Sonntag, November 24

Antworten liefert ein Selbstversuch auf dem österreichischen Weitwanderweg Nockberge-Trail sowie wissenschaftliche Studien.

Die Ährige Teufelskralle ist ein feiner Snack. Ihre Blüten wachsen in den Nockbergen in Kärnten auf Hüfthöhe, man muss nur die Hand ausstrecken, während die Beine tapfer den steilen Anstieg hochmarschieren. Die Pflanze mit dem klangvollen lateinischen Namen Phyteuma spicatum schmeckt ein wenig wie mild-würziger, grüner Spargel. Wichtiger jedoch ist ihre entspannende Wirkung, die Teil des persönlichen Glücksrezeptes auf dieser Weitwanderung ist. Beim Wandern lässt man ja angeblich die Sorgen im Tal, entfernt sich nicht nur örtlich von dem Stress, den der Job und heutzutage sogar die Freizeitgestaltung mit sich bringen, sondern auch mental.

Es gibt Wissenschafter, die Wandern gar als Antidepressivum anpreisen. Zu ihnen gehört Reinhold Fartacek, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie und ehemals ärztlicher Direktor des Uniklinikums Salzburg. Er untersuchte vor sieben Jahren die Auswirkungen des Wanderns auf suizidgefährdete Personen und stellte fest, wie sich Selbstwertgefühl und «erlebte Freude» der Teilnehmer steigerten. Gemäss der Studie nahm der Grad der Depression ab, die Ängstlichkeit reduzierte sich bedeutend. Wandern beugt demnach sogar einer Burnout-Erkrankung vor. Andere Untersuchungen aus Innsbruck belegen: Mehrtägige Wandertouren erzeugen eine signifikante Verbesserung der psychischen Gesundheit, die auch Wochen später noch anhält. Weitere Forscher halten fest, dass regelmässige ausdauernde Bewegung in der Natur den Grad der Anspannung nachdrücklich senkt, weil der Wanderer das Stresshormon Cortisol abbaut.

Stimmt es wirklich, dass Wandern wie eine Wunderpille wirkt? Dieser Frage sind wir wortwörtlich nachgegangen. Und so viel sei verraten: Runterkommen beim Raufgehen funktioniert. Aber anders als gedacht.

Nockberge-Trail: acht Tage wandern

Das Gepäck wird zur nächsten Hütte transportiert

Wer glaubt, man müsse nur die Wanderstiefel schnüren und ein paar Berge erklimmen, um entspannt und sorgenfrei zurück ins Tal zu kommen, der denkt nicht weit genug. Es gehört mehr dazu, wie der Selbstversuch zeigt, der uns nach Österreich und in die Nockberge führt, wo sich ein Weitwanderweg mit acht Etappen durch eine eigentümliche, ja erstaunliche Bergwelt schlängelt. Die Wege führen bis auf 2300 Meter, die höchsten Gipfel der Nockberge, die sich durch die österreichischen Bundesländer Kärnten, Salzburg und Steiermark ziehen, kratzen sogar an der 2500-Meter-Marke. Und dennoch handelt es sich um ein Mittelgebirge mit sanft geschwungenen Hügeln, runden, grasigen Kuppen fast gänzlich ohne Felsen und Zacken, dafür mit viel Charme.

Aus mehrerlei Gründen haben wir die Nockberge für unseren Trip gewählt. Man braucht Kondition, aber keinerlei Kletterkenntnisse. Zudem kann man einen Gepäcktransport buchen. Dieser bringt die Tasche von Hütte zu Hütte, am Rücken klebt nur ein Tagesrucksack mit Regenjacke und Reiseproviant. Mit uns dabei ist sogar ein Ranger, schliesslich durchqueren wir einen Biosphärenpark, in dem die Natur einen hohen Stellenwert geniesst. Wir laufen also stets dem Guide hinterher und müssen keine Karte hervorkramen und uns Gedanken machen, ob es bei der nächsten Abzweigung nach links oder nach rechts geht, ob wir diesen oder jenen Gipfel erklimmen. Kurzum: Wir brauchen uns um nichts zu kümmern und können uns voll auf unser Ding konzentrieren. Wandern und dabei maximale Entspannung erlangen.

Ein weiterer Grund für die Entscheidung pro Nockberge war auch ein unscheinbares Pflänzchen mit weissen, kelchartigen Blüten, das ein wenig an ein Frauenschuhgewächs erinnert. Tatsächlich handelt es sich beim Echten Speik (Valeriana celtica) um eine Pflanze aus der Gattung der Baldriane, die bekanntlich beruhigend wirken. Nur leider ist es so, dass man den Speik, der nur noch hier in den Nockbergen und ein paar angrenzenden Tälern vorkommt, nicht pflücken darf. Lediglich zwei Bauernfamilien aus der Region dürfen ihn samt Wurzeln während zweier Wochen im August ausgraben. Dass diese danach an ein grosses Unternehmen in Deutschland gehen, das daraus Pflegeprodukte macht, verwundert dann doch.

Alpenpflanzen mit beruhigender Wirkung

Als Wanderer geht man jedenfalls leer aus. Das war schon vor der Reise klar, jedoch waren wir der Meinung: In einer Region, in der die letzten Pflänzchen des Echten Speiks wachsen, müssen auch andere, beruhigende Gewächse gedeihen. Wenn man Wandern als Antidepressivum testet, kann es sicher nicht schaden, nebenher eine natürliche Beruhigungspille zu kauen oder ein Naturgebräu aufzusetzen, das Entspannung verspricht. Und so sammeln wir fleissig, was der Berg hergibt.

Sichten wir am Wegrand eine Teufelskralle, schnabulieren wir sie. Wir naschen auch frische Fichtentriebe, schlagen uns durch die Heidelbeeren und pflücken Bergthymian und Irisch Moos, die wir am Abend in der Hütte als Tee aufkochen. Darunter sind jetzt auch Pflanzen, denen keine Anti-Stress-Wirkung zugeschrieben wird. Aber für uns ist schon am ersten Tag klar: Die intensive Beschäftigung mit der Natur, die Frage, was essbar ist und welche mögliche Wirkung eintreten kann, sorgt während des Wanderns für Ablenkung, Entspannung, Freude. Wenn wir wieder ein neues Pflänzchen finden, bei dem uns der Ranger die Heilsamkeit bei Husten, Magenbeschwerden oder Hautreizungen bestätigt, lächeln wir wie kleine Kinder, die zum ersten Mal mit ihren Eltern im Wald sind, um Pilze zu sammeln, und von der Mutter oder vom Vater für einen tollen Fund gelobt werden.

Yoga am Laussnitzsee

Ebenfalls noch am ersten Abend beschliessen wir, in den Bergen zu meditieren. Vor ein paar Wochen bereits haben wir zu Hause von uns aus ausgelotet, welche Entspannungsarten uns zusagen.

Wir sind bei Yoga hängengeblieben, befinden uns aber noch auf dem Niveau, wo lediglich Figuren der Kategorie Katze und Kuh möglich sind. Auch die Erfahrungen mit autogenem Training waren positiv. Dabei schliesst man die Augen und lässt sich mantraartig von einer Stimme vorbeten, dass man jetzt «gaaaanz ruhig» wird, sich die Arme «gaaaanz warm» anfühlen, und entflieht schliesslich in Gedanken an einen kleinen Bergsee. Da passt es perfekt, dass wir auf einen solchen treffen. So liegen wir also für zwanzig Minuten am Laussnitzsee, während uns die Stimme im Kopfhörer Entspannungssätze vorsäuselt.

Weitere eigene Entspannungsübungen führe ich auf knapp 2000 Metern Höhe durch. Auf dem Priedröf, dem höchsten Punkt von Etappe sechs. Wie die meisten der Nockberge ist er flach und grasig. Hier muss niemand um einen Ruheplatz unterm Kreuz kämpfen. Wir haben eine riesige grüne Spielwiese für Katze, Kuh und andere Entspannungsfiguren zur Verfügung und können dabei auch noch den phantastischen Rundumblick geniessen. Im Nordwesten thronen die mächtigen Tauerngipfel, die das ganze Jahr über Weiss tragen. Aus der anderen Richtung grüssen die Julischen Alpen, wo die kräftige italienisch-slowenische Sonne längst allen Schnee weggefressen hat.

Das viele Grün trägt zur Entspannung bei

So bauen wir vormittags und nachmittags je eine Entspannungseinheit ein. Zu Hause hatten wir bereits erste positive Effekte verspürt. Aber die Berge, das Grün, der Ausblick, die Ruhe wirken wie ein Katalysator. Das Abschalten fällt einfach leichter, wenn im Nebenzimmer keine Kinder toben und man nicht extra das Telefon ausstöpseln muss, nur um einmal zwanzig Minuten Ruhe zu haben vor dem Chef oder einem Kollegen, die ungeduldig auf Arbeitsergebnisse warten.

Dass beruflicher Stress krank machen kann, ist keine neue Erkenntnis. Dass auch die Freizeitgestaltung zur mentalen Belastung führt, ist ein Phänomen unserer heutigen modernen Gesellschaft, die auf extremem Medienkonsum, ständiger Erreichbarkeit und Likes für jeden Schwachsinn fusst. Mittlerweile hat sich dafür ein englischer Fachterminus etabliert: «fear of missing out», oder kurz: Fomo. Es handelt sich dabei um die Angst, etwas zu verpassen. Ständig muss etwas Neues passieren, alles muss schnell über die Bühne gehen.

Laut dem Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt hat sich die Aufmerksamkeitsspanne auf maximal zwei Stunden reduziert. Kein Film, kein Theaterstück, kein Ausstellungsbesuch dürfe länger dauern. «Wird es länger, macht es die Menschen nervös, sie haben das Gefühl, Zeit zu verschwenden», hat Reinhardt in einem Interview mit dem «Stern» erklärt. Er zieht den Vergleich zu einem Alltag in einem Kasino in Las Vegas. Die Maschinen dudeln, die Münzen klimpern, die Roulettekugel rattert über die Zahlen. Wer jetzt verschwindet, könnte den Jackpot verpassen. Dabei verpasst er sein Leben.

Die Klarheit von Ameisen hat Vorbildcharakter

Zurück auf den Trail, wo wir uns mittlerweile nicht nur bücken, um an Pflanzen zu schnuppern. Ein Ameisenhaufen, den die kleinen, fleissigen Tiere an einen stattlichen Lärchenstamm getürmt haben, beschäftigt uns mehr als zehn Minuten. Die Ameisen schleppen Fichtennadeln kreuz und quer über ihren Bau. Jede scheint zu wissen, was sie wo abliefern muss. Eine für alle, alle für eine. Beim Betrachten grübelt man darüber, warum es mit den Kollegen letzte Woche nicht geklappt hat. Mehr Zusammenhalt, konkrete Absprachen, klare Arbeitsaufträge – und viel Frust, Ärger und Stress blieben allen erspart. Wir machen eine Ausnahme, ziehen das Handy aus dem Rucksack, das eigentlich nur für Notfälle gedacht war, denn die Wandertour ist auch als digitale Diät angelegt. Schnell ein Foto vom Ameisenhaufen. Zu Hause wollen wir es als Profilbild bei Whatsapp hinterlegen. Mal schauen, ob uns ein Kollege darauf anspricht und wir es schaffen, die Brücke vom Ameisenbild zum Arbeitsalltag zu schlagen.

Wir befinden uns in der sogenannten Naturzone des Biosphärenparks, die den höchsten Schutzstatus geniesst. Der Mensch soll hier möglichst wenig eingreifen. Die Regeln sind nicht ganz so krass wie in einem Nationalpark, wo man oftmals nicht einmal die Wege verlassen darf. Im Biosphärenpark steht der Mensch im Vordergrund. Er soll sich aber gemeinsam mit der Natur entfalten. So dürfen Bauern zum Beispiel ihre Rinder auf den Berg treiben, die Weiden enden aber spätestens an der Naturzone. Und dort ist dann auffällig viel «Unordnung», die Natur ist sich grösstenteils selbst überlassen. Man sieht viele umgestürzte Baumstämme, Totholz, das voller Leben ist. Ohrwürmer wuseln unter dem Moos, Spinnen hangeln sich durch ihre Netze, Hundertfüssler treffen auf Tausendfüssler, Ameisen krabbeln über Maden, Würmer haben es sich in den Flechten gemütlich gemacht. Bis der Baumstamm überwuchert oder zerfallen ist, können hundert Jahre vergehen. Hundert Jahre, in denen er Lebensraum für wahrscheinlich hunderttausend Tiere ist. Wer in solch grossen Dimensionen denkt, kommt vielleicht zu dem Schluss, wie klein und unbedeutend unsere Alltagsprobleme eigentlich sind, die uns immer wieder aufs Neue stressen.

Gustav Mahler komponierte nach Wanderungen

Dabei hat der Mensch, oder zumindest einzelne Individuen, schon vor längerer Zeit erkannt, wie wohltuend Natur, Berge und Wandern wirken. Der österreichische Komponist Gustav Mahler, der im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts lebte, ging stets bergauf, wenn es mit seiner Stimmung bergab ging. Die Berge verschafften ihm auch neue Kraft für Kreativität. «Ich brauche für meine innere Bewegung die äussere», bezeugte er einst in einem Brief. Stücke wie «Das himmlische Leben» schrieb der Komponist im Anschluss an eine Wanderung. Mahler war am liebsten allein unterwegs, versuchte Begegnungen mit Gleichgesinnten so gut es ging zu vermeiden. Vornehmlich tourte er durch das heutige Südtirol. Es lassen sich keine Quellen finden, die belegen, dass er in den Nockbergen auf Wanderschaft war.

Mahler hätte gewiss Gefallen gefunden am Nockberge-Trail, denn vor allem die drei neuen Tagesetappen, die vor kurzem hinzukamen, verdienen das Prädikat «einsam». Bei unserem Trip Anfang Juli sind wir auf den Hütten teilweise die einzigen Gäste, auch am Wochenende. Bei Etappe zwei begegnen uns während der sieben Stunden, die wir unterwegs sind, gerade einmal zwei andere Wanderer. Die Pfade, wie beim steilen Waldaufstieg zum Priedröf, sind nicht ausgetrampelt, vielmehr kitzeln das Gras und die Halme bis hoch zu den Knien. An manchen Tagen müssen wir den Rucksack mit Wasser und Zwischenverpflegung vollpacken, weil keine Hütte und keine Alp, die hier Alm heisst, auf dem Weg liegt. Manche sehen das als Nachteil, wir als Vorteil. Wir haben den ganzen Tag Ruhe, gehen in unserem eigenen Tempo und kommen nicht in Versuchung, uns von schnelleren Gruppen mitreissen oder von langsameren anstecken zu lassen.

Auf der letzten Etappe, so ehrlich muss man sein, ist dann doch ziemlich viel los. Kein Wunder, bewegen wir uns doch auf einem Panoramaweg oberhalb des Millstätter Sees, wo am späten Nachmittag unser Zieleinlauf sein wird. Bei einer Pause nehmen wir unsere Sammelbox hervor, studieren die einsortierten Heilpflanzen und erinnern uns an die aufgebrühten Tees auf den Hütten und die Pflanzen-Snacks auf dem Weg. Die Gedanken schweifen noch einmal zu den Gipfeln und Bergseen, die für uns phantastische Meditationsorte waren. Noch nie haben wir uns so intensiv mit der Natur beschäftigt – und mit uns selbst. Wir haben nicht nur ein Gebirge durchschritten, sondern auch einen Prozess durchlaufen. Alltagsprobleme sortiert, Stressfaktoren analysiert und Strategien entwickelt, wie wir dem täglichen Ärger in Zukunft begegnen wollen. All das ist bei einer längeren Auszeit in der Natur möglich. Deswegen kann Wandern Wunder wirken.

Die Reise wurde unterstützt von Kärnten Tourismus.

GUT ZU WISSEN

Nockberge-Trail: Achttägige Weitwanderung

8 Etappen mit 128 Kilometern und rund 6500 Höhenmetern. Start ist am Katschberg (Salzburger Land), der Grossteil der Tour verläuft durch Kärnten. Es gibt auch einen Abstecher auf die Turracher Höhe (Steiermark). Tagesetappen mit bis zu 22 Kilometern / 1200 Höhenmetern. Wer will, kann auch nur einzelne Etappen laufen; Gepäcktransport und Transfers sind entsprechend buchbar. Ebenso Wanderführer oder Ranger. Je nach Etappe erfolgt die Übernachtung in Schutzhütten/Almen oder in Hotels im Tal.
Infos: www.nockberge.at

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