Volvo profitiert vom Kapital seines chinesischen Mutterhauses und bringt skandinavische Baukunst ins Reich der Mitte. Ein exklusiver Blick hinter die Kulissen am zweiten Hauptsitz des Autobauers in Schanghai.
Wer an Volvo denkt, sieht vor dem geistigen Auge eine schwedische Automarke, bekannt für ihre solide Bauweise und hohe Insassensicherheit. Die früher oft etwas klobigen Fahrzeuge des Herstellers aus Göteborg geben Geborgenheit und vermitteln gesicherte Werte.
Volvo steht seit 96 Jahren für Sicherheit. Doch wer etwa in einer grossen Volvo-Limousine des Typs S90 fährt, weiss vielleicht nicht, dass es sich bei diesem komfortablen und sicheren Wagen um ein Produkt vollständig aus chinesischer Produktion handelt. Denn die berühmte schwedische Automarke ist seit 2010 mit gut 75 Prozent Anteilen in festen Händen von Geely, einem der grössten Autokonzerne Chinas.
Der in Hangzhou, 200 Kilometer südwestlich von Schanghai, ansässige Konzern baut Fahrzeuge unter eigener Marke, zählt mittlerweile neben Volvo aber auch Hersteller wie Lotus, Polestar, Lynk & Co., Zeekr und die gute alte London Taxi Company zu seinem Portefeuille. In einem Joint Venture mit Mercedes-Benz baut Geely die neue Generation des Smart, in einem weiteren JV mit Renault entstehen neue Antriebe für Autos.
Geely übernahm Volvo vor 13 Jahren von Ford und sanierte den Autobauer, der unter amerikanischer Führung marode geworden war. Zu den wichtigsten Aufgaben in der Erholungsphase des schwedischen Herstellers gehörte die Nutzung von Synergien im chinesischen Grosskonzern, etwa bei Forschung und Entwicklung, Gleichteile-Verwendung und Fertigung. Gleichzeitig galt es, das Image als sicherste Automarke der Welt zu verteidigen.
Ein Besuch vor Ort in China gibt uns Einblicke in das bisher Erreichte. Zwar prägen Fahrzeuge von Volvo neben den zahlreichen neuen Elektroautos anderer chinesischer Konzerne wie BYD, Nio und Xpeng nicht das Strassenbild im Zentrum Schanghais, doch rund um das Designstudio und die Entwicklungsabteilung im Nordteil von Schanghai ist die Dichte der schwedischen Fahrzeuge auffallend.
Mittlerweile ist China der weltgrösste Automobilmarkt, aber auch einer der am stärksten wachsende Märkte für Elektroautos. Schätzungen des britischen Branchendienstes IHS Markit gehen davon aus, dass der Anteil an Batteriefahrzeugen bis 2030 auf 60 Prozent am Gesamtvolumen wachsen wird. Das wären in sieben Jahren 16,5 Millionen Elektroautos mit Batterieantrieb.
Volvo als Marke mit dem Ziel, künftig nur noch Elektroautos zu bauen, hat auf dem chinesischen Markt investiert, dank der Hilfe des Haupteigners Geely. Volvo ist in 160 Städten Chinas mit insgesamt knapp 300 Händlerstützpunkten und 25 Flagship-Verkaufsflächen vertreten. Im Hauptquartier Schanghai finden sich die Abteilungen Einkauf, Design sowie Forschung und Entwicklung.
Hinzu kommen drei Fertigungswerke der Geely-Gruppe, in denen Volvo Fahrzeuge produziert: In Daqing im Nordosten Chinas werden die beiden Volvo-Limousinen S90 und S60 gefertigt, im zentralchinesischen Chengdu rollt das SUV XC60 vom Band, und in Taizhou an der südchinesischen Küste entstehen die beiden Modelle XC40 und C40. Insgesamt mehr als 11 000 Angestellte waren Ende 2022 für Volvo im Reich der Mitte tätig, dazu bei den Händlervertretungen weitere gut
30 000 Mitarbeiter.
Als wichtiger Vorteil für Volvo hat sich neben der eigenen Fertigung in China erwiesen, dass der Grossteil aller Zulieferer ebenfalls hier stationiert ist. Diese müssen die hohen Anforderungen an Insassensicherheit der Volvo-Fahrzeuge erfüllen können. Doch die Konzentration auf China birgt für Volvo auch Risiken: Immer wieder kommt es zu drastischen Abschwüngen im chinesischen Automobilmarkt, je nachdem, wie stark der Staat in den freien Markt eingreift. Darauf angesprochen, erklärt Xiaolin Yuan, der Leiter des China-Geschäfts von Volvo, stoisch: «Die Wirtschaft in China ist ein schiffbarer Fluss geworden. Der führt auch einmal etwas weniger Wasser, aber er bleibt schiffbar.»
Neue Herausforderungen bei der Fahrzeugentwicklung
Hans Lindh, Leiter Forschung und Entwicklung bei Volvo China, gewährt uns einen Blick ins Entwicklungszentrum Schanghai, wo auf 65 000 Quadratmetern 800 Angestellte arbeiten. «Es gibt zwei Hauptentwicklungszentren, eines in Schweden und eines in China», erklärt er. «Aber wir betrachten die Volvo-Entwicklung immer global. Seit 2021 wird die weltweite Fahrzeugprogramm-Entwicklung in Schanghai durchgeführt.» Auch dies geschieht nicht zuletzt, um das Thema der Fahrsicherheit der Marke im Auge behalten zu können. Derzeit werden 10 verschiedene Fahrzeugmodelle hier entwickelt, insgesamt gibt es 24 Forschungsprojekte.
In einem abgetrennten Bereich steht ein Volvo-SUV, das von grossen Tafeln mit QR-Codes umgeben ist. «Hier werden die Fahrassistenten und die Systeme fürs teilautonome Fahren kalibriert», erklärt Lindh. Die verschiedenen Sensoren im Fahrzeug müssen die Codes – stellvertretend für verschiedene Hindernisse – aus allen Winkeln erkennen können, um einwandfrei zu reagieren. «Dies ist insbesondere in China wichtig, weil es hier oft vorkommen kann, dass ein anderes Auto unvermittelt die Spur wechselt», so der Chefingenieur. «Das muss ein Volvo sehr rasch erkennen und entsprechend reagieren können.»
Hinter vorgehaltener Hand ärgern sich die Volvo-Ingenieure immer wieder über die rohen Sitten auf chinesischen Strassen, wo Verkehrsregeln oft nur empfehlende Wirkung entfalten.
In verschiedenen Räumen herrschen spezifische klimatische Bedingungen. Ein kompletter Funktionstest der Fahrzeuge geschieht bei exakt 23 Grad Celsius und geregelter Luftfeuchtigkeit. Ein Lacktest wird in einer Klimakammer mit 25 Grad Temperatur durchgeführt. Weitere Kammern stehen für Materialtests zur Kontrolle von möglicher Korrosion und für die Computertomografie bestimmter tragender Fahrwerksteile bereit. So werden strukturelle Fehler in den Teilen sichtbar und können bei der Fertigung neuer Teile korrigiert werden.
Eine Abteilung widmet sich spezifisch der Prüfung von Batteriezellen für Elektroautos. Zunächst muss die Kühlung des zugelieferten Zellpakets aufgebaut werden, anschliessend wird alles im Zusammenspiel getestet. Auch Fehlfunktionen in der Stromversorgung von Elektroautos könnten am Renommee der Sicherheitsmarke Volvo kratzen.
Aber auch Umweltfreundlichkeit und Kreislaufwirtschaft sind für Volvo weltweit ein Thema. «Künftig wollen wir bei der Zellfertigung den CO2-Ausstoss auf maximal 30 Prozent des heutigen Wertes reduzieren und Materialien wie Aluminium, Cobalt, Kupfer, Lithium, Nickel und Mangan rezyklieren», erklärt Lindh.
Der Volvo-COO Javier Varela ergänzt: «Wir arbeiten schon heute am Recycling und an der Wiederverwendung der Batteriematerialien. Zeitweise haben wir einen Teil davon mit Zulieferern abgedeckt. Aber die Elektroauto-Flotten sind noch nicht gross genug, um überhaupt im grossen Stil Batterien wiederzuverwenden. Das dürfte noch zehn Jahre dauern.»
Ganz auf Materialien wie Cobalt will Volvo künftig nicht verzichten, wie Varela verrät: «Wir haben bereits Batterien mit Lithium-Eisen-Phosphat im Einsatz bei Fahrzeugen mit weniger elektrischer Energiedichte, diese kommen ohne Cobalt aus. In den Nickel-Mangan-Cobalt-Batterien mit hoher Energiedichte ist Cobalt bereits stark reduziert, aber wir wollen es nicht komplett eliminieren. Wir haben unsere ethisch und qualitativ überprüften Ressourcen per Blockchain sichergestellt.» Sicher ist sicher.
Mit dem Verbrennungsmotor hat Volvo bei der Fahrzeugentwicklung längst abgeschlossen. «Rückblickend sind wir sehr zufrieden mit dieser Entscheidung», sagt Varela. «Wir legen den Fokus aufs batterieelektrische Auto. Die Entwicklung im Bereich des Wasserstoffs beobachten wir, aber er wird sich vor allem auf Langstrecken und im Schwerlastverkehr durchsetzen.» Setzt Volvo Hoffnungen auf eine Rückkehr des Benzinmotors, etwa im Betrieb mit synthetischem Benzin (E-Fuels)? «Wir geben den E-Fuels keine Chance.»
In einem Forschungsbereich findet sich die Software-Entwicklung. Hier beginnt die Programmierung auf Kundenniveau, also im direkten Zusammenspiel mit dem Volvo-Fahrer. Anschliessend durchläuft der Codierungsprozess zirkulär einzelne Stationen zur Weiterentwicklung, um dann wieder beim Kunden eingespielt zu werden. Der Prozess ist in Echtzeit mit dem schwedischen Mutterhaus integriert. «Dies erhöht die Entwicklungsgeschwindigkeit und die Effizienz», erklärt der Forschungsleiter Hans Lindh. Auf diese Weise stellt der schwedische Hersteller auch sicher, dass die hohen Qualitätsstandards eingehalten werden.
Bei so viel Eigenentwicklung stellt sich die Frage, wie stark Volvo vom Geely-Konzern und von den verschiedenen Schwestermarken profitieren kann. Der Volvo-COO Varela stellt zunächst klar: «Wir sind ein unabhängiges Unternehmen, das an der Börse kotiert ist. Wir haben aber natürlich Möglichkeiten der Kooperation mit anderen Marken der Geely-Familie, die wir auch nützen. Dazu gehören Komponenten, Plattformen, das gemeinsame Know-how und die Zulieferer.»
Und doch setzt Volvo auf ein hohes Mass an eigener Forschung und Entwicklung, nicht zuletzt aufgrund des in fast 100 Jahren erarbeiteten Wissens in der Unfallforschung. Hans Lindh erklärt einen weiteren Hintergrund: «Natürlich können wir von der Entwicklung der anderen Geely-Konzernmarken profitieren. Aber für das geistige Eigentum und die Nutzung der Patente müssen wir jeweils auch etwas bezahlen.»
Erster Volvo nur für China
Bereits seit einigen Jahren ist China der grösste Volvo-Markt überhaupt. Da ergibt es für die Marke Sinn, erstmals ein eigens für den chinesischen Markt entwickeltes Fahrzeugmodell vorzustellen. Der EM90 ist ein grosszügig dimensionierter Luxus-Van, der mit 5,20 Metern Länge und mehr als 2 Metern Breite auch der grösste Volvo aller Zeiten ist. Natürlich ist er auch in Sachen Sicherheit eine Bank.
Getreu dem Credo der Marke ist der Siebenplätzer batterieelektrisch angetrieben und verfügt über mehr als 600 Kilometer Reichweite. Nach chinesischem Normzyklus sind es gar 738 Kilometer. Dank der 116-kWh-Batterie wiegt der EM90 allerdings auch stolze 2,8 Tonnen. Der 272 PS starke Elektromotor soll immerhin in 8,3 Sekunden von 0 auf 100 km/h sprinten können.
Der Van mit typischem Volvo-Grill ist als fahrendes Wohnzimmer gedacht, in dem die Familie reist, das aber auch als rollendes Büro und für die Freizeit genutzt werden kann. Entsprechend ist der Innenraum besonders hochwertig gestaltet, verfügt hinter den Vordersitzen über zwei elektrisch verstellbare Liegesitze mit 16 Lagen Polsterung.
Für den Fahrer steht ein Touchscreen mit 15,4 Zoll Bilddiagonale bereit, auf den Rücksitzen profitieren die Passagiere von einem sogar 15,6 Zoll grossen Bildschirm fürs fahrende Kino oder für das Video-Meeting. Klapptische erlauben das Arbeiten am Laptop, ein Kühlschrank sorgt für kühle Getränke. Für perfekten Raumklang und Konzertakustik soll ein Audiosystem von Bowers & Wilkins mit 21 Lautsprechern sorgen.
Der Preis für den chinesischen Markt zeigt, wo Volvo die EM90-Kundschaft verortet. Knapp 100 000 Franken kostet der Luxus-Van in China. Nach Europa oder in die USA soll er jedoch nicht exportiert werden. «Erst einmal soll er die chinesischen Kunden ansprechen, denn hier gibt es bereits erfolgreiche Konkurrenten», erklärt Jim Rowan, seit März 2022 Chef von Volvo. «In einer zweiten Phase wollen wir weitere südostasiatische Märkte mit dem EM90 bedienen.»
Der schottische CEO bringt frische Ansichten mit zu Volvo. Als ehemaliger Chef beim Staubsaugerhersteller Dyson und beim Smartphone-Bauer Blackberry kennt er sich mit Konsumgütern bestens aus. Sein Credo: Kenne deine Kunden. Als Newcomer in der Autoindustrie beschäftigt sich Rowan sehr genau mit den Umwälzungen in der Autoindustrie, die er aus den ihm bekannten Sektoren bereits kennt.
«Es gibt in zwei Bereichen einen riesigen Wandel: Erstens ändert sich das Vertriebsmodell – der Autohersteller spricht nun neben dem Händler auch direkt mit dem Kunden», sagt Rowan. «Zweitens wandelt sich die Technologie, und das ist noch interessanter. Tesla hat es mutig vorgemacht und sich für den Bau eigener Kernprozessoren entschieden. Dies tun wir nun auch. Wir müssen in der Lage sein, eigene Software zu entwickeln und uns nicht auf Zulieferer zu verlassen.»
Jim Rowan weiss, wovon er spricht. «Es ist sicher hilfreich, dass ich selbst Ingenieur bin», sagt er. «Ich spreche die Sprache der Entwicklungsingenieure. Das ist kein Hindernis, um gewisse Probleme zu verstehen, die sich bei der Entwicklung der Produkte ergeben. Entsprechend verbringe ich in Schweden und China viel Zeit mit den Ingenieuren, ob es ihnen gefällt oder nicht.»
Auch der Schotte hat sich das Thema Sicherheit bei Volvo auf die Fahne geschrieben. «Ich sehe mich als oberster Wächter unseres guten Rufes als sicherste Automarke der Welt, und dieses über Jahrzehnte aufgebaute Gut werde ich um jeden Preis verteidigen», sagt Rowan.
Die China-Reise wurde durch Volvo unterstützt.