Dutertes Überstellung an den internationalen Strafgerichtshof versetzt die Philippinen in Aufruhr. Was folgt nun für jene, die unter ihm inhaftiert wurden? Ein Gefangenenbesuch.
Vic hätte allen Grund, verbittert zu sein. Doch er lacht. Der Mann, der ihn ins Gefängnis gebracht hat, Rodrigo Duterte, ist nun selbst ein Gefangener.
Am Freitag erschien der frühere Präsident der Philippinen erstmals vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Falls er verurteilt wird, könnte er bis zu seinem Tod inhaftiert bleiben.
Leben zwischen Protest und Einzelzelle
Vic heisst mit vollem Namen Vicente Ladlad, er empfängt die NZZ im Gefängnis in Manila. Was er erzählt, lässt sich nicht unabhängig überprüfen, aber seine Geschichte ist bekannt. Auf den Philippinen ist er einer der berühmtesten politischen Gefangenen. Als er vor acht Jahren ins Metro Manila District Jail kam, war er 68. Heute ist er ein alter Mann mit grauen Haaren und einem Hörgerät, nur wenige Jahre jünger als Duterte. Er sagt, die Anschuldigungen gegen ihn seien alle erfunden. Noch wartet er auf ein Gerichtsverfahren – ob und wann er frei kommt, weiss er nicht.
In philippinischen Gefängnissen warten nach Angaben von World Prison Brief, einer Datenbank eines britischen Forschungsinstituts, über hunderttausend Angeklagte auf ihren Prozess so wie Vic. Einige warten seit zehn Jahren. Dutertes brutale Antidrogenpolitik führte nämlich nicht nur zur Tötung von 12 000 bis 30 000 Personen, auch Zehntausende wurden festgenommen. Für sie ist Dutertes Verhaftung eine Genugtuung – auch wenn sie nach innenpolitischer Abrechnung stinkt.
Rodrigo Duterte war von 2016 bis 2022 Präsident der Philippinen. Sein Drogenkrieg zielte darauf ab, die Drogenkriminalität im Land zu bekämpfen. Duterte setzte auf rigorose Methoden, wie die Ermordung von Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren. Duterte ging gegen Drogendealer und Süchtige vor, aber auch gegen Menschenrechts- und Demokratieaktivisten. Manchmal fabrizierte die Polizei die Beweismittel für die Anklagen gleich selbst. Der Internationale Strafgerichtshof wirft Duterte Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Vic ist nicht zum ersten Mal im Gefängnis. Politisch aktiv ist er seit seiner Zeit als Student in den siebziger Jahren, als er gegen den Diktator Ferdinand Marcos protestierte – den Vater des jetzigen Präsidenten. 1983 wurde Vic verhaftet und der Rebellion bezichtigt. «Es war eine schmerzvolle Zeit», sagt Vic. Vor allem eine einsame: Zwei Jahre sass er in Isolationshaft, ohne Kontakt zu Mitgefangenen, ohne Kontakt zur Aussenwelt.
Eines Tages seien plötzlich Aufseher in seine Zelle gekommen und hätten ihn gezwungen, lange an der grellen Sonne im Innenhof zu stehen. Am nächsten Tag kamen Delegierte des Internationalen Roten Kreuzes, um den Umgang mit den politischen Gefangenen zu überprüfen. «Die Gefängnisleitung wollte offenbar vorgaukeln, dass ich regelmässig Hofgang hatte und deshalb so schön gebräunt sei. Doch nach den vielen Monaten in Isolationshaft war meine Haut blass geworden. Ich war nicht gebräunt, sondern verbrannt», sagt Vic.
1986, als die Massenproteste Marcos aus dem Amt gedrängt hatten, wurde er freigelassen. Doch auch die nächste Präsidentin, Corazon Aquinos, wollte ihn wegsperren. Er wurde angeklagt wegen illegalen Waffenbesitzes. Die Anklage wurde nach einem Jahr fallengelassen. Seine nächste Haft trat er 1999 unter Aquinos Nachfolger Joseph Estrada aufgrund ähnlicher Anschuldigungen an. Schon nach zehn Tagen war Vic wieder auf freiem Fuss.
Keiner brachte ihn so lange ins Gefängnis wie Rodrigo Duterte.
Die Philippinen: eine Demokratie auf dem Papier
Die Regierung Dutertes wollte 2016 den bereits über fünfzig Jahre dauernden Konflikt mit den kommunistischen Rebellen durch Friedensverhandlungen lösen. Vic Ladlad war als politischer Berater der National Democratic Front, einer Koalition zivilgesellschaftlicher, gewerkschaftlicher und kommunistischer Organisationen, an den Friedensverhandlungen beteiligt.
Nach einem Jahr brachen die Verhandlungen zusammen. Nachdem Duterte zuerst die Kommunistische Partei der Philippinen in die Friedensverhandlungen eingebunden hatte, stufte er sie nun als terroristische Organisation ein. Die Teilnehmer der Friedensgespräche, denen Sicherheit und Immunität versprochen worden waren, wurden festgenommen.
Seither hat sich die Gewalt gegen jegliche politischen Aktivisten im Land verschärft, gegen Gewerkschafter, Menschenrechtler, Anwälte, auch gegen Journalisten. Der Staat verfolgt Kritiker der Regierung, sperrt sie unter erfundenen Anschuldigungen ein, lässt sie erschiessen.
Die Polizei habe auch ihm ein ganzes Arsenal an Waffen unterschoben, einschliesslich Handgranaten, erzählt Vic. 2017 wurde er unter Duterte festgenommen. Mit diesen schweren Anschuldigungen war es unmöglich, dass er auf Kaution freikommen könnte.
Die Unterdrückung unter Marcos geht weiter
Vic lebt in einer Abteilung mit zwanzig anderen politischen Gefangenen. Ihre Zellen liegen im obersten Stock des Gefängnisses, im Sommer wird es dort unerträglich heiss. Durch geschickte Verhandlungen mit der Gefängnisleitung erwirkten sie den Bau einer Dachstruktur. Der Schatten lindert die Hitze und schafft gleichzeitig neuen Raum. Dort empfangen die politischen Häftlinge ihre Besucher, diskutieren über den Zustand ihres Landes, spielen Billard. Es fallen Sätze wie, man sei glücklich, dass man überhaupt noch lebe. Vic sagt, die Gemeinschaft helfe, die Härte des Gefängnisalltags zu ertragen.
Für Vic ist die Verhaftung Dutertes eine gute Nachricht. Doch dass Vic bald freikommt, ist unwahrscheinlich. Die Regierung von Ferdinand Marcos junior führt den harten Kurs der Vorgängerregierung weiter, nur diskreter. «Duterte war stolz auf seine Gewalt gegen angebliche Drogenhändler», sagt Vic. «Marcos prahlt nicht damit. Aber die Tötungen gehen weiter, wenn auch weniger intensiv.»
Tobias Brandner lebt mit seiner Familie seit 1996 in Hongkong. Er unterrichtet und forscht an der Chinese University of Hongkong als reformierter Theologieprofessor. Daneben ist er im Auftrag der «Mission 21» als Gefängnisseelsorger tätig.