Samstag, Oktober 12

Die Dokumentation über russische Soldaten an der Front konnte beim Zurich Film Festival nicht öffentlich gezeigt werden. Es gab offenbar Drohungen. Aber die Jury könnte den Film prämieren.

107 Filme standen auf dem Programm. Gezeigt wurden 106. Mit einem Film weniger als geplant geht morgen Sonntag das 20. Zurich Film Festival (ZFF) zu Ende.

«Russians at War», die kontroverse Kriegsdokumentation über russische Soldaten an der Front, konnte nicht vorgeführt werden. Aus Sicherheitsgründen, wie das ZFF verlautete. Der Film verblieb aber im Dokumentarfilm-Wettbewerb: Die Jury durfte ihn sehen. Damit signalisieren die Festivalmacher, dass sie an ihrer Auswahl festhalten.

Nun könnte «Russians at War» am Samstagabend mit einem Goldenen Auge ausgezeichnet werden. Der Brite Kevin Macdonald, der die Jury präsidiert, ist schwer einzuschätzen: Macdonald, ein Vielfilmer, interessiert sich für die unterschiedlichsten Themen.

Zuletzt stellte er in Venedig die Beatles-Dokumentation «One to One: John & Yoko» vor. Neu im Streaming gibt es ausserdem ein Porträt von ihm über den Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko («Klitschko: More Than a Fight»). In Interviews zum Klitschko-Film hat sich Macdonald klar proukrainisch positioniert.

Aber das muss nicht heissen, dass er «Russians at War» ablehnt. Der Film, der mit französischem und kanadischem Geld entstanden ist, ist keine Putin-PR. Auch wenn die kanadisch-russische Regisseurin, Anastasia Trofimowa, bis 2020 für den Propagandasender Russia Today gearbeitet hat. Für dessen Dokumentarfilm-Abteilung war sie als Kriegsreporterin in Kongo, im Irak und in Syrien.

Kein Vergleich zu Riefenstahl

«Russians at War» zeigt nun Russlands Krieg. In all seiner unsäglichen Sinnlosigkeit. Der Film ist erschütternd. Nichts daran ist glamourös, von der Stimmungsmache einer Leni Riefenstahl ist Trofimowa weit entfernt. Als Rekrutierungsvideo taugt «Russians at War» schon gar nicht. Etliche der Protagonisten, denen man im Verlauf von 129 Minuten begegnet, sind am Ende verstümmelt oder tot.

Der Film fängt mit Ilja an. Es ist Ende 2022. Als Väterchen Frost verkleidet, sitzt der Mann in der Moskauer Metro. Unter dem Kostüm trägt er seine Militär-Uniform. Trofimowa spricht ihn an.

Ilja ist kein Russe. Er ist Ukrainer. Er stammt aus der Region Luhansk, die 2014 teilweise von prorussischen Separatisten eingenommen und 2022 von Russland annektiert wurde. Ilja sagt, dass er in den Kämpfen alles verloren habe. Er plappert Putins Propaganda von einem Bürgerkrieg nach.

Nun ist Ilja auf Heimaturlaub, in Moskau besucht er seine Familie. Er solle lebend wiederkommen, sagt zu Hause die kleine Tochter. «Bitte auch nicht verwundet.» Dann verabschiedet sich Ilja zur Truppe. Trofimowa reist ihm hinterher.

180 Kilometer hinter der Front warten die Soldaten darauf, dass man sie in die Schlacht schickt. Um da aufzufüllen, wo die Kollegen gefallen sind. Die Männer sind Kanonenfutter. Als sie an die Front gerufen werden, rückt Trofimowa mit ihnen vor. Laut eigener Aussage ist sie ohne Genehmigung unterwegs.

Vor dem Krieg war die kanadisch-russische Regisseurin auch für amerikanische Netzwerke tätig, belieferte diese teilweise mit regimekritischem Material. Wie man hört, ging sie dabei recht weit. Während manche Beobachter ihre Version anzweifeln, hält es ein Journalist, der ihr seinerzeit begegnet ist, für plausibel, dass sie sich ohne Bewilligung an die Front vorgewagt habe.

Angeblich sieben Monate verbringt Anastasia Trofimowa im Gefecht. Vor allem mit einer kleinen Gruppe von Sanitätern scheint sie unterwegs gewesen zu sein. Unter ihnen auch zwei Frauen.

Ihr Tun blieb vom Regime kaum unbeobachtet. Wer sich monatelang bei den Truppen aufhält, wird registriert. Aber womöglich stellten sich die Überwacher einen anderen Film vor. Trofimowa zeigt den Krieg ungeschönt. Militärisch machen die Russen einen schlampigen Eindruck, alles wirkt unübersichtlich, unkoordiniert.

«Kriegsverbrechen? Kann nicht sein»

Orientierung bietet auch die Montage von Trofimowa kaum. Aber das trägt zur Beklemmung bei. Einmal sitzt man mit einer Gruppe von Soldaten und Zivilisten in einem Unterschlupf, immer näher kommen die Einschläge. Trofimowa hält die Kamera stoisch auf die Menschen in Todesangst, sie kommentiert nicht.

Aber sie beobachtet nicht nur, sie interagiert auch. Etwa mit Witali, Mitte dreissig, Koch. Zum Zyniker geworden, sagt er, von der Front komme man nur mit den Füssen voran wieder nach Hause. Andere äussern ihren Unmut über ausgelaufene Verträge, der Sold steht aus. Einmal schaut ein Soldat von seiner russischen Zeitung auf: «Alles Propaganda», sagt er. Dann liest er weiter.

Es gibt auch die Verblendeten. Der junge Mann namens Cartoon, Anfang zwanzig: Trofimowa fragt ihn, was er über die russischen Kriegsverbrechen denke. Er reagiert verwundert. Kriegsverbrechen? Von Russen? Cartoon kann sich das nicht vorstellen. «Warum sollten Russen so etwas tun?»

Die Szene hat Trofimowa viel Kritik eingetragen. Indem sie die Aussage ohne Widerspruch stehenlasse, würde sie diese legitimieren. Aber Trofimowa tritt nicht an, die Soldaten zu belehren. Oder gar zu bekehren.

Im Cinéma Vérité, an dem sich die Filmemacherin orientiert, wird nichts erklärt. Sondern die Anwesenheit des Filmemachers führt bei den Protagonisten zur Irritation, die überraschende, wahrhaftige Momente erzeugt. Exemplarisch dieser Moment, der die Verirrungen eines jungen russischen Soldaten veranschaulicht.

Andere Szenen sind eher diskutabel. Was etwa bezwecken Bilder, die beim Gang durch die Ruinen einer zerbombten ukrainischen Stadt Hakenkreuz-Schmierereien einfangen? Wird hier suggeriert, dass sich der Krieg, wie von Putin behauptet, gegen ukrainische Nazis richte? Trofimowa würde antworten, dass sie diese Swastikas nun einmal so vorgefunden habe. Aber wer hat sie gesprayt?

Oder in der fragwürdigsten Szene des Films zeigt ein Soldat ein Handyvideo: Darin schiesst mutmasslich eine ukrainische Kampfdrohne mehrfach auf einen wehrlosen russischen Soldaten. Wieso zeigt die Filmemacherin das? Weil der Soldat es ihr gezeigt hat, wäre vermutlich ihre Entgegnung. Nun mag der Moment so stattgefunden haben. Aber das allein rechtfertigt seine Anwesenheit im Film nicht. Noch der um grösste Objektivität bemühte Dokumentarfilm entwickelt durch die Auswahl des Materials eine subjektive Färbung. Hier hat der Film eine prorussische Schlagseite.

Stossend ist auch, dass nie Verantwortlichkeiten benannt werden. Niemand ist Täter. So erweckt Trofimowa den Eindruck, dass der Krieg fast schicksalhaft über lauter Unschuldige gekommen sei. Slawischer Fatalismus drückt durch. Kino der antiaufklärerischen Sorte.

Aber Anastasia Trofimowa ist keine Putin-Versteherin. In Interviews hat die Regisseurin, die Russland nach dem Dreh verlassen hat, den Krieg klar verurteilt. Auch an den russischen Kriegsverbrechen hegt sie keine Zweifel. Sie sieht sich als Anti-Kriegs-Reporterin. Ihr Anliegen ist es, zu zeigen, dass Krieg überall Verheerung anrichtet. Dass auch russische Soldaten Menschen, mehr noch: Opfer sind.

Daran ist nichts falsch. Nur weil man Mitgefühl mit einem Russen hat, ändert das nichts an der noch viel grösseren Anteilnahme für die angegriffenen Ukrainer. Mit dem Film entlässt Trofimowa die Soldaten auch nicht aus der Verantwortung: Manche der Männer sind selbstverschuldet in ihrer Situation, andere befinden sich aus weniger freien Stücken an der Front. Der eine ist ignorant, der andere indoktriniert: Schuld hat viele Facetten.

Ukrainische Botschafterin interveniert

Von einer Ukraine im Krieg kann man kaum verlangen, dass sie für solche Ambivalenzen offen ist. Dass Kiew gegen die Dokumentation mobil macht, ist grundsätzlich verständlich. In Toronto war es der ukrainische Generalkonsul, der den Boykott des Films forderte. Auf X schrieb das ukrainische Aussenministerium, dass das ZFF seinen Ruf nicht ruinieren solle. Laut der «Weltwoche» wurde die ukrainische Botschafterin in Bern, Irina Wenediktowa, bei Ignazio Cassis’ Aussendepartement (EDA) vorstellig.

Das Zurich Film Festival, das der NZZ gehört, aber von der Redaktion unabhängig ist, äussert sich nicht zu den Vorgängen. Vermutlich haben sowohl offizielle Stellen als auch radikale Aktivisten die ZFF-Mitarbeiter behelligt. Wie bereits in Toronto gab es in Zürich wohl Gewaltandrohungen gegen die Veranstalter.

Wo der Film auftaucht, dasselbe Muster. Zuletzt wurde «Russians at War» beim Festival in Athen abgesagt. Auch hier hatte man plötzlich Sicherheitsbedenken. Wenn gleich drei Veranstaltungen einknicken, muss man davon ausgehen, dass die Bedrohungslage ernst ist. Offenbar operieren gut vernetzte, radikale ukrainische Aktivsten. Trotzdem ist es irritierend, dass es nicht möglich sein sollte, das notwendige Sicherheitsdispositiv aufzuziehen. Oder ist es einfach eine Kosten-Nutzen-Rechnung?

Den Veranstaltern in Zürich fiel der Entscheid nicht leicht. Auch als öffentlicher Druck aus Kiew kam, haben sie an dem Film festgehalten. Doch ein Nachgeschmack bleibt. Nicht zuletzt, weil sich die Verantwortlichen nicht äussern. Dass sie die ukrainische Drohkulisse nicht konkret benennen, befremdet. Das erinnert an den Reflex, den Hintergrund von Gewalttätern auszublenden, weil er der falschen politischen Seite in die Hände spielen könnte.

Bei aller Sympathie für das kriegsversehrte Land: Wenn es zutrifft, dass von ukrainischen Akteuren eine Schweizer Kulturveranstaltung mit Gewaltandrohungen gegängelt wurde, muss das diskutiert werden. Dann muss sich auch das Zurich Film Festival, das sich gerne als Hüterin gegen die Cancel-Culture bezeichnet (Polanski, Winnetou), wehren. Vielleicht wäre das Beste, was dem Festival jetzt passieren könnte, ein mutiger Jury-Entscheid.

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