Bald könnte ein Rechtspopulist mit Sympathien für Russland das EU-Land mit der sechstgrössten Bevölkerung regieren. Was bedeutet das für Europa?

«Geografie ist unerbittlich», sagt Sorin Ionita und seufzt. Ionita ist Chef der NGO Expertforum und einer der renommiertesten Politbeobachter Rumäniens. Als Rumäne fühlt er sich wieder einmal als Spielball im Ringen der Weltmächte. Russland soll sich in den Wahlkampf eingemischt haben, auch die USA halten sich nicht mit Kommentaren zurück, und dann ist da noch die EU, die um die Stabilität an ihrer Ostflanke fürchtet.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Rumänien war immer gefangen zwischen verschiedenen Imperien, Osten und Westen. Heute markiert es die Nato-Ostgrenze, im Norden die Ukraine, im Osten das Schwarze Meer. Und ausgerechnet jetzt könnte ein Mann zum Präsidenten gewählt werden, der lange als Freund der Russen gegolten hatte, vielleicht immer noch ist, auch wenn er während des Wahlkampfs versucht hatte, diesen Eindruck zu zerstreuen.

Noch nie hat es in Rumänien ein Kandidat der extremen Rechten an die Spitze des Staates geschafft. Beobachter sagen, die Präsidentschaftswahl am Sonntag sei eine Richtungswahl, die Zukunft Rumäniens stehe auf dem Spiel. Ist das übertrieben?

Alle bisherigen Wahlen galten immer als die jeweils wichtigsten – aber tatsächlich entsteht ein Gefühl von Steigerung. Die Wahl am Sonntag ist besonders, weil sich der gesamte globale und europäische Kontext verändert hat.

Der Favorit, George Simion, ist ein Nationalist, der sich aus dem Ukraine-Konflikt heraushalten will – was Russland in die Hände spielt. Im Wahlkampf hat er sich nun als Trump-Anhänger präsentiert, der sich an den USA orientieren will. Wie würde ein Präsident Simion das Machtgefüge am Schwarzen Meer verändern?

Simion ist ein opportunistischer Faschist, der in vielen Fragen – auch im Hinblick auf die Ukraine – mehrfach seine Position geändert hat. Seine Haltung jetzt rationalisieren zu wollen, ist sinnlos. Und genau diese Unberechenbarkeit erzeugt Unsicherheit und schwächt Rumäniens Ansehen bei seinen Partnern.

Simion und seine Partei AUR haben Verbindungen zur extremen Rechten in Rumänien. Wie gefährlich ist das für den rumänischen Staat und seine Institutionen?

Sie sind die extreme Rechte. Es gibt derzeit niemanden wirklich Relevanten, der politisch noch weiter rechts steht. Und wie bei jeder populistisch-fundamentalistischen Bewegung besteht die Gefahr, dass sie die demokratischen Mechanismen nutzen, um an die Macht zu kommen – und sie danach abbauen.

Wie konnte Rumänien an diesem Punkt in der Geschichte landen?

Dazu muss man zurückschauen. Es gab fast in ganz Osteuropa nie echte progressive Bewegungen. Das zeigte sich bereits im vergangenen Jahrhundert in den Zwischenkriegsjahren, wo man überall diese «Bottom up»-Bewegungen hatte, die extrem rechts waren. In Rumänien war es in den 1930er Jahren die Eiserne Garde, auch als Legionäre bekannt . . .

. . . eine ultranationalistische faschistische Bewegung, die sozialistische Ideen mit Religion und Antisemitismus kombinierte.

Genau. Extrem mystisch, extrem ländlich geprägt, weil das auch die Struktur der Gesellschaft war. Dann folgte eine kurze sowjetische Besetzung und dann die Ceausescu-Diktatur, die sich ideologisch in den späten 1970er Jahren erschöpft hatte. Als Ceausescu sich nach einer neuen Legitimation umschaute, bediente er sich der Rhetorik und der Werte dieser rechtsextremen Zwischenkriegsbewegung der Eisernen Garde. Ideologisch gesehen war Ceausescu in den 1980er Jahren eigentlich ein Nationalsozialist.

Ein kommunistischer Diktator als Nazi?

Es war ein nationalistisch-sozialistisches Regime, das den Konflikt mit Minderheiten schürte, die ungarische Minderheit unterdrückte und antisemitische Ideen bediente. Nicht ganz offen, aber es war alles in den Publikationen des Regimes enthalten. Und nicht nur dort: Wenn Sie Zeitungen aus den 1980er Jahren durchgehen, liest sich das gleich wie Zeitungen in den 1930er Jahren.

Ceausescu schottete Rumänien ab, er schuf ein Gefühl von: Wir sind auf uns allein gestellt.

Jeder verschwört sich gegen uns. Die Ungarn natürlich. Sowieso, die Russen. Es war antisowjetisch, antirussisch. Der Ultranationalismus, den diese neuen Parteien – auch die AUR um Simion – jetzt bedienen, war schon damals angelegt.

Ausser dass die Beziehung zu Russland bei der AUR und Simion komplexer ist.

Tief in der Gesellschaft hat eine grosse Skepsis gegenüber allem Russischen überlebt. Aber es gibt nun ein neues Phänomen. Und das ist das Georgescu-Phänomen.

Calin Georgescu war der rechtsextreme, prorussische Verschwörungstheoretiker, der im November überraschend den ersten Wahlgang gewonnen hatte in Wahlen, welche anschliessend annulliert worden waren.

Ja. Wobei diese prorussische Gesinnung nicht typisch ist, die Rumänen sind immer noch misstrauisch gegenüber Russland. Anders etwa als in den Nachbarländern Bulgarien oder Slowakei, die am ehesten prorussisch eingestellt ist. Wir hier sind ungebildet: Wir können die kyrillische Schrift nicht lesen, wir lernten nie Russisch. Es ist wie eine Alien-Zivilisation für uns. Zugleich hat Georgescu aber antiwestliche Ressentiments geschürt.

Ist das Wahlresultat auch Ausdruck einer falschen Nostalgie?

Es gibt in Rumänien grosses Potenzial für Desinformation, wenn es um die eigene Geschichte geht. Im Geschichtsunterricht während der Diktatur lernten wir beispielsweise nichts über den rumänischen Holocaust. Es war kein Thema, dass wir Rumänen unsere Juden in ein Konzentrationslager pferchten, von unseren Soldaten Pogrome begangen wurden. Marschall Antonescu, der dieses mit den Nazis verbündete Regime geführt hatte, wurde Anfang der 1990er Jahre von einer Gruppe Intellektueller zu einem Helden im Kampf gegen den Kommunismus gemacht. Er wurde eine mythologische Figur, und in einem gewissen Sinn bediente sich nun auch Georgescu dieses Mythos.

Wie tut er das?

In Zeiten der Krise suchen Menschen nach einem starken Halt. In Rumänien, wie in vielen osteuropäischen Ländern, die von wiederkehrenden Umbrüchen geprägt sind, gibt es eine langjährige Tendenz, nationalistische Mythen wiederzubeleben. Diese Erzählungen vermitteln ein Gefühl kollektiver Sicherheit. In der Folge wird Geschichte selektiv gelesen, und eine problematische Vergangenheit wird rehabilitiert und ausgeschmückt, um den Bedürfnissen der Gegenwart zu dienen.

Georgescu und nun auch Simion und die AUR führten ihren Wahlkampf auf Social Media. Was macht die Rumänen so empfänglich für ausgerechnet diese Plattformen?

Rumänien hat die höchste Tiktok-Durchdringung in ganz Europa, wenn wir aktive Accounts pro Kopf betrachten. Und zwar in jeder Altersgruppe. Auch die Alten in den Dörfern haben Tiktok. Wir sind keine lesende Gesellschaft, wir waren schon immer und sind bis heute eine mündliche Gerüchtegesellschaft. Tiktok ist Video-Content, man kann darüber mit den Nachbarn reden, die Videos selbst sind wie Gerüchte, Kürzestgeschichten. Tiktok ist wie gemacht für uns.

Sie beobachteten auf Tiktok auch eine Art Nostalgie für die Ceausescu-Diktatur.

In diesem Winter gab es eine intensive Nostalgie-Kampagne mit Memes im Stil des sozialistischen Realismus, die aussahen wie die Propagandaplakate aus dem Stalinismus, die eine idyllische Sowjetunion zeigten. Das funktionierte enorm gut bei den Jungen, die sich dachten: Ach, wie schön, schau, biologischer Anbau, lass uns unsere eigenen Tomaten ziehen, wieso von den grossen Supermarktketten kaufen, wenn man es selber machen kann. Dazu kam dann die Kritik an der EU und den Globalisten, die diese Idylle zerstört hätten.

Das klingt so, als ob Georgescu die Globalisierungskritik genutzt und mit nationalistischen Ideen kombiniert hat.

Genau. Georgescu kam und hat den bestehenden Hass auf Grosskonzerne, Big Oil, Big Pharma, Banking und diese Supermarktketten, die die traditionellen Bauern ausbeuten, ausgenutzt. Georgescu, auch wenn man seine Auftritte anschaut, wie er zu den Leuten spricht, welche Andeutungen er macht, ist eigentlich eine Art New-Age-Prophet.

Calin Georgescu wurde von den Wahlen ausgeschlossen, nun hat George Simion im ersten Wahlgang fast die Hälfte der Wähler erreicht. Ist er einfach ein Statthalter Georgescus?

Ja, das ist er – oder besser gesagt, sein Nachfolger. In dem Sinne, dass er sich sehr bemüht, in Georgescus Fussstapfen zu treten und dessen Wählerbasis zu übernehmen. Was ihm bislang grösstenteils gelungen ist.

Was verbindet ihn mit Georgescus Ideen?

Abgesehen von der gemeinsamen Wählerbasis: eine gefälschte Biografie mit ungeklärten Lücken und sehr wahrscheinlich illegale Unterstützung aus den dunklen Ecken des Staates – einschliesslich der Geheimdienste.

Das klingt düster.

Schauen Sie, die ganze Bewegung, der die Partei Simions entstammt, ist konstruiert und muss den Schutz obskurer Institutionen gehabt haben. Sie starteten 2012 mit Protestmärschen, in denen sie die Vereinigung der Moldau mit Rumänien forderten, im ganzen Land, sie organisierten Sommerlager, Lager das ganze Jahr über mit Hunderten junger Menschen, weitere Protestmärsche – bis heute ist nicht geklärt, woher Simion und Co. das Geld dafür hatten.

Neue Recherchen zeigen, wie George Simion zu Beginn seiner Politkarriere von einflussreichen Neolegionären, also rumänischen Neofaschisten, Unterstützung erhielt. Sie sagen aber, Geheimdienste, Netzwerke aus verschiedenen Geheimdiensten, spielten eine Rolle.

Für westliche Ohren klingt das wie paranoide Verschwörungstheorien. Wenn Sie sich aber die Lebensläufe der hohen Politiker anschauen, sehen Sie, dass alle in irgendeiner Form zumindest an der Akademie der Geheimdienste studiert oder Kurse besucht haben. Die Geheimdienste sind in allen wichtigen Branchen aktiv, sie versuchen, in der Politik mitzumischen und eigene Kandidaten zu pushen. Das grosse Glück Rumäniens ist, dass wir verschiedene Geheimdienste haben mit internen Fraktionen, die sich gegenseitig bekämpfen. Es ist also nicht Ungarn, wo alles von oben genau kontrolliert wird. Es ist sehr chaotisch.

Simion hat TV-Debatten gemieden und sich kritischen Interviews verweigert. Auf Facebook hat er seine Anhänger darauf eingestimmt, dass die Wahlen gestohlen werden könnten und es einen «Maidan» brauche. Wie autoritär sind Simion und die AUR-Partei?

Das ist eine Fortsetzung von Georgescus Strategie aus dem Herbst 2024 – oder Trumps Strategie: Verachtung für Mainstream-Medien und die Bevorzugung des direkten Drahts zum Volk, sprich: sozialer Netzwerke.

Wie ernst muss man diese Drohungen und die ganze rechtsextreme und ultranationalistische Bewegung nehmen?

Sehr ernst. Der rumänische Staat hat ihr lange nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Wir hätten Gesetze dagegen, gegen die Holocaustleugnung beispielsweise. Aber sie wurden nicht richtig durchgesetzt. Jetzt haben sich diese Neolegionäre, also die rumänischen Neonazis, wenn Sie so wollen, teilweise in geschlossene Gruppen zurückgezogen. Aber sie waren Teil des Georgescu-Ökosystems, das ihm zum Sieg in den im November aberkannten Wahlen verholfen hat. Nun versuchen sie dasselbe bei George Simion.

Exit mobile version