Dass in Auschwitz auch Polen nichtjüdischer Herkunft umkamen, geht gern vergessen. Dazu passt, dass viele polnische Auschwitz-Zeugnisse kaum bekannt sind, etwa «Anus Mundi» von Wieslaw Kielar, ein Bericht, der fast die gesamte Existenzzeit des Lagers abdeckt.
Was bleibt von der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am Ort des Geschehens in Erinnerung? Dass in erster Linie nicht Prominenz aus Politik und Kultur zu Wort kam, sondern dass die Überlebenden sprachen? Dass sie alle im Hinblick auf die Gegenwart mahnten, aus der Geschichte zu lernen und sich jeder Form von Hass und Gewalt, Menschenfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenzustellen?
Vermutlich beides, nur wirkten die Äusserungen um einiges eindringlicher und verzweifelter als sonst, weil das Weltgeschehen ständig mehr Gründe liefert, an den Abgründen des Menschlichen zu verzweifeln. Und weil es diesmal nur noch fünfzig Personen waren, die das Grauen von Auschwitz selber erfahren und überlebt hatten, weswegen es noch dringlicher erscheint, alles, was diesen Archipel des Grauens ausmachte, dokumentarisch festzuhalten.
Mann der ersten Stunde
Umso mehr erstaunt es, dass ein Buch, das solches in eminentem Masse leistet und dessen deutsche Neuausgabe Ende 2023 bei S. Fischer erschienen ist, ohne grosse Beachtung zu finden, immer noch so gut wie unbekannt ist: «Anus Mundi» des polnischen Autors und Filmemachers Wieslaw Kielar.
Kielar traf am 14. Juni 1940 mit dem ersten Transport von 728 polnischen politischen Häftlingen in Auschwitz ein und verbrachte dort die nächsten viereinhalb Jahre seines Lebens. Somit wurde er Zeuge der gesamten Geschichte des Vernichtungslagers, all seiner Phasen, seiner stabilen und seiner dramatischen Momente, der Tiefe seiner Schrecken.
Als wollten ihm seine deutschen Peiniger beistehen, möglichst viele Beweise ihrer Verbrechen zu sammeln, hielten sie Kielar nacheinander in allen wichtigen Teilen des riesigen Lagerkomplexes gefangen: im Stammlager Auschwitz I, einem ehemaligen Kasernengelände zuerst der habsburgischen und dann der polnischen Armee; im Lager Auschwitz II Birkenau, dem Schauplatz der industriellen Massenvernichtung; im Nebenlager Auschwitz III Monowitz, wo sich das Buna-Werk der IG Farben und andere Industriewerke befanden; und im Aussenlager Harmense.
Da der Gefangene Kielar auf dieser Odyssee verschiedene Arten von Zwangsarbeit verrichten musste – er war Bauarbeiter, Installateur, Tischler, Schreiber, Krankenpfleger, Leichenschlepper und mehr – sowie wechselnde Funktionen innehatte, wurde er zu einem signifikanten Teil der Geschichte von Auschwitz. Selbst die tiefe Nummer 290, die ihm bei seiner Ankunft eintätowiert wurde, besitzt gewissermassen eine historische Bedeutung, weil das Datum, an dem sein Transport aus dem südpolnischen Tarnow in Auschwitz eintraf, heute als Zeitpunkt der Inbetriebnahme des Lagers gilt. Kielar war ein Opfer der ersten Stunde.
Für Wieslaw Kielar, der mit knapp 21 Jahren ins Lager kam, war vor allem das, was er zu Beginn erlebte, ein Schock: der Hunger, die Misshandlungen, die vielen Demütigungen, die ihn psychisch brechen sollten, der erste, schon am dritten Tag nach der Ankunft miterlebte Tod eines Mithäftlings. Daraus wurde eine harte Schule, die ihn in seinem Entschluss bestärkte, um keinen Preis unterzugehen.
Was folgte, waren systematische Selektionen und Massenerschiessungen, der Bau und Betrieb der Gaskammern und Krematorien, die Tötung der Kranken und sadistische medizinische Experimente. Ein Albtraum, der ihn zwang, seinen Kampf ums Überleben jeden Tag fortzusetzen und die permanente Nähe des Todes möglichst zu ignorieren. Es gab um ihn herum nicht wenige Mitgefangene, die vormachten, wie das ging, ohne dass dabei die Moral und das Gewissen, das Selbstwertgefühl und die Solidarität auf der Strecke blieben.
Später, bei der Niederschrift seines Buches, sollte Kielar besonders darauf achten, auch die menschliche Seite des Lageralltags und damit die ganze Bandbreite des Verhaltens in extremen Situationen zu zeigen, und zwar sowohl unter den Häftlingen als auch unter den SS-Männern, die meist zynisch, grausam und brutal vorgingen, manchmal aber auch humane Regungen zeigten.
Hin und wieder vermengten sich die Emotionen wild, etwa dann, wenn ein frischer Judentransport eingetroffen war und die Baracken von «Kanada», wo die Habseligkeiten der Angekommenen sortiert wurden, sich mit neuen «Reichtümern» füllten. «Es machte gar nichts», so Kielars Erinnerung, «dass die Krematorien rauchten, dass in den mit Vergasten gefüllten Gräben menschliches Fett im Feuer brannte. Das Lager hatte genug zu essen! Das Lager atmete auf, weil die mit den Transporten beschäftigten betrunkenen SS-Männer nicht viel Interesse für die im Lager Lebenden zeigten. Sie suchten nach Gold und stopften sich damit die Taschen voll. Sie sicherten ihre Zukunft. Die Arbeiter und Häftlinge von Kanada taten das Gleiche.»
Der Rauch über Birkenau
An eminenten polnischen Zeugnissen von Auschwitz mangelt es nicht. Eine ähnlich moralisch indifferente Welt, in der es keine klare Trennung von Opfern und Tätern gibt, in der jeder alles tut, um zu überleben, findet sich bei Tadeusz Borowski. Nur dass dieser einen Schritt weiter geht, indem er in seinen Auschwitz-Erzählungen sämtliche Akteure in ein böses Licht rückt und einen Ton anschlägt, in dem sich Lakonie und Zynismus mit scheinbarer Einwilligung in alle Ungeheuerlichkeiten vermischen, die im Lager vor sich gehen.
Wieslaw Kielar dagegen bemüht sich, sachlich und präzise zu bleiben, die Dinge so zu schildern, wie sie gewesen sind. Damit steht er Seweryna Szmaglewska nahe, der Verfasserin des Berichts «Die Frauen von Birkenau» (2020 bei Schöffling erschienen), die dreissig Monate im Lager verbrachte und sich nach ihrer Befreiung und Heimkehr im Februar 1945 sogleich ans Schreiben machte.
Zeugnis abzulegen, empfand Szmaglewska als eine Art Selbsttherapie. Auch hatte sie das Gefühl, es ihren ermordeten oder immer noch im Lager oder auf Todesmärschen gepeinigten Mitgefangenen schuldig zu sein. Ihr Buch, das bereits Anfang Dezember 1945 in den polnischen Buchhandlungen auslag, ist ein sorgfältig komponierter, detaillierter Bericht über das Leben in Birkenau, der auf eigenen Erlebnissen, aber auch auf den Erzählungen anderer Gefangenen basiert. Durchgehend legt Szmaglewska Wert auf die Form, so dass ein bekannter polnischer Kritiker befand, es handle sich weder um einen Roman noch um eine persönliche Erinnerung noch um eine Reportage.
Mit der Einordnung von «Anus Mundi», das auf Polnisch 1972 erschien und dessen deutsche Erstausgabe von 1979 sich der Tatsache verdankt, dass Wieslaw Kielar mehrmals in Frankfurt bei den Auschwitz-Prozessen durch die Staatsanwaltschaft befragt wurde, hätte der Kritiker wohl keine Schwierigkeiten gehabt. Denn Kielar verleiht seinen Aufzeichnungen zwar romanhafte Züge, indem er das Geschehen in vielen kurzen, an Filmsequenzen erinnernden Kapiteln erzählt, aber er schreibt auch konsequent in der Ich-Form und unter Verwendung seines Namens, womit er alle Zweifel ausräumt, dass es sich um einen Erlebnisbericht handelt.
«Anus Mundi», den Titel, hatte Kielar aus Auschwitz mitgebracht: Der Ausdruck stammte von dem SS-Arzt Hauptsturmführer Heinz Thilo. Mit dem Begriff bezeichnete dieser das Lager im September 1942, nach einer Selektion im Frauentrakt, bei der achthundert Häftlinge ins Gas geschickt wurden. Womit er, wie der polnische Psychiater Antoni Kepinski später befand, «einerseits die Abscheu und das Entsetzen ausdrückte, die dieses KZ-Lager in jedem Beobachter hervorrief, andererseits aber die Existenz des Lagers mit der Notwendigkeit einer Weltreinigung begründete».
Im Geiste von Witold Pilecki
Was Auschwitz betrifft, gibt es in Polen eine Empfindlichkeit darüber, dass international oft zu wenig Beachtung findet, dass auch unzählige nichtjüdische Polen im Lager umgebracht wurden. Ein Versuch, diesbezüglich einen Akzent zu setzen, kam bei der Gedenkfeier in der Rede des polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda zum Ausdruck. Duda verstand sich als Bewahrer der Erinnerung im Geiste von Witold Pilecki. Dieser legendäre Offizier liess sich freiwillig in Auschwitz einsperren, um für den polnischen Untergrund Informationen über das Lager zu sammeln. Ronald Lauder dagegen, der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, fokussierte in seiner Ansprache auf die Vernichtung der Juden und den weltweit eskalierenden Antisemitismus der Gegenwart.
Was bleibt vom «Anus Mundi»? In seinem Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe fragte sich der Publizist Mieczysaw Kieta, für wen Wieslaw Kielar sein Buch denn geschrieben habe: Für sich selber, für die Mithäftlinge, für seine ganze Generation, für die der Krieg existenzprägend war? Oder vielmehr für die nachkommenden Generationen, deren Vorstellungen von Auschwitz zwangsläufig hinter einer «Barriere» bleiben würden, «die nicht zu überwinden ist»? Heute würde Kieta möglicherweise noch hinzufügen: Für alle, die wohl wissen, was Auschwitz war, und denen doch bleibend bewusst ist, dass die entsetzlichen Verbrechen, die an diesem Ort begangen wurden, sich nicht fassen lassen.