Vor den Bundestagswahlen verbreiten gefälschte Nachrichtenseiten Desinformation über Migration, die Bundeswehr, Habeck und Baerbock. Angeblich werden sie von einem einzigen Mann in Moskau betrieben.
Eine Recherchegruppe um die deutsche Faktenprüferorganisation Correctiv hat nach eigener Aussage ein Desinformationsnetzwerk aus 102 Websites enttarnt, das versucht haben soll, die deutsche Bundestagswahl zu beeinflussen.
Correctiv, das in den vergangenen Monaten wegen Ungenauigkeiten in ihrer Berichterstattung verklagt wurde und wegen ungenauer und politisch einseitiger Faktenchecks in die Kritik geriet, veröffentlichte eine Liste der betroffenen URL. Darunter befinden sich Websites, die vorgeben, authentische Nachrichtenmedien wie die «Berliner Tagespost» oder die «Konus News» zu sein. Andere verwenden die Namen ehemaliger Regionalzeitungen wie «Berliner Tagblatt» oder «Hamburger Anzeiger».
Newsguard, eine amerikanische Firma, die für ihre Kunden die Glaubwürdigkeit von News-Websites beurteilt und der Recherchegruppe angehörte, schreibt in ihrem aktuellen Bericht, die Desinformations-Websites verbreiteten im Vorfeld der Bundestagswahl prorussische Narrative. Die Seiten seien Teil der russischen Einflussoperation mit dem Namen Storm-1516.
Recherche ordnet dem Netzwerk sechs Falschaussagen zu
Die Rechercheportale ordnen dem Desinformationsnetzwerk eine politische Ausrichtung zu, die die Interessen Russlands widerspiegelt. Insbesondere verbreite das Netzwerk populistische und euroskeptische Texte sowie solche, die die AfD unterstützten.
Weiter ordnen die Autoren dem Netzwerk insgesamt sechs Falschaussagen zu. Newsguard schreibt, ein angeblicher Prostituierter habe behauptet, Annalena Baerbock habe während ihrer Afrika-Reise sexuelle Dienste bei ihm bezogen. Robert Habeck sei derweil eine erfundene sexuelle Belästigung angedichtet worden. Weiter sei fälschlicherweise berichtet worden, Deutschland plane, 1,9 Millionen kenyanische Arbeitskräfte aufzunehmen.
Correctiv legte in seinem Bericht drei weitere Falschbehauptungen des Netzwerks offen. So sei behauptet worden, die Bundeswehr mobilisiere 500 000 Männer für einen Einsatz in Osteuropa. Weiter sei dem FDP-Politiker Marcus Faber unterstellt worden, er sei ein russischer Agent. Ausserdem habe das Netzwerk die frei erfundene Nachricht verbreitet, ein in eine Palästina-Flagge eingewickelter Schweinekopf sei durch ein eingeschlagenes Fenster einer Berliner Moschee geworfen worden.
Netzwerk wuchs, als Neuwahlen angekündet wurden
Dass das Desinformationsnetzwerk vermutlich dafür geschaffen wurde, um die deutschen Wahlen zu beeinflussen, zeigt der Moment seiner Erstellung. Die erste Website sei im Juli 2024 registriert worden, schreibt Newsguard. Dann sei kaum etwas geschehen, bis Bundeskanzler Olaf Scholz Anfang November das Ende der Ampelkoalition bekanntgegeben und Neuwahlen eingeleitet habe. Ab Mitte November explodierte die Anzahl von Websites im Verbund: Von unter zehn wuchs das Netzwerk auf beinahe hundert Websites in den rund anderthalb Monaten nach der Ankündigung von Neuwahlen.
Hinter dem Netzwerk soll John Mark Dougan stecken, berichten Newsguard und Correctiv übereinstimmend. Der ehemalige Polizist aus Florida hat laut der «New York Times» politisches Asyl in Russland erhalten. Er habe vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl bereits 160 Websites aufgebaut und auch schon während des amerikanischen Wahlkampfs Desinformationen publiziert.
Dass Dougan als Einzelperson diese Vielzahl von Websites aufsetzen und betreiben kann, führt die Recherchegruppe auf künstliche Intelligenz (KI) zurück. In der Regel würden Artikel von anderen Plattformen mit KI-Tools umgeschrieben.
KI-Tools paraphrasieren Inhalte von anderen Medien
Das Vorgehen ist üblich für sogenannte «Pink Slime»-Websites, die vorgeben, seriöse Medien zu sein, aber in Wahrheit nicht journalistisch betrieben werden. Anstatt Menschen für das Schreiben von Texten einzustellen, nutzen die Betreiber der Desinformations-Websites KI-Tools wie Chat-GPT. Diesen speisen sie Artikel von etablierten Medien ein und lassen die KI den Text paraphrasieren. Damit ist der Text zwar eine inhaltliche Kopie des Originals, weil sie aber nicht die gleichen Worte verwendet, ist sie nicht als Plagiat erkennbar. Das erklärt auch, warum neben den eindeutigen Falschinformationen die Mehrzahl der Texte inhaltlich nicht falsch sind, aber die Realität einseitig darstellen.
Dieses Vorgehen vermuten die Rechercheportale auch bei Dougan. Er übernehme vor allem Inhalte von ausgewählten deutschen Nachrichtenseiten, schreibt Newsguard. Dazu gehörten «Report24», «Philosophia-Perennis», «Compact-Online», «Nachdenkseiten» und das in Deutschland verbotene, vom russischen Staat finanzierte «Russia Today».
Dass der Betreiber der Desinformations-Websites tatsächlich die Inhalte anderer Portale verwendet, zeigen Ungenauigkeiten in manchen Texten. Laut Newsguard hätten einige Artikel auf Newsletter verwiesen, die die gefälschte Seite gar nicht anbiete. Andere Artikel hätten Werbetexte aus der Originalquelle enthalten, die fälschlicherweise auf den neuen Inhalt übernommen worden seien.
Dougan stritt gegenüber Newsguard eine Beteiligung am deutschen Desinformationsnetzwerk ab. Gleiches tat er allerdings schon, als ihn amerikanische Medien mit Hinweisen von Regierungsmitarbeitern und Cybersicherheits-Oragnisationen konfrontierten. Sie konnten Dougan dank einer digitalen Spur in Internetprotokollen und IP-Adressen als Drahtzieher der Beeinflussungsoperation identifizierten.
Newsguard wie auch Correctiv vermuten allerdings, dass Dougan nicht isoliert agiert, sondern in Absprache mit dem russischen Propagandaapparat. Die «Washington Post» berichtete im Oktober unter Berufung auf europäische Geheimdienstdokumente, dass Dougan vom GRU, dem russischen Militärgeheimdienst, bezahlt werde.
Manche Inhalte stammen aus dem russischen Propagandaapparat
Laut Correctiv publiziert Dougan auf den Desinformations-Websites zwischen den paraphrasierten Artikeln Inhalte, die direkt vom russischen Propagandaapparat stammen. Darin würden die eigentlichen Falschinformationen gesät, also beispielsweise das Gerücht, Baerbock bezahle ihren afrikanischen Escort-Boy aus der Staatskasse.
Der russische Staatsapparat gebe bei spezialisierten, regierungsnahen Agenturen die Produktion von Deepfake-Videos oder nachgestellten Fakes in Video, Audio oder Text in Auftrag. In diesen treten vermeintliche Whistleblower oder Zeugen auf. Die Videos werden dann zwischen die Inhalte auf den Desinformations-Websites gestreut.
Sobald die Fakes publiziert sind, werden mutmasslich prorussische Influencer für die Weiterverbreitung der Falschinformation eingespannt. Es falle auf, schreibt Correctiv, dass es immer wieder dieselben Personen seien, die Fakes mit als Erste verbreiteten. Namentlich genannt werden im Bericht Michael Wittwer, früherer Kandidat für die rechtspopulistische Partei Pro Chemnitz, die vom Nachrichtendienst beobachtet wird, Jovica Jović, ein prorussischer Aktivist, und Alina Lipp, eine prorussische Influencerin, die den Telegram-Kanal «Neues aus Russland» mit 186 000 Anhängern betreibt. Geteilt würden ihre Beiträge oft von Alena Dirksen, zuletzt Wirtin eines russischen Restaurants in Mittweida (Sachsen).
Dank der Zusammenarbeit mit Influencern sei die Storm-1516-Kampagne effektiver darin, Reichweite zu erzielen, schreibt Correctiv. Potenziell sei sie damit gefährlicher als die parallel laufende sogenannte Doppelgänger-Kampagne.
Ob das tatsächlich so ist, bleibt vorerst unklar. Studien, die die Effekte von Desinformation fundiert aufarbeiten, gibt es kaum. Zudem kann man die Frage stellen, ob solche Falschinformationen unentschlossene Wähler wirklich beeinflussen. Womöglich verstärken sie auch nur bereits vorhandene politische Einstellungen bei einem Teil der Wähler.
Allerdings entfaltet die russische Kampagne nicht zuletzt deshalb eine Wirkung, weil reichweitenstarke, traditionelle Medien über sie berichten. Wenn Stimmbürger glauben, Russland beeinflusse die Wahl, könnte dies ihr Vertrauen in den demokratischen Prozess beeinträchtigen. Das spielt Russland in die Hände.