Dienstag, Juli 22

Der Philosoph gehörte zu den scharfen Kritikern von Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Die Probleme Deutschlands und Europas hätten sich seither massiv verschärft, sagt Safranski im Gespräch.

Rüdiger Safranski zu besuchen, ist, wie in die Ferien zu fahren. Er lebt mit seiner Frau nur eineinhalb Autostunden von Zürich entfernt im idyllischen Kurort Badenweiler im Schwarzwald, und da gleich gegenüber einem prächtigen Jugendstilhotel. Der 80-jährige Philosoph hat sich in seinen Büchern über Nietzsche (2000), die Romantik (2007) oder Goethe und Schiller (2009) intensiv mit der deutschen Geistesgeschichte befasst, sich aber auch immer wieder als messerscharfer Analyst der Gegenwart in laufende Debatten eingebracht.

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Herr Safranski, zehn Jahre ist es her, dass Angela Merkel die Grenze für syrische Flüchtlinge öffnete. Sie gehörten zu den wenigen Intellektuellen, die die Willkommenskultur öffentlich kritisierten. Sehen Sie sich heute bestätigt?

Ja, natürlich. Die Politik von damals führte in Deutschland und in Europa zu epochalen politischen Verschiebungen. Überall legten die populistischen Parteien massiv zu, dass dies mit der Migration zusammenhängt, ist offensichtlich. Und nach wie vor stehen wir vor der Frage, wie hoch der Anteil von Fremdkulturen in einer Gesellschaft sein kann, ohne dass dies den Zusammenhalt gefährdet.

Was ist Ihre Antwort?

Es gibt einen Anteil, der auf jeden Fall bereichernd und ökonomisch sinnvoll ist. Wenn der Anteil zu gross wird, entsteht das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die grundsätzliche Frage «Was hält den Laden eigentlich zusammen?» traut man sich immer noch nicht zu stellen. Man hält den Zusammenhalt offenbar für eine Naturtatsache, eine Selbstverständlichkeit, um die man sich nicht eigens kümmern muss, selbst wenn sie gefährdet ist. Mich jedenfalls wundert es, dass der Laden überhaupt noch zusammenhält.

Wie viel Einwanderung aus fremden Kulturen erträgt eine Gesellschaft?

Das weiss ich auch nicht. Aber zuerst einmal muss endlich offen über diese fundamentale Frage geredet werden. Dass das nicht getan wird, weil für manche schon die Frage als fremdenfeindlich gilt, halte ich für eine abgrundtiefe Verantwortungslosigkeit. Durch den Aufstieg der AfD ist das Land nun politisch so polarisiert wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Die etablierten Parteien treiben ein bedenkliches politisches Spiel: Erst drückten sie gegen den Willen der Mehrheit ihre Migrationspolitik durch, dieses Defizit an Demokratie führte zum Aufstieg der Populisten, die man nun wiederum als verfassungsfeindlich hinstellt und zu verbieten versucht.

Sie sprechen vom Zusammenhalt. Was hält eine Gesellschaft zusammen?

In erster Linie geht es darum, dass sich die Menschen in dem Format zugehörig fühlen, in dem sie leben. Hier heisst das Format Deutschland, bei Ihnen heisst es Schweiz. Das hat mit Geschichte zu tun, mit gemeinsamer Sprache, mit Lebensgewohnheiten, mit vielen Dingen, die zur geteilten Lebenswelt gehören, mit denen man sich identifiziert, mit einem auch alltäglichen Kulturstil. Wenn es da zu Krisen kommt, muss offen darüber geredet und politisch gehandelt werden, etwa wenn das ganze Bildungssystem kollabiert, weil in manchen Bezirken 80 Prozent der Schüler nicht Deutsch sprechen. Zum Teil wird das immer noch tabuisiert.

Alle beklagen die Polarisierung. Ist eine polarisierte Gesellschaft nicht der Normalfall?

Das stimmt zu einem gewissen Grad, aber in Deutschland erleben wir gerade Aussergewöhnliches. Wenn sich die Amerikaner wie die Deutschen verhalten würden, so bedeutete dies, die Demokraten würden versuchen, die Republikaner zu verbieten. Natürlich kennt man in Deutschland den historischen Hintergrund, 1933, den Nationalsozialismus und so weiter. Aber man kann das nicht einfach auf die AfD übertragen, auch wenn in der Partei einige richtig Rechtsradikale dabei sind, wie übrigens auch bei den Linken die hartgesottenen Linksradikalen. Insgesamt ist der hohe Stimmenanteil der AfD jedenfalls nicht ein Ausdruck der Demokratiefeindlichkeit, sondern des Gefühls, dass nicht genügend Demokratie im Spiel ist, bei der Migrationspolitik oder der Energiewende oder bei der Symbolpolitik, Stichwort Gendern.

Das Hauptproblem liegt also bei der fehlenden Mitbestimmung?

Vor allem in der Migrationsfrage haben viele das Gefühl, dass über ihren Kopf hinweg entschieden wird. Deshalb wählen viele die AfD. Und dann kommt eine 15-Prozent-Partei wie die SPD und sagt, man kann sich dieses Konkurrenten entledigen, indem man ihn verbietet. Die wissen natürlich genau, dass sie mit diesem Verbot nie durchkommen werden. Aber man kann damit den politischen Gegner unter Verdacht stellen, zum Aussätzigen machen. Und das ist schon Wirkung genug.

Viele sehen heute die Demokratie in Gefahr. Auch Sie haben schon davor gewarnt. Sind unsere demokratischen Institutionen so schwach?

Man muss tatsächlich aufpassen, dass diese Warnung nicht inflationär wird. Schauen wir uns zum Beispiel die Debatte in Deutschland um die Besetzung der Richter beim Verfassungsgericht an. Das Parlament wählt die Richter. Ein Kandidat oder eine Kandidatin findet Zustimmung oder nicht. Das ist eine ganz normale demokratische Prozedur. In der Regel werden die Kandidaten aber in den Hinterzimmern vorsortiert, so dass sie ohne weitere Auseinandersetzungen gewählt werden. Jetzt haben wir ausnahmsweise einen offenen Streit über eine Kandidatin. Das ist urdemokratisch, schliesslich geht es um ein sehr bedeutendes Amt. Doch die SPD, die Grünen und ein Teil der Presse sagen, dass dies die Demokratie beschädige. Ja mein Gott, wenn nach den Regeln der Demokratie vor der Entscheidung öffentlich gestritten wird, dann ist das eine Stärkung der Demokratie und keine Schwächung! Hinter diesem Streit steckt aber eine interessante Entwicklung.

Welche?

Die Justiz und die Gerichte, insbesondere auch das Verfassungsgericht, sind in den letzten Jahren immer politischer geworden. Wichtige Teile der Politik werden juristisch geregelt und nicht mehr durch Mehrheitsentscheidungen im Parlament. Das ist ein Problem. Wir sehen das jetzt wieder bei dem Urteil, das die politisch gewollten Zurückweisungen von Migranten an der Grenze gestoppt hat. Wenn die Gerichte so politisch entscheiden, muss man sich nicht wundern, wenn es auch politische Debatten über die Besetzung dieser Ämter gibt.

Linke warnen vor dem Klimawandel und den Rechtspopulisten, die andere Seite vor der Migration und der Islamisierung. Wie stellen Sie sicher, nicht diesem Alarmismus zu verfallen?

Da muss man tatsächlich aufpassen. Aber wenn man realistisch ist, kann man schon sagen, dass in den letzten 15 bis 20 Jahren die Problemzonen gewachsen sind. Kein Wunder, wenn es knirscht in der Gesellschaft. Nehmen wir nur einmal den Angriff Russlands auf die Ukraine. Dadurch besteht faktisch auch eine Bedrohung für das Nato-Gebiet. Plötzlich gibt es in Europa ein Erwachen: Hoppla, wir sind ja ohne die USA gar nicht verteidigungsfähig! Man hat jahrzehntelang die Friedensdividende genossen, es war relativ sicher, und man konnte sich auf den amerikanischen Schutzschild verlassen. Nun erleben wir einen riesigen Feldversuch: Eine an Frieden gewöhnte, wenn man so will: verwöhnte Gesellschaft muss auf einmal wehr- und kriegstüchtig gemacht werden.

Keine einfache Aufgabe.

Die Schere öffnet sich zwischen dem, was aufgrund der geopolitischen Situation gemacht werden müsste, und der Mentalität bei der grossen Mehrheit. Mit der vorherrschenden Mentalität – das muss man wahrscheinlich so sagen – sind wir nicht verteidigungsfähig. Man darf sich diese Schere nicht schönreden, indem man sagt, eigentlich könnte es ja auch so friedlich wie bisher weitergehen, wenn man nur richtig verhandelt. Sogar Trump hat mittlerweile eingesehen, dass man mit Putin nicht erfolgreich verhandeln kann, wenn man nicht Stärke und Verteidigungswillen zeigt. Doch wie das mit unserer Mentalität gehen soll, weiss ich nicht.

Sie glauben also, die enormen Kosten für die Aufrüstung seien das geringere Problem als die Mentalität der Menschen?

Wir haben gesehen, wie wunderbar einfach man 500 Milliarden Euro zusätzliche Schulden machen kann. Man denkt, man löst das Problem durch Geld. Das ist ein Trugschluss. Angesichts der neuen Realität sprechen die Politiker nun ganz schüchtern Themen wie die Wehrpflicht an, wagen aber nicht, deutlich zu werden. Daran sieht man die Ratlosigkeit. Führte man die Wehrpflicht tatsächlich ein, würde vermutlich die übergrosse Mehrheit verweigern und lieber ein soziales Dienstjahr machen. Nichts gegen ein soziales Jahr, ich habe auch einmal eines gemacht und viel dabei gelernt. Aber das Problem der Verteidigungsfähigkeit ist damit nicht gelöst.

Braucht es für die Wehrhaftigkeit nicht auch ein Mindestmass an Patriotismus, an Heimatliebe, um diesen antiquierten Begriff zu verwenden?

Das ist so. Alle Länder im Westen haben jetzt Schwierigkeiten mit der Wehrhaftigkeit, bei uns in Deutschland verschärft sich das durch unsere nationale Neurose. Es gab ja einmal diese Losung der Grünen: «Liebe Ausländer, lasst uns mit den Deutschen nicht allein.» Natürlich muss man wissen, was man verteidigen will. Es muss einem lohnend erscheinen. Aus historisch nachvollziehbaren Gründen setzt Deutschland dabei nicht auf die nationale Komponente, sondern auf den Freiheitsraum, den es zu verteidigen gilt. Und dieser ist eher europäisch definiert. Doch das ist ein unaufrichtiges Konzept.

Weshalb?

Weil ein Land selber beweisen muss, dass es sich verteidigen will. Es gehört beim Militär zum Eid, dass man bereit ist, für das Vaterland – egal, wie man es heute nennt – notfalls sogar zu sterben. Das ist ein ziemlich unangenehmer Sachverhalt, deshalb vernimmt man davon auch nicht viel. Aber letztlich gehört diese Verpflichtung zur geistigen Grundlage einer Armee: Verteidigungswille, Mut und Opferbereitschaft. Der Mentalitätswandel, der solches zu akzeptieren bereit ist, wird noch auf sich warten lassen. Wenn es überhaupt dazu kommt.

Dass man in Deutschland lieber von einem europäischen Verteidigungsbündnis spricht als von einer nationalen Verteidigung, ist historisch nachvollziehbar. Was ist das Problem daran?

Man muss sich der Konsequenzen bewusst sein. Deutschland will nun im Namen der gesamteuropäischen Verteidigung eine Brigade im Baltikum stationieren. Vor dieser Entscheidung ziehe ich meinen Hut. Aber was bedeutet dies, sollte Russland das Baltikum angreifen? Das wäre dann ein direkter Angriff auf die dort stationierten deutschen Soldaten. Der Widerstand gegen die Stationierung ist verständlicherweise sehr, sehr gross. Aber es ist ein mutiger Schritt, die Ernsthaftigkeit des Beistandsversprechens zu unterstreichen.

Sie stehen dem europäischen Einigungsprozess kritisch gegenüber. Zeigen nicht gerade grosse Krisen, dass gemeinsames Vorgehen sinnvoll ist?

Die Erfahrung zeigt: Die EU kann bei der Agrarpolitik und in anderen Bereichen unheimlich viel regulieren, aber wenn es richtig hart auf hart geht, wenn es existenziell wird, dann sind wieder die Nationen gefordert. Nehmen wir wieder das Beispiel Ukraine. Da sagen die Spanier und die Portugiesen mit Recht, bei uns werden die Russen nicht einmarschieren. Auch für Frankreich besteht kaum Gefahr, eigentlich auch nicht für Deutschland. In Polen sieht es ganz anders aus, im Baltikum erst recht. Die existenzielle Betroffenheit der Einzelstaaten unterscheidet sich stark, das kommt in Ernstfallsituationen zur Geltung. Auch in diesem Bereich wäre Ehrlichkeit gefragt. Man müsste offen darüber nachdenken, wo man eine zentrale europäische Handlungsmacht braucht und wo die Vielfalt friedlich verbundener europäischer Einzelstaaten. Die gebetsmühlenhaft wiederholte Forderung «Mehr Europa!» verdeckt eher das Problem.

Sie leben hier an einem idyllischen Kurort im Schwarzwald und machen sich Gedanken über die Probleme der Welt. Hat diese Situation nicht etwas Zynisches?

Es mag tatsächlich zynisch klingen, aber ich empfinde die Gegenwart als ganz schön aufregend. Deutlich aufregender als die 1970er und 1980er Jahre. Biografisch war diese Zeit für mich natürlich sehr interessant, weltpolitisch weniger. Erst jetzt merkt man, wie eingefroren die Verhältnisse während des Kalten Kriegs waren, auch im Guten. Alles war viel berechenbarer. Jetzt hat man das Gefühl, die Geschichte treibe auf offener See. Das hat etwas Spannendes, etwas Herausforderndes. Aber ja, man muss aufpassen, dabei nicht Alarmismus zu betreiben. Ich gehöre nicht zu den Apokalyptikern.

Wer sind die Apokalyptiker?

Ich spreche von einer Geisteshaltung, die vor allem bei den Grünen und in der Umweltbewegung verbreitet ist und unweigerlich zur Forderung nach einem rigiden Durchgreifen des Staats führt. Wer an den Weltuntergang glaubt, hat nicht mehr die innere Freiheit, etwas auszuprobieren, sondern muss autoritär handeln. Deswegen kam es in Deutschland zu dieser vollkommen überteuerten, hoch subventionierten Energiewendepolitik, die dann doch nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Es ist eine kryptoreligiöse Bewegung.

Ein Religionsersatz?

Man merkt das auch am Sprachgebrauch, dass man jetzt bestraft wird für die Sünden, die man als Konsument begangen hat. Politische Akteure spielen sich auf wie Priester bei der Bekämpfung von Dissidenten und anderen Ungläubigen. Wir leben in einer Gesellschaft, die vollkommen entchristianisiert ist, die nicht mehr religiös ist, aber kryptoreligiös. Und die Deutschen haben ein besonderes Talent dafür. Schon der Nationalsozialismus war im Kern eine fatal-religiöse Bewegung. Auch heute noch besteht dieser unerträgliche missionarische Zug, nicht mehr im Sinne aggressiver Eroberung wie bei den Nazis, sondern im Sinne der Erlösung und Weltbeglückung.

Sie sind einer der besten Kenner der deutschen Philosophie und Literatur. Wie geht das zusammen, die schnellen täglichen Nachrichten zu konsumieren und sich daneben noch auf zeitlose, komplexe Texte einzulassen?

Ich liebe es einfach, mich in etwas zu vertiefen, zum Beispiel in ein schönes Buch. Dazu muss ich mich nicht zwingen, das ist einfach ein Bedürfnis. Zudem lese ich relativ gründlich Zeitung, verfolge die Nachrichten und recherchiere am Computer. Was ich aber nicht mache: mich dieser unendlichen Zeitverschwendung durch die sozialen Netzwerke auszusetzen.

Durch den ständigen Smartphonegebrauch klagen mittlerweile auch geübte Leser, dass sie bei schwierigen und langen Texten Konzentrationsschwierigkeiten hätten.

Bei mir ist es umgekehrt. Wenn ich längere Zeit im Internet surfe oder meine Erfahrungen mit Chat-GPT mache, lese ich danach umso genussvoller einen anspruchsvollen Text. Vom Robusten erhole ich mich am besten mit dem Subtilen.

Dass die Lesezeit und auch die Lesekompetenz bei jungen Menschen stark abnehmen, sorgt Sie nicht?

Ich kann mich schwer in Menschen einfühlen, die sich in meiner Sicht um die Hälfte des Lebensgenusses betrügen. Wie halten es diese Leute aus, ohne zu lesen? Das geht doch eigentlich gar nicht. Deswegen bin ich auch davon überzeugt, dass das Lesen nicht aussterben wird. Der Anteil derer, die dieses Glücks teilhaftig werden, wird natürlich kleiner. Ob er in absoluten Zahlen auch sinkt, wage ich nicht zu beurteilen. Wenn es heisst, die Leute könnten sich nicht mehr konzentrieren, so bereitet mir das aber schon Sorgen, nicht nur wegen des Lesens.

Sondern?

Wollen Sie sich bei einem Chirurgen unters Messer legen, der die Konzentration nicht mehr aufbringt, um ein Buch zu lesen? Wie soll er dann die Konzentration für eine Operation aufbringen? Das gilt auch für andere Berufe. Wenn ich einen pessimistischen Augenblick habe, dann denke ich manchmal, vielleicht hatte der alte Oswald Spengler ja mit dem «Untergang des Abendlandes» doch nicht ganz unrecht.

Der Philosoph Oswald Spengler beschrieb, wie eine hochentwickelte Zivilisation durch eigenes Unvermögen, man könnte auch sagen: durch Verblödung untergehen kann.

Er nannte den Prozess der Entfremdung und der Verarmung der Kultur höchst unkorrekt «Fellachisierung». Eine solche Phase gab es beim Übergang vom Römischen Reich ins Mittelalter, da verkamen zum Beispiel die Strassen, da die Wegebautechnik verlorenging. Und heute? Die künstliche Intelligenz wird immer besser und die Leute womöglich immer dümmer. Jedenfalls steigt, wie man hört, in Deutschland die Zahl der Analphabeten.

Sie schreiben gerade ein Buch über künstliche Intelligenz. Geht es da um diese «Fellachisierung»?

Nur am Rande. Und es ist eher ein Essay als ein dicker Wälzer. Der Titel lautet «Die vierte Kränkung», anknüpfend an die drei «Kränkungen der Menschheit» von Sigmund Freud. Die erste Kränkung ist nach Freud die kopernikanische, also die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist. Die zweite ist die darwinistische, dass der Mensch vom Affen abstammt. Und die dritte seine eigene Entdeckung, dass der Mensch mit seinem Bewusstsein nicht Herr im eigenen Hause ist: Er wird vom Unbewussten gesteuert. Ich meine nun, dass die künstliche Intelligenz die vierte Kränkung ist.

Worin besteht die Kränkung? Dass die Maschine bald intelligenter ist als der Mensch?

Mit dieser These bin ich gestartet. Bei der Arbeit ist mir klargeworden, dass das Kränkende etwas anderes ist: Die KI konkurriert gar nicht mit dem Bewusstsein, sie beweist vielmehr, dass intelligente, rationale Operationen ganz ohne Bewusstsein ablaufen können, und zwar ungeheuer wirkungsvoll. Man wird von jetzt an von einer dreiteiligen Ontologie ausgehen müssen. Bisher war immer klar: Es gibt das organische Leben, das sich aufgipfelt bis zum Bewusstsein. Und es gibt die Dinge, also das Anorganische. Nun gibt es noch etwas Drittes, nämlich intelligente Dinge. Maschinenintelligenz, ohne Bewusstsein. Das ist eigentlich ein ungeheurer Vorgang. Wir dachten immer, zum logischen Folgern gehört doch ein Bewusstsein. Nein! Es geht auch ohne. Dieser Aspekt des menschlichen Geistes kann maschinell ausgelagert und dargestellt werden.

Was ist genau das Bewusstsein?

Ein ungeheures Rätsel. Und das Mysterium des Bewusstseins wird grösser, je intelligenter die Maschine wird.

Kann die Maschine irgendwann ein Bewusstsein entwickeln?

Um uns die Maschinenintelligenz vertraut zu machen, projizieren wir gerne ein Bewusstsein in sie hinein. Übrigens hat der Mensch schon immer Dinge, die ihm rätselhaft oder ungeheuer vorkamen, beseelt. Einst hat er die Bäume beseelt, das Meer und die Felsen. Nun machen wir das auf hohem Niveau mit den Maschinen. Wir hauchen ihnen Leben ein, weil es sonst ein bisschen unheimlich ist, was die so alles können. Ich beobachte das auch bei mir, wenn ich Chat-GPT Fragen stelle. Nach einer Weile schleicht sich das Gefühl einer persönlichen Beziehung ein. Natürlich eine Projektion. Als ich noch Pfeifenraucher war, habe ich auch mit meinen liebsten Pfeifen geredet und war zärtlich zu ihnen.

Nehmen wir einmal an, dass die neuronalen Netze irgendwann so gut nachgebaut werden können, dass die Maschine tatsächlich eine Art Bewusstsein und ein Eigenleben entwickelt. Was passiert dann?

Dann erleben wir die ironische Wiederholung einer alten Geschichte. Gott hat den Menschen geschaffen und ihm die Freiheit als sein kostbarstes Gut anvertraut. Der Mensch hat diese Freiheit genutzt, um Gott abzuschaffen. Dies könnte sich nun wiederholen: Der Mensch hat die künstliche Intelligenz geschaffen, und nun macht die künstliche Intelligenz den Menschen überflüssig. Dann widerfährt dem Menschen genau das, was Gott widerfahren ist. Ganz so weit wird es wohl nicht kommen. Aber es empfiehlt sich aufzupassen.

Rüdiger Safranski und seine Frau Gisela haben an ihrem Wohnort im Schwarzwald die Badenweiler Literaturtage initiiert. Dieses Jahr finden sie vom 9. bis zum 12. Oktober statt: www.badenweiler-literaturtage.de.

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