Sonntag, Oktober 6

Wenn jemand den amerikanischen Präsidenten dazu bewegen könnte, nach seinem verunglückten Auftritt in der TV-Debatte einem anderen Kandidaten Platz zu machen, dann wäre es die First Lady. Stattdessen verkündet sie Durchhalteparolen.

Während die Frage um die Welt geht, ob sich der 81-jährige Joe Biden nach der verunglückten TV-Debatte vor zehn Tagen aus dem Wahlkampf zurückzieht, rückt die First Lady Jill Biden in den Fokus. Denn alle aus dem Umfeld des Präsidenten sind sich einig, dass seine Frau in dieser Frage den grössten Einfluss auf ihn hat. Ebenso klar ist jedoch, dass sie – zumindest nach aussen – eisern an seiner Kandidatur festhält, mehr noch als er selbst.

Während der Präsident sich in den vergangenen Tagen gelegentlich selbstkritisch und verunsichert äusserte, scheint sie keine Zweifel zu kennen. «Joe ist der demokratische Kandidat, und er wird Donald Trump schlagen, so wie 2020», wiederholte die 73-jährige College-Lehrerin auch vor ein paar Tagen an einer Veranstaltung in Michigan unerschütterlich. Das zeugt von einer bewundernswerten und berührenden Loyalität der Frau, die seit fast fünfzig Jahren mit Biden verheiratet und mit ihm durch alle privaten wie beruflichen Höhen und Tiefen gegangen ist.

Bedingungslos einstehen für ihren Mann und die Familie

Sie heirateten 1977, nachdem Joe Bidens erste Frau und die Tochter 1972 bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. 1981 kam die gemeinsame Tochter Ashley zur Welt. 1987 bewarb sich Biden – damals Senator – zum ersten Mal um das höchste Amt im Staat, musste sich jedoch wegen Plagiatsvorwürfen zurückziehen. Im Jahr darauf kam er wegen eines Aneurysmas fast ums Leben. 2004 zeigte er erneut Ambitionen auf das Weisse Haus, aber Jill Biden war dagegen, und er verzichtete. 2008 nahm er nochmals einen Anlauf für die Präsidentschaft, stieg jedoch nach dem schlechten Abschneiden in den Vorwahlen in Iowa aus. 2015 starb sein Sohn Beau an einem Hirntumor. 2016 war er abermals als Präsidentschaftskandidat im Gespräch, musste jedoch Hillary Clinton weichen, der die Demokraten grössere Chancen einräumten. In all den Jahren kämpfte Bidens Sohn Hunter mit seiner Drogensucht und anderen Problemen, und auch ihm versuchte Jill Biden beizustehen.

Dr. Biden, wie sie von ihren Anhängern respektvoll genannt wird, hielt zu ihrem Mann und der Familie, in guten wie in schlechten Tagen. Man kann verstehen, dass das Ehepaar nun, nach so vielen vergeblichen Anläufen für die Präsidentschaft und so kurz vor einer erhofften Wiederwahl, nicht leichtfertig aufgeben mag. Man solle doch nicht wegen eines einzigen Abends vergessen, sagt Jill Biden nun immer wieder, was Joe in all den Jahren geschaffen habe. Es ist bekannt, dass sie bei seiner Entscheidung, nochmals anzutreten, eine wichtige Rolle spielte.

Eine Szene aus dem Jahr 2020 veranschaulicht ihre Haltung: An einer Wahlkampfveranstaltung in Los Angeles stürmte eine militante Veganerin die Bühne. Jill Biden stoppte die Frau eigenhändig und resolut, noch bevor sie bei Joe Biden anlangte. Die Medien lieben solche starke Frauen, die ihren Mann und ihre Familie wie Löwinnen beschützen. Selbst die derzeitige «Vogue»-Titelstory mit Jill Biden auf dem Cover bedient dieses Image. «Wir werden weiterkämpfen», verkündet sie dort. Joe und Jill Biden sehen sich offenbar als ein durch Schwierigkeiten nur noch enger zusammengeschweisstes Paar, das sich durch kein Hindernis entmutigen lässt.

Jill Bidens Verantwortung

Inzwischen stellt sich jedoch die Frage, ob Jill Biden ihrem Gatten mit dieser bedingungslosen Unterstützung nicht einen Bärendienst erweist. Wäre ihm und dem Land vielleicht besser gedient, wenn sie ihm – anstatt Durchhalteparolen zu skandieren – einen Rückzug aus dem Rennen nahelegen würde? Es geht den beiden offensichtlich darum, eine neuerliche Präsidentschaft Trump zu verhindern. Aber wie es jetzt aussieht, droht Biden mit dem Festhalten an seiner Kandidatur zu Donald Trumps Steigbügelhalter zu werden. Bedingungslose Loyalität kann gefährlich sein, langjährige Nähe zu einer verzerrten Wahrnehmung führen. Möglicherweise sieht Jill Biden wegen ihrer Zuneigung und der Gewöhnung nicht, wie schlecht es tatsächlich um Joe Bidens geistige Fitness steht.

Es gibt aber noch einen härteren Vorwurf. Wenn niemand Biden so gut kennt wie sie, wäre es in ihrer Verantwortung gestanden, schon früher auf die Risiken aufmerksam zu machen, anstatt seinen Zustand zu beschönigen und Kritiker mundtot zu machen. Mit ihrer Verschleierungstaktik hat sie den Schaden vergrössert, statt ihn abzuwenden. Nun, da sich sein gesundheitlicher Abbau nicht mehr verheimlichen lässt, ist es fast schon zu spät.

«Sie ist der ausschlaggebende Player»

Man muss nicht so weit gehen wie einige Kommentatoren, die sie als eine Art Lady Macbeth karikieren, die Shakespearesche Königin, die aus Machtgier ihren schwachen Ehemann manipuliert und hinter den Kulissen skrupellos die Fäden zieht. Es gibt kaum ernsthafte Hinweise darauf, dass Jill Biden die heimliche Strippenzieherin im Weissen Haus ist – so wie Edith Wilson, die vorübergehend die Regierungsgeschäfte übernahm, als ihr Ehemann Woodrow Wilson 1919 einen Schlaganfall erlitt.

Aber nach allgemeiner Übereinkunft wäre sie eine der wenigen, die Biden zum Rückzug bewegen könnte. «Sie ist der ausschlaggebende, wenn nicht sogar der einzige Player», zitiert die «Washington Post» eine anonyme Vertrauensperson. «Alles hängt von ihrer Beurteilung ab.»

Oft wird gesagt, auch von ihr selbst, Jill Biden interessiere sich eigentlich nicht für Politik, wenn es um Regierungsgeschäfte gehe, höre Joe Biden auf seine Berater und nicht auf seine Ehefrau. Das mag stimmen, entbindet sie jedoch nicht von einer gewaltigen Verantwortung. Denn der Entschluss, ob er weitermacht oder sich zurückzieht, ist ein privater Entscheid, den sie massgeblich mitbestimmt. Aber es ist zugleich eine Entscheidung mit politischen Konsequenzen für die ganze Welt.

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