt, dann werden sie diese Person ganz elegant verarschen. Sehr stark und sehr elegant, so dass die Person das vielleicht nicht einmal mitbekommt. Die Gauchos können sich darüber totlachen, ohne dass der andere das merkt.» Das sei typisch für die Gaucho-Lebensart.

Anekdoten aus dem Arbeitsalltag argentinischer Gauchos, Open-Air-Grillen und tägliche Ausritte – auf der Cavalan-Ranch kann man eintauchen in diese Welt ohne Folklore-Kitsch. Und immer wieder ist es die Musik, mit der Amancio Mendiondo seine Gäste hierherlockt. Manchmal lädt er südamerikanische Musiker ein, dann werden die Abende lang.

Am Ende unseres Besuches singt Amancio Mendiondo für uns. Ein sentimentales Volkslied aus dem 19. Jahrhundert, als in Südamerika, vor allem aber in den weiten Grassteppen Argentiniens, die Rinderzucht ohne die Gauchos undenkbar war. Bis heute sind sie Teil der argentinischen Identität und für den Argentinier aus Buenos Aires Teil seiner Familienbiografie.

Regelmässig veranstaltet er einen Asado, einen argentinischem Grillabend nach Gaucho-Manier. Was seine Gäste verbindet, ist die Liebe zu argentinischer Lebensart, mit Musik, Tanz, Pferden und dem Gefühl von Freiheit. Hier mitten in der mecklenburgischen Pampa – 12 000 Kilometer von den Weiten der Pampa entfernt. Fast wie in Patagonien.

Informationen: www.cavalan.de

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