Donnerstag, Oktober 10

Im nordwestlichsten Winkel Usbekistans steht ein Museum der Superlative. Der Gründer Igor Sawizki war ein Kunstfanatiker. Mit Mut und List rettete er in der Sowjetzeit Zehntausende als entartet deklarierte Werke aus Moskau und Leningrad in ein Kaff im Nirgendwo.

Verlängert man die Perlenkette der bekannten usbekischen Seidenstrassenstädte – Samarkand, Buchara, Chiwa – im Geist nach Westen, gelangt man in das wenig bekannte Nukus. Anders als ihre schönen Schwestern ist die Stadt aber nicht etwa für ihr orientalisches architektonisches Erbe aus der Zeit der letzten Emire und Khane bekannt.

Eingezwängt zwischen den drei Wüsten Karakum, Kysylkum und Aralkum ist Nukus, der Hauptort der autonomen usbekischen Region Karakalpakstan. Die sozialrealistische Plattenbaustadt besteht aus überdimensionierten Plätzen, breiten, schnurgeraden Strassen und abweisenden Monumentalbauten. Einer dieser phantasielosen Paläste beherbergt das bedeutendste Museum für russische Avantgardekunst ausserhalb St. Petersburgs – einen in Bilderrahmen gebändigten Rausch an Farben und Formen. Dass die einst verpönten und heute heissbegehrten Werke in dieser völlig abgelegenen Weltgegend Schutz und Heimat fanden, verdankt sich der Leidenschaft, der List und dem langen Atem des Kunstsammlers Igor Sawizki.

Eine ökologische Katastrophe

Das moderne Nukus wurde, als Usbekistan noch Teil der Sowjetunion war, wie so viele Retortenstädte, im Zug des planwirtschaftlichen Aufbruchs aus dem Boden gestampft. Hier wohnten die Ingenieure und Arbeiter der riesigen Baumwollplantagen, die auf Befehl Lenins entlang des Flusses Amudarja angelegt worden waren. Die usbekische Baumwolle hatte nicht nur die Sowjetunion, sondern den ganzen Ostblock einzukleiden. Entsprechend intensiv war der Anbau. Noch immer ist die Gegend von kilometerlangen ausgebaggerten Kanälen zernarbt, durch die das Wasser des Amudarja auf die Felder geleitet wurde.

Vom einst mächtigen Fluss ist wegen der jahrzehntelangen Übernutzung nur noch ein Rinnsal übrig. Der Aralsee, den er früher speiste und der vor fünfzig Jahren noch eineinhalbmal so gross war wie die Schweiz, ist zu salzstarrenden Pfützen geschrumpft. Und die aus den Monokulturen ausgeschwemmten Herbizid- und Düngerrückstände verteilt der staubige Wüstenwind über Tausende Kilometer und bläst sie in die Strassen von Nukus, wo die Menschen krank werden.

Feingeistiger Wortakrobat

Welcher Kontrast zu der Harmonie zwischen Mensch und Natur, die Igor Sawizki 1950 vorfindet, als er, ein Kunststudent aus Moskau, eine archäologische Expedition als Zeichner nach Karakalpakstan begleitet. Er verliebt sich auf Anhieb in die Ruhe, die aride Landschaft und die zoroastrisch und nomadisch geprägte Hirtenkultur. Der Schöngeist aus gutem Haus lässt sich im provinziellen Nukus nieder und beginnt karakalpaksches Kunsthandwerk zu sammeln.

Alsbald überzeugt er den lokalpatriotischen Gouverneur, ein kleines Museum für seine Sammlung zu bauen, und verkauft die Idee den geldgebenden Behörden in der usbekischen Hauptstadt Taschkent als identitätsstärkend und völkerverbindend im sowjetischen Sinn. Wer das ideologisch verbrämte Proletarierlatein beherrschte, konnte den oft wenig kunstsinnigen Apparatschiks zuweilen ein Schnippchen schlagen. Sawizki beschränkt sich in der Folge nicht darauf, traditionelle Teppiche, Schmuck und Kleider zusammenzutragen und zu dokumentieren, sondern er kauft auch Werke moderner lokaler Künstler, die er als Mentor nach Kräften fördert.

Nukus liegt im nordwestlichsten Zipfel Usbekistans

Seine Leidenschaft als Sammler und Kunstpädagoge und die Liebe für das Unkonventionelle, aus der Freiheit Geborene lenken seine Aufmerksamkeit immer mehr auch auf die damals noch geächteten russischen Künstler der 1920er Jahre. Bald nach der Oktoberrevolution von 1917 wurde, wer sich nicht dem sowjetischen Kunstdiktat unterwarf, als entartet diffamiert.

Aus Angst vor Repressionen, dem Gulag oder gar dem Tod vernichteten viele Avantgardisten ihre experimentellen, expressionistischen und primitiven Skizzen, Ölbilder und Aquarelle oder versteckten sie in modrigen Kellern und auf Dachböden, wo sie zerbröckelten. Sawizki macht es sich, im Wissen um ihre künstlerische Bedeutung, zur Aufgabe, diese Zeugen einer nachrevolutionären, vorübergehend liberalen Zeit für die Nachwelt zu erhalten.

Ein Monument der Rebellion

Er reist mit Koffern und Kisten per Zug oder mit dem Auto immer wieder die 3000 Kilometer nach Leningrad und Moskau, klappert dort die Witwen und Kinder der oft schon verstorbenen Künstler ab und kauft alles, was sie herzugeben bereit sind. Ist er gerade knapp bei Kasse, stellt er ihnen Schuldscheine aus. Sein geschultes Künstler- und Sammlerauge wählt aus den verborgenen Schätzen nicht nur die Highlights, sondern ganze Ensembles, die den Werdegang der Künstler dokumentieren. In Nukus hängen die Bilder heute thematisch oder zeitlich gruppiert, mal eng beisammen, mal grosszügig als Solitäre an den weissen Wänden, und halten Zwiesprache über eine Zeit des Aufbruchs und der vielen Möglichkeiten.

Die dunklen, gesellschaftskritischen Gemälde und Karikaturen, die die staatlichen Inspektoren der Bolschewiken bei ihren gelegentlichen Visiten stutzig machen könnten, benennt Sawizki kurzerhand um: Bilder mit Arbeitskolonnen im Gulag zum Beispiel gehen dann als Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiter durch und bourgeoise Ausschweifungen wie Bälle und Jazzkonzerte als dekadente Aberrationen einer parasitären Elite. Heute dienen diese absurden verbalen Versteckspiele den Führerinnen im Museum als willkommene Anekdoten.

Das wohl bekannteste Werk der Sammlung, der blaue diabolische Stier von Wladimir Lysenko, dessen schwarze Augen an Schusslöcher gemahnen und der als Allegorie auf das Vorrücken des Faschismus gedacht war, war jedoch nicht nach dem Geschmack der damaligen Gutachter, und Sawizki musste ihn abhängen. Kaum waren die ungebetenen Besucher weg, prangte das Ölbild aber so wie noch heute wieder an seinem Platz.

Zehntausende Werke häuft Sawizki zwischen 1960 und 1984 in den Depots in Nukus an, viele davon sind immer noch unrestauriert. Doch bereits die einigen hundert Gemälde, die die lichten Räume des Museums mit ihren Farben und ihrer Energie zum Strahlen bringen, lassen erahnen, welch unvergleichlicher Schatz in den übervollen Kellern noch schlummert. Sein Wert wird von Experten auf viele Millionen Dollar geschätzt. Das weckt Begehrlichkeiten und die Sorge, jemand könnte sich über die vom Gründer ausgegebene Devise, dass nichts zum Verkauf steht, hinwegsetzen.

Igor Sawizki, der sein ganzes Leben dem Museum gewidmet hat, ist 1984 gestorben. Er hatte Raubbau getrieben an seiner ohnehin schon fragilen Gesundheit, insbesondere mit dem vielen strapaziösen Reisen und dem unermüdlichen Schreiben von Bettelbriefen, um die Werke, die Erweiterungen des Museums und die Restaurationsarbeiten zu finanzieren. Um keine Zeit zu verlieren bei den Notrestaurierungen, übernachtete er oft im Museum und atmete dort tage- und nächtelang chemische Dünste ein.

Er kannte keine Grenzen in seinem Bestreben, der russischen Avantgarde ein Monument zu errichten. Der amerikanische Dokumentarfilm «The Desert of Forbidden Art» brachte das Museum 2010 einem breiteren Publikum ins Bewusstsein, und seither pilgern Kunstinteressierte aus West und Ost nach Nukus. Manchmal kann ein umtriebiger Geist selbst ein gottvergessenes Nest zwischen drei Wüsten auf die künstlerische Weltkarte setzen.

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