Mittwoch, April 16

Auf Zürcher Strassen kommt es immer wieder zu Gewalttätigkeiten.

Sie hält sich für friedfertig. Werte wie Harmonie und ehrliche Kommunikation seien ihr wichtig, schreibt eine 31-jährige Schweizerin auf der Website ihres Arbeitgebers über sich selbst. Im Feierabendverkehr Anfang Dezember 2023 regiert bei der Autofahrerin bloss eines: rasende Wut.

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Sie beschimpft und bedroht eine Fussgängerin – am Ende verfolgt sie die Frau mit ihrem SUV durch eine Zürcher Quartierstrasse. Eine Viertelstunde lang dauert der Wutausbruch, der die rabiate Autolenkerin zum Fall für die Justiz macht.

Road-Rage nennt sich das Phänomen, das auch auf Zürichs Strassen immer wieder vorkommt. Während viele Verkehrsteilnehmer bloss vor sich hin fluchen, lassen sich andere zu aggressiven Fahrmanövern und manche gar zu Gewalt hinreissen.

Im August 2023 etwa verhaftete die Polizei zwei Autofahrer, die Velofahrer verfolgt und zu Fall gebracht hatten. Im November 2023 schubste ein 69-jähriger Spaziergänger einen Velofahrer beim Kreuzen absichtlich mit seiner Schulter. Der Velofahrer stürzte und zog sich ein Schädel-Hirn-Trauma zu. Einen Zeugen schlug der aggressive Rentner zudem mit seinem Schirm.

Im Januar 2024 kickte ein Velokurier am Bucheggplatz in die hintere Türe eines Autos. Es entbrannte ein Streit, bei dem der Kurier zuerst dem Autofahrer und dann einem weiteren Velokurier die Faust ins Gesicht schlug. Im Juli 2024 überrollte in Winterthur mutmasslich ein Audi-Fahrer einen Velofahrer nach einem Streit, verletzte ihn schwer und flüchtete.

Ein stürmischer Winternachmittag

Im Fall von Wollishofen beginnt alles damit, dass die im Marketing tätige Lenkerin ihren SUV durch Zürich Wollishofen steuert. Es ist 16 Uhr 30 am 1. Dezember 2023. Es ist ein stürmischer und nasskalter Nachmittag, und die Frau befindet sich auf dem Weg stadtauswärts. Im stockenden Feierabendverkehr kommt sie allerdings nur langsam voran.

Beim Bahnhof Wollishofen passiert es schliesslich: Eine Passantin überquert den Fussgängerstreifen. Die Begegnung ist zufällig, die beiden kennen sich nicht. Die Fussgängerin schildert den Vorfall gegenüber der NZZ so: Sie habe ihren Regenschirm wegen des stürmischen Wetters fest umklammert. Als das Auto angehalten habe, sei sie losgelaufen – den Schirm dicht vor dem Gesicht. Plötzlich sei sie fast über den Haufen gefahren worden.

Die Staatsanwaltschaft wird später in einem Strafbefehl festhalten, es sei zu einem kurzen Disput mit der Fussgängerin gekommen. Diese sagt allerdings, sie habe kein einziges Wort mit der Lenkerin gesprochen.

Sicher ist, dass die 31-jährige Lenkerin daraufhin das Fenster ihres Wagens herunterlässt und die Fussgängerin mit einer Tirade überzieht. «Schlampe», «Nutte» und andere Kraftausdrücke fallen. Dann fährt sie weiter – doch rasch überlegt sie es sich anders.

Sie wendet ihren Wagen, fährt zurück zur Quartierstrasse, in welche die Fussgängerin zuvor abgebogen ist. Als sie sich auf Höhe der Fussgängerin befindet, schreit sie mehrmals: «Ich erwische dich schon noch.»

Dann versucht die 31-Jährige, den schweren Wagen auf das Trottoir zu steuern. Mehrfach. Einige Bäume und eine Baustellenabschrankung hindern sie daran. Stattdessen fährt sie die Quartierstrasse hoch, wendet bei der nächsten Verzweigung und prescht wieder auf die Fussgängerin zu. Nur mit einem Sprung über die linke Fahrzeugfront gelingt es dieser, sich vor dem schweren SUV in Sicherheit zu bringen. Wenige Zentimeter fehlen, und die Frau wäre vom Geländewagen erfasst worden.

Schliesslich wendet die wütende Lenkerin ihren Wagen noch einmal – und verfolgt die Fussgängerin. Als sie sie eingeholt hat, wirft sie eine halbvolle Wasserflasche aus dem Fenster ihres Wagens und verfehlt die Frau knapp. Sie schreit: «Ich erwische dich schon noch» und betitelt sie erneut als «Hure» und «Schlampe».

Erst dann lässt sie von ihrem Opfer ab und fährt weg. Ungestraft kommt sie nicht davon. Eine Zeugin beobachtet den Vorfall. Die Fussgängerin kann zudem das Nummernschild des Fahrzeugs fotografieren. Am nächsten Tag reicht sie schliesslich Strafanzeige ein.

Gereizte Stimmung auf den Strassen

Ob Aggressionen auf der Strasse zunehmen, ist unklar. Konflikte und Gewalttätigkeiten unter Autofahrern, Velofahrern und Fussgängern werden nicht statistisch erfasst.

Was man aber weiss: Immer mehr Menschen gestehen ein, dass sie aggressiv fahren. Die Stimmung auf den Strassen wird von vielen Verkehrsteilnehmern als gereizt wahrgenommen. In einer deutschen Studie von 2023 gab die Hälfte der Befragten zu, sich gelegentlich im Verkehr abzureagieren, indem sie zum Beispiel viel schneller führen, wenn sie sich ärgerten. 2016 hatte dies erst ein Drittel bejaht.

Das überträgt sich auf die Stimmung. 2019 führte die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich eine nicht repräsentative Umfrage unter 2100 Personen durch. 65 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer gaben an, sie hielten die Stimmung im Strassenverkehr für schlecht. Besonders Velo- und Autofahrer stuften die Situation negativ ein.

Verantwortlich dafür sein will kaum jemand: 73 Prozent der Befragten antworteten, sie seien im Allgemeinen eigentlich entspannt unterwegs. Ein etwas anderes Bild zeigte sich einzig, wenn sich die Befragten unter Zeitdruck befanden. 80 Prozent der Umfrage-Teilnehmenden gaben an, in solchen Situationen gestresst unterwegs zu sein – und zur schlechten Stimmung beizutragen.

Die Stadt warb nach der Umfrage mit der «Grosi an Bord»-Kampagne für mehr Rücksicht. Und lancierte den Slogan: «Fahr so, wie wenn dein Grosi dabei wäre». 2022 führte die Stadt eine zweite, nicht repräsentative Befragung durch. Die Stimmung war dabei leicht besser geworden als 2019.

Sicher ist aber weiterhin: Die Strassen bleiben für viele ein ungemütliches Pflaster.

Sie nahm auch die Nachbarn ins Visier

Rund ein Jahr lang ermittelt die Zürcher Staatsanwaltschaft im Fall der rabiaten SUV-Fahrerin von Wollishofen.

In ihrem Strafbefehl hält sie fest, durch die aggressiven Fahrmanöver sei die Fussgängerin gezwungen gewesen, ihre Laufrichtung zu ändern, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie sei in Angst und Schrecken versetzt worden und habe ernsthaft befürchtet, dass die Beschuldigte ihre Drohungen in die Tat umsetzen würde. In ihrem Sicherheitsgefühl sei die Frau massiv beeinträchtigt worden.

Sie habe in diesem Moment um ihr Leben gefürchtet, sagt die betroffene Fussgängerin. Die Autofahrerin habe ihre Emotionen überhaupt nicht mehr unter Kontrolle gehabt. Bei manchen Leuten sinke die Hemmschwelle in ihrem Auto, weil sie sich überlegen fühlten. Die Frau habe ihren Wagen als Waffe benutzt. Ein mulmiges Gefühl bleibt bei der Fussgängerin zurück. «Wer weiss, wann sie das nächste Mal die Kontrolle verliert?»

Die Untersuchung bringt nämlich noch mehr ans Licht: Offenbar neigt die Frau nicht nur am Steuer ihres Autos zu Wutausbrüchen. Laut Angaben der Staatsanwaltschaft beschimpfte sie auch eine ehemalige Nachbarin in der Tiefgarage ihres damaligen Wohnorts als «Behinderte», einen weiteren Nachbarn betitelte sie in einer E-Mail als «Abschaum aus dem vierten Stock».

Dafür hat die Staatsanwaltschaft die 31-jährige Schweizerin per Strafbefehl verurteilt. Wegen Nötigung, mehrfacher Drohung, mehrfacher Beschimpfung, übler Nachrede und Verletzung der Verkehrsregeln erhält sie eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 160 Franken. Zudem muss sie eine Busse in der Höhe von 3000 Franken berappen und für Verfahrenskosten, Prozessentschädigung sowie eine Genugtuung an die Geschädigte aufkommen.

Die Frau hat den Strafbefehl inzwischen akzeptiert, er ist deshalb rechtskräftig geworden. Es ist die Quittung für ihren Wutanfall.

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