Dienstag, November 26

Geschichte macht die Schülerin zur Staatsbürgerin, den Schüler zum Staatsbürger. Doch das Streichen von Lektionen und Schulreformen bedrohen den Unterricht.

Kein Satz über die Bedeutung von historischem Wissen wird so oft zitiert. Kein Satz ist so häufig leeres Geschwätz.

«Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.» Das hat der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl 1995 gesagt. Es ist ein kluger Satz. Umso trauriger, dass er zur Floskel geworden ist.

Er wird in Zahnarztheften zitiert, auf der Website des Tourismusortes Saas-Fee oder jener des Südtiroler Energieverbandes. Und kürzlich deklamierte ihn, in abgewandelter Form, auch Silvia Steiner (Mitte), die Zürcher Bildungsdirektorin und oberste Schulvorsteherin der Schweiz.

«Geschichte ist wichtig», sagte sie. «Nur wenn wir wissen, woher wir kommen, können wir unsere Gegenwart verstehen und unsere Zukunft gestalten.»

Tönt schön, tönt wahr. Nur tut die Schweizer und Zürcher Bildungspolitik seit Jahren alles andere, als diesem Diktum nachzuleben.

Kahlschlag

Geschichte als Schulfach schrumpft – die Lektionenzahl ist mit der Einführung des Lehrplans 21 um 10 Prozent eingebrochen. Das Fach verliert im Unterricht und in der Lehrerbildung an Bedeutung. In der Sekundarschule wurde es mit der Geografie fusioniert, unter dem Namen «Räume, Zeiten, Gesellschaften». Auch bei der Umsetzung der jüngst beschlossenen Maturareform droht ein Kahlschlag.

Dahinter steckt ein grösserer Trend. Die pädagogischen Reformen der letzten Jahrzehnte – Kompetenzorientierung, Individualisierung, Fokus auf Naturwissenschaften – unterlaufen nach und nach den Kernanspruch des Fachs: den Schülerinnen und Schülern ein geteiltes Wissen über die eigene Vergangenheit zu vermitteln.

Geschichtslehrerinnen und -lehrer schlagen seit Jahren Alarm – nur scheint keiner so richtig hinzuhören.

In Zürich war es am Montag wieder so weit: Im Kantonsparlament warnte der GLP-Politiker Christoph Ziegler vor der Verarmung des Geschichtswissens, die er als Sekundarlehrer beobachtet. Drei Viertel der Schülerinnen und Schüler verliessen die Schule, ohne je von 1848 gehört zu haben, dem Gründungsjahr der modernen Schweiz. Und 1291, der Rütlischwur? «Ist für sie ein Fremdwort.»

Nun kann man sich fragen, ob das ein Skandal ist – ist ja alles googelbar. Viel wichtiger als Wissen sind doch ohnehin Fähigkeiten, die berühmten Kompetenzen.

Blöd ist nur, dass ohne einen Grundstock an historischem Wissen die besten Analyse- und Lesekompetenzen nichts nützen. Und dass es beim Geschichtsunterricht um mehr geht als um individuelle Fähigkeiten: Es geht darum, ein Verständnis der eigenen Vergangenheit zu entwickeln – der Werte, Erfolge und Verbrechen, die sie prägten. Das also, was einen zum Staatsbürger, zur Staatsbürgerin macht.

Denn nur wer die Vergangenheit kennt, kann auch die Gegenwart . . . – aber das wissen Sie ja schon.

Faule Ausreden

Früher war dabei längst nicht alles besser. Der Geschichtsunterricht diente bis vor wenigen Jahrzehnten der Perpetuierung glorifizierter, fiktionaler und meist langweiliger Erzählungen über die Einzigartigkeit der Schweiz.

Es ist gut, dass das heute anders ist. Debatte und Streit über Bedeutung und Interpretation des Früher müssen im Zentrum eines guten Geschichtsunterrichts stehen. Dass Geschichte global und vernetzt ist und sie nur verstehen kann, wer über die Nation hinausblickt – das müssen die Schulkinder von heute lernen.

Aber dafür braucht es Zeit und Ressourcen. Und es braucht Politikerinnen und Politiker, die der Geschichte wieder jenen Platz geben, der ihr gebührt. Als eigenständiges Fach mit genug Lektionen.

Das grösste Hindernis auf diesem Weg ist die Bildungsbürokratie. In Zürich etwa heisst es von der Regierung, man könne an der Stellung des Geschichtsunterrichts nichts ändern, weil ein Expertengremium dafür zuständig sei.

Eine faule Ausrede: Wer gestalten will, der kann es auch.

Schöne Helmut-Kohl-Zitate helfen dagegen wenig. Vor allem wenn sie noch nicht einmal von ihm stammen. Der konservative Kohl hatte seinen Sinnspruch nämlich abgeschrieben. Er stammt vermutlich von August Bebel, einem Sozialisten.

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