Dienstag, November 26

Der Geschichtsunterricht ist unter Beschuss. Warum ist es so schwierig, ihn zu retten? Anschauungsunterricht im Zürcher Kantonsparlament.

Wenn der Sekundarlehrer Christoph Ziegler über das Geschichtswissen seiner Schülerinnen und Schüler spricht, wird Geschichtsinteressierten angst und bange. «1291, der Rütlischwur – das ist für sie ein Fremdwort», sagt er. 1848, das Gründungsdatum des modernen Bundesstaats: «Drei Viertel verlassen die Sekundarschule, ohne je davon gehört zu haben.»

Ziegler ist seit 35 Jahren Lehrer, bald geht er in Pension. «Wenn sie aus der Primarschule kommen, wissen die Kinder heute weniger über Geschichte als früher», sagt er. Und in der Sekundarschule werde es immer schwieriger, diese Lücke zu schliessen.

«Das Fach Geschichte hat Lektionen verloren», sagt Ziegler, der in der Zürcher Gemeinde Elgg unterrichtet. Bei ihm seien es im Schnitt noch 1,5 pro Woche – «und das, obwohl es in der Sek insgesamt immer mehr Schulstunden gibt».

Andere Fächer – vor allem im Mint-Bereich – profitieren, die Geschichte verliert: Mit diesem Eindruck ist Ziegler nicht allein. Geschichtslehrer, Fachverbände und Forschende beklagen seit Jahren das Ende der Geschichte, zumindest was deren Stellung in der Schule angeht.

Wegen Lehrplan 21 mit Geografie zusammengelegt

Eine Auswertung von zwei Forscherinnen im Auftrag der Deutschschweizerischen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik zeigt: Durch die Einführung des Lehrplans 21 sank die Anzahl Geschichtslektionen schweizweit um neun Prozent. Das Fach – mit der Geografie zusammengelegt – heisst nun «Räume, Zeiten, Gesellschaften».

Auch in den Gymnasien droht mit der Umsetzung der jüngsten Maturareform eine Reduktion des Geschichtsunterrichts.

Peter Gautschi, Professor an der Pädagogischen Hochschule Luzern, fasste diesen Niedergang unlängst so zusammen: «Der Geschichtsunterricht ist in der Krise. Er wurde zurückgedrängt zugunsten von Naturwissenschaften und Sprachen.»

Sogar in der Lehrerbildung ist Geschichte kein eigenständiges Fach mehr, das Wissen der Lehrpersonen ist entsprechend lückenhafter als früher. Ziegler kennt das aus seinem Alltag als Lehrer. «Meine jüngeren Kolleginnen und Kollegen schwimmen, wenn es um die Vorbereitung des Geschichtsunterrichts geht», sagt er. «Ich werde auf nichts anderes so häufig angesprochen: Was soll ich durchnehmen? Wo beginnen?»

Die Vorgaben im Lehrplan 21 seien diesbezüglich viel zu unklar. «Es fehlt ein Katalog von historischem Basiswissen, über das am Ende alle verfügen müssen», sagt Ziegler. Stattdessen: schwammige Ziele, die kaum zu erreichen seien.

Etwa die Vorgabe, dass Schülerinnen und Schüler «Phasen der europäischen Einigung aufzählen und dabei die Position der Schweiz charakterisieren» können müssten. «Dafür brauchte ich zwanzig Lektionen, die ich nicht habe», sagt Ziegler. Und zwar, weil er bei null beginnen müsse: «Viele kommen zu mir und wissen nicht, warum Leute aus Lausanne Französisch reden – sie denken, das sind Franzosen.»

«Durcheinander» statt zeitliches Nacheinander

Der Geschichtsunterricht ist der Verlierer einer pädagogischen Entwicklung, die die Lehrpläne in den vergangenen Jahrzehnten umgekrempelt hat wie keine andere: der Kompetenzorientierung. Statt dass ein – oftmals durch stupides Pauken erstellter – Wissenskatalog im Zentrum steht, dreht sich der Unterricht um die Fähigkeiten, die Schülerinnen und Schüler erlernen sollen.

Für die Geschichte heisst das: Statt chronologisch durch die Weltgeschichte zu wandeln, werden beispielhaft Themen bearbeitet, anhand deren Fähigkeiten wie Quellenanalyse oder das Verständnis politischer Prozesse erlernt werden. «Armut und Reichtum» etwa oder «Krisenherde».

Den Effekt beschrieb der Gymnasiallehrer Mario Andreotti kürzlich so: «Die Vorstellung vom zeitlichen Nacheinander weicht einem Durcheinander, in dem es keine Epochen mehr gibt.»

Der Sek-Lehrer Ziegler betont, er sei nicht gegen die Stärkung von Kompetenzen. «Aber um etwas zu können, muss man zuerst etwas wissen.»

Was also – ausser zu jammern – wäre zu tun gegen den gefürchteten Abstieg der Geschichte zum schulischen Randfach? Die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG) fordert die Etablierung eines eigenständigen Fachs Geschichte an Sekundarschulen. Der SGG-Generalsekretär Flavio Eichmann spricht von einer «dringend notwendigen Aufwertung».

Christoph Ziegler wiederum sieht die kantonalen Bildungspolitikerinnen und -politiker in der Pflicht – und damit auch sich selbst.

«Sonst stehen die Turnlehrer auf»

Ziegler sitzt nämlich für die GLP im Zürcher Kantonsparlament und hat dort am Montag eine lebhafte Debatte zum Geschichtsunterricht an Sekundarschulen angezettelt. Unter dem Motto «Geschichtsinteressierte aller Parteien, vereinigt euch» argumentierte eine bunte Koalition für die staatspolitische Bedeutung des Fachs.

Livia Knüsel (Grüne) nannte historisches Wissen «in ethischem Sinn essenziell». Rochus Burtscher (SVP) forderte, dass die Pädagogische Hochschule Zürich Geschichte wieder als eigenständiges Fach behandle. Und Barbara Franzen (FDP), Historikerin und Schulleiterin, sprach von einer «ernüchternden» Haltung der Zürcher Regierung.

Die Haltung? Im Grunde genommen gar keine.

Die Bildungsdirektorin Silvia Steiner (Mitte) betonte im Parlament zwar, wie wichtig ihr das Fach Geschichte sei. Für dessen Gewichtung sei jedoch weder die Kantonsregierung noch das Kantonsparlament zuständig, sondern ein eigens dafür eingesetzte Expertinnengremium: der Bildungsrat.

«Wir wollen keine politischen Debatten zu jedem einzelnen Fach», sagte Steiner. «Sonst stehen in der nächsten Debatte dann einfach die Geografie- und die Turnlehrer auf.»

Die Kritik der FDP-Frau Franzen, sie weiche auf Formalismen aus und verweigere sich der Debatte, konterte Steiner prompt. Es sei das Kantonsparlament, das die Mitglieder des Bildungsrats wähle und dessen Aufgaben festlege. «Wenn Sie die Lektionentafeln anpassen wollen, müssen Sie eben den Bildungsrat abschaffen.»

Lehrer ohne Ausbildung

Einen wunden Punkt traf Steiner auch, als sie auf die unausweichlichen Konsequenzen einer Erhöhung der Anzahl Geschichtslektionen hinwies: Man müsste woanders sparen oder die Schulzeit verlängern – beides wäre politisch kaum durchzusetzen. Sie bestritt ausserdem, dass der Lehrplan 21 überhaupt zu Kürzungen beim Geschichtsunterricht geführt habe.

Was sie nicht sagte, jedoch in schriftlichen Antworten auf einen Fragenkatalog von Ziegler zugab: An Zürcher Sekundarschulen unterrichten auch Lehrpersonen Geschichte, die dafür gar keine Ausbildung haben – zwar nur ausnahmsweise und maximal für ein Jahr. Aber trotzdem: Die Kritiker fühlten sich bestätigt. Vor allem, weil die Bildungsdirektion nicht einmal weiss, wie viele Laien-Lehrer es sind.

Es fehlten sinnvolle Erhebungen, kritisierte Ziegler. Nicht nur bei den Lehrpersonen, sondern auch bei den Schülerinnen und Schülern. «Niemand weiss, was unsere Schulkinder über Geschichte wissen.»

Am Ende der Debatte entschieden wurde übrigens: nichts. Das Gerangel über Zuständigkeiten, die Unwilligkeit, über Kürzungen bei anderen Fächern zu sprechen, und die byzantinischen Strukturen des föderalen Bildungswesens («Dafür sind andere zuständig!») machen den Kampf gegen das Ende der Geschichte schwierig.

«Alle sind für mehr Geschichte», fasst es der SGG-Generalsekretär Eichmann zusammen, «aber die Reform scheitert wieder und wieder an technokratischen Gremien und Prozessen.»

Und vielleicht kommt da noch eine spezifische Schwäche von Historikerinnen und Historikern dazu: Sie kritisieren gern und diskutieren mit Verve, historische Analogien inklusive. Aber wenn es darum geht, frühzeitig eine Schulreform in die eigene Richtung zu lenken, fehlt ihnen – bei allem Wissen – das nötige strategische Können. In Schulkreisen würde man sagen: die Kompetenz.

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