Freitag, November 22

Von einem, der auszog, sein Geld mit Nachhaltigkeit zu verdienen. Und am Ende das der anderen verprasst haben soll.

Der Messias sieht müde aus.

Vornübergebeugt sitzt er da, den Blick starr nach vorn gerichtet. Wenn er spricht, schiessen seine Hände in die Luft, plötzlich wach, beschwörend fast. Dann fallen sie wieder hinunter auf die Armlehnen. An ihnen hält sich Rolf Wägli fest, wenn er über seinen Absturz spricht.

«Ich war ein Mann der Visionen», sagt er. «Doch nun leide ich seit Jahren. Denn man hat mein Lebenswerk zerstört.»

Wägli – 73, Vermögensverwalter – war in den nuller Jahren eines der bekanntesten Gesichter der Schweizer Solarbranche. Einen «Pionier» nannten ihn die Medien, einen «Startup-Connaisseur» und eben: den «Messias der Solarbranche». Wägli wollte die Schweiz in eine Sonnennation verwandeln, Solarfabriken bauen, mit Nachhaltigkeit Geld machen. Für sich – und seine Kunden.

Von der IV-Rentnerin aus dem Zürcher Oberland bis zum reichen Ölhändler aus Kanada: Alle vertrauten ihm ihr Erspartes an, oftmals ihre Altersvorsorge. Am Ende übrig blieb für viele: nichts.

Deshalb sitzt Wägli nun, im Winter 2024, in Schal, Jeans und weissen Sneakers da, auf der Anklagebank des Bezirksgerichts Zürich. Und deshalb sitzen, eine Reihe hinter ihm, jene Männer und Frauen, die durch ihn Unsummen verloren haben. Insgesamt über 50 Millionen Franken.

Sie sind – wie Wägli selbst – hier, um Klarheit zu erhalten. Eine Klarheit, die bei Wirtschaftsdelikten häufig fehlt. Wo endet in der Welt von Banken und Venture-Kapitalisten das unternehmerische Risiko? Und wo beginnen die kriminellen Machenschaften?

I. Der Solarpionier

Langenthal, im Oktober 2011. Rolf Wägli – schwarzer Rollkragenpulli, schwarzer Anzug – steht neben einem Bagger und lächelt in die Kameras. Daneben Vertreter der von ihm dirigierten Firma Solar Industries und eine Riege Lokalpolitiker.

Wägli witzelt, immer wenn er in Langenthal sei, scheine die Sonne. Er sagt: «Wir sind überzeugt, dass die Sonnenenergie auch in der Schweiz ein grosses Potenzial für die Stromerzeugung bietet.» Dafür will er hier die Grundlage legen – mit der grössten Produktionsanlage für Solarpanels in der Schweiz. Zweieinhalb Fussballfelder gross.

Die Presse titelt: «Ein Schritt in Zukunft» – «Langenthal wird zur Schweizer Solar-Hauptstadt».

Alle, vom Lokalblatt bis zur Pendlerzeitung, sind begeistert. Alle glauben den Versprechungen eines Mannes, der seit Jahrzehnten an seinem Ruf als erfolgreicher Unternehmer und Vermögensverwalter arbeitet. Wägli gilt als innovativer Kopf mit gutem Riecher für Technologien der Zukunft.

Seine Biografie ist die Geschichte eines Aufstiegs wie aus dem Bilderbuch: schwierige Kindheit, kaufmännische Ausbildung bei einer Lederfirma, Einstieg bei einer Genfer Bank, Aufstieg bis ins Management. Tätigkeit für die UBS und diverse Privatbanken.

Dann: die Selbständigkeit als Vermögensberater mit Büro in der Zürcher Innenstadt. Ganzseitige Gastbeiträge mit Investment-Tipps in der «Handelszeitung», mit Titeln wie «Gier ist ein schlechter Ratgeber».

Wägli verdient zwischen 150 000 und 800 000 Franken pro Jahr, wie er vor Gericht sagen wird. Und er kann – neben einigen Fehlschlägen – auch handfeste Erfolge vorweisen: Er investiert früh in ein Solarunternehmen in der Berner Gemeinde Lyss, fusioniert dieses mit dem bekannten Solarunternehmen Meyer Burger und sitzt danach dort im Verwaltungsrat.

Wägli, der Erfolgreiche. Wägli, der Vertrauensmann. Wägli, der verkündet: «Nur was sinnvoll ist, hat langfristig auch wirtschaftlichen Erfolg.»

Doch da ist auch eine andere Seite. Sie schimmert durch, wenn er sich selbst einen «Venture-Kapitalisten» nennt. Wenn ein Branchenmagazin ihn zu «den besten Kennern der Schweizer Risikokapitalszene» zählt. Wenn Investitionen in Startups scheitern und er mit einem Schulterzucken reagiert.

Wägli, der Risiko-Investor? Wägli, der Spekulant?

Laut seinem Anwalt investiert er das Geld seiner Kunden damals in: eine Wasserentsalzungsanlage in Ägypten, ein Seniorenheim auf Mallorca, den Handel mit gebrauchtem Kunststoff in Deutschland, die Beschaffung spanischer Aufenthaltsbewilligungen für indische Investoren.

«Skepsis lohnt sich», so hat Rolf Wägli 1996 einen von ihm verfassten Artikel in der «Handelszeitung» betitelt. Seine Kunden scheinen ihn nicht gelesen zu haben.

Unter ihnen ist auch ein kanadischer Ölhändler, der Wägli 1997 kennenlernt: John H. Er wird später bei Wäglis Absturz eine zentrale Rolle spielen.

Unter ihnen sind aber auch staatliche Betriebe. Die Pensionskasse der Stadt Bern und der bernische Energieversorger EWB investieren Millionen in seine Solar-Vorhaben.

Der Spatenstich der Langenthaler Solarfabrik ist die Krönung einer erfolgreichen Karriere. So scheint es damals.

Doch nur ein Jahr später wird alles anders kommen – und Rolf Wäglis Welt zusammenbrechen.

II. Das «System Wägli»

«Schneeballartig» nennt es der Staatsanwalt. «Ein kompliziertes Geflecht», findet der Richter. «Eines, das es erlaubt, in Tat und Wahrheit zu arbeiten», kontert Rolf Wägli.

Das ist das «System Wägli», wie es die Anklage umschreibt: Ein Vermögensverwalter mit fast totaler Kontrolle über die ihm anvertrauten Gelder. Eine Hausbank, die M. M. Wartburg, die ihn gewähren lässt (und später in den Cum-Ex-Anlageskandal verwickelt ist). Und Dutzende von Firmen – viele in Übersee –, zwischen denen das Geld hin- und hergeschoben wird.

Wägli arbeitet in den nuller Jahren in einem Büro bei der Kirche St. Peter, nur wenige Gehminuten vom Zürcher Paradeplatz entfernt. Während 18 Jahren empfängt er Kunden, Geschäftsleute, Freunde, deren Geld er anlegt. Verschwiegen und seriös: Das ist sein Versprechen.

Einer seiner Kunden, aus dessen Befragung sein Anwalt später zitieren wird, formuliert es so: «Herr Wägli sagte zu mir, wenn ich eine sportliche Ausführung mit Risiko wolle, sei ich bei ihm an der falschen Adresse. Ich wollte genau das: kein Risiko – dass ein Franken ein Franken bleibt.»

Der Mann wird stattdessen die Hälfte seines Geldes verlieren – eine Viertelmillion Franken.

Im «System Wägli» tritt das Geld eine weite Reise an: auf die Britischen Jungferninseln, die Bahamas und zurück in die Schweiz. Durch eine Vielzahl von Firmen, die Wägli kontrolliert und als gute Anlage verkauft haben soll – die laut Anklage aber komplett wertlos sind. Weil diese Firmen nichts tun, was Wert generiert, und ausser Wägli-Kunden niemand in sie investiert.

Es ist ein Geflecht, das niemand ausser Wägli versteht. Er ist der Vertreter der Investoren – und zugleich der Kopf hinter den Firmen.

Alles nur heisse Luft? Das bestreitet Wägli. «Ich kannte jedes Unternehmen auswendig, in das ich investiert habe», sagt er. Alle hätten echten Wert gehabt, ein funktionierendes Konzept, eine Buchhaltung. «Meine Kunden durften die Erwartung haben, Gewinne zu erzielen.»

«Aber wo sind diese Gewinne heute?», fragt der Richter. Und Wägli sagt, nach Worten ringend: «Ich weiss es nicht.»

Auch die Berichte und Erfolgsrechnungen, die es angeblich gab: Bis heute hat sie niemand gefunden. Ebenso wenig wie die «Experten», mit denen Wägli seine Investitionen abgesprochen haben will.

Sein Anwalt sagt: «Herr Wägli betrieb eben eine spezielle Art der Vermögensverwaltung.»

Doch das wissen seine Kunden damals nach eigenem Bekunden nicht. Vielleicht wollen sie es auch nicht wissen. Oder, und das ist Wäglis Version: Sie wissen es ganz genau – und versuchen ihm nun etwas als Verbrechen anzuhängen, was ganz normales unternehmerisches Risiko war.

Unbestritten ist, dass Wägli nicht nur das Geld seiner Privatkunden, sondern auch das seiner Schweizer Unternehmen durch das Firmennetz jagt. Die Solar Industries, die in Langenthal Solarmodule produzieren soll, ist ebenso an den Offshore-Vehikeln beteiligt wie die von Wägli gegründete Beteiligungsgesellschaft New Value.

So landet indirekt auch das Berner Steuer- und Pensionskassengeld im «System Wägli». 7,3 Millionen Franken öffentliche Gelder versickern darin.

Das Ende kommt laut Anklage, als Wägli das Geld ausgeht, mit dem er seine Kundschaft bei der Stange hält. Fragt man dagegen ihn, ist der Grund ein anderer: eine grosse Verschwörung.

In jedem Fall spielt Wäglis Freund, der kanadische Ölhändler John H., eine wichtige Rolle. Für ihn verwaltet Wägli ein Aktienpaket, von dem er laut Anklage heimlich einen Teil verkauft, um an flüssige Mittel zu kommen. Als H. seine Aktien plötzlich wieder braucht, nimmt Wägli einen Kredit für fast 10 Millionen Franken auf, um den Verkauf zu vertuschen.

Für diesen Kredit haftet, über Umwege, Wäglis New Value. In deren Büchern wird der Kredit plötzlich zum wertvollen Investment. Um diese Verwandlung zu ermöglichen, soll Wägli laut Anklage ein entscheidendes Dokument gefälscht und dem zuständigen Rechnungsprüfer, der Firma KPMG, zugestellt haben.

Wäglis Solar-Investoren werden dennoch misstrauisch. Seine Kollegen im Verwaltungsrat der New Value stellen ihn vor die Wahl: Das Geld kommt zurück, oder er muss gehen. Unter Druck gibt Wägli seine Ämter ab, seine eigene Firma reicht Strafanzeige gegen ihn ein. Die Solar Industries geht pleite, die Solarfabrik in Langenthal wird nie gebaut.

Und plötzlich ist Wägli, der Messias, als «Spekulant» in den Schlagzeilen, als «Beschuldigter», als möglicher Betrüger.

III. Betrug oder Intrige?

Über zehn Jahre dauern die Ermittlungen im Fall Wägli – so lange, dass ein Teil der Vorwürfe verjährt ist. Die Geschädigten, empört über die lange Dauer, wirken heute fast wütender auf die Staatsanwaltschaft als auf Rolf Wägli.

Es ist das zentrale Problem bei Wirtschaftsstraffällen wie diesem: Die Verfahren sind langwierig und komplex. Gemessen am Aufwand ist die Absturzgefahr hoch, bleiben die Strafen oft moderat.

Gleichzeitig steigen die Anzeigen wegen Wirtschaftsdelikten landesweit seit Jahren an. Die Zahl der aufgeklärten Fälle und Verurteilungen verharren auf tiefem Niveau.

Dabei ist der finanzielle Schaden von Wirtschaftsdelikten riesig: Auf 581 Millionen Franken hat die Beratungsfirma KPMG ihn für 2022 beziffert. Da viele Fälle gar nie zur Anzeige kommen, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher liegen.

Was macht Verfahren bei Wirtschaftsstraftaten so aufwendig? Nadine Zurkinden, Assistenzprofessorin für Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Zürich, sagt, die Grenze zwischen erlaubtem Risiko und strafbarem Verhalten sei bei solchen Fällen fliessend. Je nach Abmachungen, Statuten und Verträgen müsse sie bei jedem Fall aufs Neue bestimmt werden.

Weiter, so Zurkinden, sei die Hürde für eine Verurteilung in der Schweiz teilweise höher als im Ausland. So muss einem Betrüger etwa nachgewiesen werden, dass er sein Opfer nicht nur getäuscht hat, sondern das mit «Arglist» tat, also zum Beispiel ein eigentliches Lügengebäude erstellte.

Eine Hürde, die SP-Politiker Daniel Jositsch schon vor über zehn Jahren abschaffen wollte. Sein Vorstoss wurde im Nationalrat jedoch abgelehnt.

War es Betrug und Täuschung? Oder schlicht unternehmerisches Risiko? An dieser Frage wird sich auch der Fall Wägli entscheiden.

Für Staatsanwalt Ralph Ringger ist klar: «Rolf Wägli kaufte Höchstrisikopapiere ohne angemessene Gewinnchancen, die kein seriöser Vermögensverwalter für seine Kunden kaufen würde.»

Die Finanzlage seiner Firmen? «Desolat.» Die Investitionen? «Marode.» Sein Antrieb? «Egoistische Motive.» «Wägli wollte als angesehener Verwaltungsrat und Vermögensverwalter auftreten und ein entsprechendes Honorar beziehen», sagt Ringger vor Gericht.

Die Anklage fordert einen Schuldspruch wegen Veruntreuung, ungetreuer Geschäftsbesorgung, Urkundenfälschung und Betrug. Und eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren.

Wäglis Verteidiger Tobias Fankhauser verlangt dagegen in einem achtstündigen Plädoyer den Freispruch seines Mandanten, plus Genugtuungs- und Entschädigungszahlungen. «Die Staatsanwaltschaft hat das ‹System Wägli› schlicht nicht verstanden», sagt Fankhauser. «Der typische Wägli-Kunde kannte das Risiko.»

Schuld an den verlorenen Millionen, den Firmenpleiten, den wertlosen Investitionen seien andere gewesen: ein enger Mitarbeiter Wäglis, der angeblich gegen ihn intrigierte. Der restliche Verwaltungsrat der New Value, der seine eigene Haut retten wollte. Und Ölhändler John H.

«Er zerstörte das gesamte Lebenswerk von Rolf Wägli», sagt der Anwalt Fankhauser. «Um finanziell profitieren zu können, schwärzte er Wägli skrupellos an.» Ein Vorwurf, den der Vertreter von John H. als frei erfunden bezeichnet. Wer recht hat, wird das Urteil zeigen, das im Dezember erwartet wird.

Wägli selbst, der gefallene Messias, wirkt immer müder, je länger der Prozess dauert. Je länger das, was er sein «Lebenswerk» nennt, vor seinen Augen zerpflückt wird.

«Ich platze fast, weil ich etwas sagen möchte», sagt er einmal. Und antwortet dann doch auf einfachste Fragen nicht.

Was aus seinen Offshore-Firmen wurde. Wie es möglich sein soll, dass eine simple Anzeige ein angeblich grundsolides Investment-System zu Fall bringen konnte. Und wo die über 50 Millionen Franken gelandet sind, die seine Gläubiger verloren haben.

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