Moskau erschliesst neue Erdgasfelder in der russischen Arktis. Doch der Abtransport gestaltet sich schwierig. Wegen internationaler Sanktionen.
Es ist eine beeindruckende Industrieanlage, die im Sommer 2024 durch den arktischen Ozean geschleppt wird: 640 000 Tonnen schwer und über 100 Meter hoch, ist sie sogar auf Satellitenbildern aus dem Weltall klar erkennbar. Rund einen Monat dauert die Fahrt von Belokamenka nahe der russischen Stadt Murmansk, wo die riesige Struktur zusammengebaut wurde, an ihren Bestimmungsort. Dieser liegt im Gebiet, wo der grosse Fluss Ob in die Karasee mündet.
Auf den westsibirischen Halbinseln Jamal und Gydan ist Russland im Begriff, mit Milliardeninvestitionen ein Zentrum für die Produktion von verflüssigtem Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG) aufzubauen. Es ist Ausdruck von Moskaus Ambition, als Produzent und Lieferant von LNG zu den weltweit führenden Anbietern USA, Australien und Katar aufzuschliessen.
Die Anlage, die diesen August bei der Halbinsel Gydan ankam, ist das zweite von drei vorgesehenen Produktionsmodulen für das Projekt Arctic LNG 2 des Unternehmens Novatek. Die Produktionskapazität jedes Moduls liegt bei rund 6 Millionen Tonnen LNG pro Jahr. Als das Vorhaben aufgegleist wurde, sah der Fahrplan vor, aus dem Erdgasfeld unter der Gydan-Halbinsel ab 2026 jährlich rund 20 Millionen Tonnen LNG in die Welt zu exportieren.
Doch bei dem Grossprojekt ist mittlerweile Sand im Getriebe. Grund sind die Sanktionen, die zahlreiche Staaten gegen Moskau im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erlassen haben. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg im Oktober berichtete, ist die Produktion des ersten, 2024 in Betrieb gegangenen Moduls auf der Gydan-Halbinsel vorübergehend eingestellt worden. Alle Zwischenspeicher sind voll, und es fehlt an Transportkapazitäten, um das LNG auf die Absatzmärkte zu bringen.
Transportwege durch das Eis sind eine Hürde
Der Weg auf diese Märkte ist nicht nur weit, sondern auch mühsam. Er führt vom Mündungsgebiet des Ob entweder westwärts durch die arktischen Randmeere Karasee und Barentssee oder ostwärts die russische Arktisküste entlang zur Beringstrasse und von dort nach Ostasien. In jedem Fall sind Hunderte bis Tausende Kilometer Seefahrt unter schwierigen Umständen zu absolvieren. Denn für die meiste Zeit des Jahres erfordern die Bedingungen in den arktischen Gewässern Schiffe der höchsten Eisklasse oder gar die Begleitung durch vorausfahrende russische Eisbrecher.
Gerade LNG-Tanker der sogenannten Arc-7-Klasse, die diese Bedingungen erfüllen, sind für den Arctic-LNG-2-Betreiber Novatek derzeit jedoch Mangelware. Zwar wurden entsprechend der Vorgabe, dass für jede Megatonne Produktionskapazität ein solches Schiff zu beschaffen sei, 21 Stück bestellt. Doch das war in besseren Zeiten, als die technologische Zusammenarbeit mit Ländern und Unternehmen, die diese hoch spezialisierten und entsprechend kostspieligen Schiffe herstellen können, noch funktionierte.
Unter den Sanktionen im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine ist dies nicht mehr der Fall. Besonders die seit 2023 erlassenen amerikanischen Massnahmen, die sich explizit gegen Arctic LNG 2 richten, stellen das Grossprojekt vor Probleme.
Der ursprüngliche Plan sah vor, die ersten sechs Arc-7-Einheiten direkt vom südkoreanischen Schiffbauer Hanwha Ocean erstellen zu lassen, der in dieser Sparte bereits erfahren ist. Geordert wurden sie je zur Hälfte von der russischen Reederei Sovcomflot und der japanischen Mitsui OSK Lines (MOL). Weitere fünfzehn Schiffe sollten dann in der russischen Swesda-Werft bei Wladiwostok am Pazifik entstehen, unter dem Beizug von technologischer Expertise und Zulieferprodukten zum Beispiel von südkoreanischen oder französischen Unternehmen.
Doch die Sanktionen verhinderten erstens, dass Sovcomflot die drei georderten Schiffe bezahlen konnte. Und zweitens ist MOL im Begriff, sich aus dem Chartervertrag für seine drei Arc-7-Tanker zurückzuziehen. Denn die Auftragsarbeit für Arctic LNG 2 würde sekundäre Sanktionen auslösen.
Die ersten sechs Arc-7-Einheiten hätten den Transport der Produktion des 2024 in Betrieb gegangenen Moduls 1 sicherstellen sollen. Weil sie fehlen, können die Projektpartner von Arctic LNG 2 jetzt ihre Lieferverträge nicht erfüllen. Bei den Partnern handelt es sich um Novatek (60 Prozent Anteil) sowie Total Energies (Frankreich), CNPC, CNOOC (beide China) und Japan Arctic LNG (jeweils 10 Prozent Anteil).
Das japanische Unternehmen MOL müsste zwar laut dem Chartervertrag mit Novatek seine drei Schiffe dem russischen Partner zum Verkauf anbieten, sollte es seinen Transportverpflichtungen nicht nachkommen können. Doch auch damit würde es sich den amerikanischen Sanktionen aussetzen, die auf jegliche Transaktionen mit Novatek zielen.
Damit bleibt Novatek nur noch die Aussicht auf die fünfzehn Schiffe aus der russischen Werft. Doch selbst diese Zahl ist mittlerweile bloss theoretisch. Denn ohne westliche Schlüsseltechnologien kann Russland die Schiffe nur mit grosser Verzögerung fertigstellen – wenn überhaupt. Bei zwei Tankern wurden die wichtigsten Komponenten bereits eingebaut, bevor die Sanktionen in Kraft traten. Diese Schiffe könnten in den nächsten Monaten in Dienst gestellt werden. Drei weitere befinden sich in Konstruktion, wobei allerdings die Beschaffung entscheidender Bauteile unsicher geworden ist.
Mit Blick auf den Betrieb der Arc-7-Flotte stellen sich zudem Fragen, wie weit Ersatzteile verfügbar sind. Denn nicht alle westliche Originalausrüstung kann einfach durch Kopien etwa aus China ersetzt werden. Das zeigt sich gerade an einem Tanker, der für Yamal LNG fährt, ein anderes Projekt von Novatek.
Mit Gas lassen sich Sanktionen nicht so leicht umgehen
Angesichts der Probleme mit dem Transport des auf der Gydan-Halbinsel produzierten Flüssiggases sieht sich Novatek zu Notlösungen gezwungen. Im Sommer können in einem etwa viermonatigen Zeitfenster konventionelle LNG-Tanker eingesetzt werden. Sobald dann die ersten Arc-7-Schiffe zur Verfügung stehen, könnten diese das LNG zu schwimmenden Umladestationen jenseits der Eisgrenze bringen, die Novatek beschafft und bei Murmansk und der Halbinsel Kamtschatka positioniert hat.
Allerdings stehen auch die zwei sogenannten FSU (Floating Storage Unit) unter Sanktionen, so dass dieser Betriebsmodus ebenfalls problembehaftet ist. Wer als internationaler Akteur mit den USA im Geschäft bleiben will oder auch bloss vom Dollar als Zahlungsmittel abhängig ist, wird dort kaum einen LNG-Tanker anlegen lassen wollen.
Das von Russland beim Erdölexport bereits praktizierte Konzept einer «Schattenflotte» von Schiffen, die entgegen internationalem Seerecht ihre Positionsmelder ausschalten, um heimlich russische Verladehäfen anzusteuern und damit Sanktionen zu unterlaufen, dürfte im Sommer auch im LNG-Sektor zur Anwendung gekommen sein. Jedenfalls gibt es darauf deutliche Hinweise.
Doch das LNG-Geschäft ist komplizierter. Die Transportschiffe sind teurer und komplizierter als Öltanker, und es gibt auch deutlich weniger von ihnen. Laut einer unlängst publizierten Studie des Oxford Institute for Energy Studies befinden sich weltweit rund 9000 Öltanker im Einsatz, aber nur etwa 800 LNG-Transporter. «Schwarze Schafe» und ihre Eigner sind damit leichter identifizierbar. Und mit satellitengestützter Überwachung lassen sich ihre Aktionen immer besser überwachen.
Wiederausfuhren aus EU-Ländern sorgen für Kritik
Für Novateks Arctic LNG 2 stehen die Sterne derzeit deshalb nicht gut. Doch daneben betreibt die Gesellschaft auf der Jamal-Halbinsel, ebenfalls im Mündungsgebiet des Ob, erfolgreich das 2017 in Produktion gegangene Projekt Yamal LNG. Dessen Kapazität ist mit gut 17 Millionen Tonnen jährlich fast so gross wie die Leistungsfähigkeit von Arctic LNG 2.
Vorläufig fliesst ein bedeutender Teil des Jamal-Flüssiggases in die EU. Laut Angaben aus Brüssel erreichten die Erdgasimporte der EU aus Russland in den ersten Monaten von 2024 einen Anteil von 18 Prozent am gesamten Einfuhrvolumen. Das bedeutet gegenüber 2023 sogar einen leichten Anstieg.
Indes hat die EU unlängst signalisiert, zumindest bei den Reexporten von russischem LNG in Drittländer, die über EU-Häfen namentlich in Spanien, Frankreich und Belgien laufen und etwa 20 Prozent des angelieferten Volumens ausmachen, die Schrauben anzuziehen. Gerade diese Reexporte stellen einen Kritikpunkt an der EU-Energiepolitik gegenüber Russland dar. Das Argument lautet, dass Russland beim LNG-Geschäft abhängiger sei von Europa als umgekehrt. Die EU halte damit einen Hebel in der Hand, den sie zu zögerlich einsetze.
Beginnt Brüssel nach dem Pipelinegas auch beim LNG Moskau den Hahn allmählich abzudrehen, brechen für Yamal LNG schwierigere Zeiten an. Nicht an Erdgas wird es fehlen, wohl aber an der Kapazität, es aus der Arktis zu konkurrenzfähigen Transportpreisen auf die für Russland noch offenen Zielmärkte zu bringen.
Rudolf Hermann war von 2015 bis 2023 Nordeuropa-Korrespondent der NZZ. Zusammen mit Andreas Doepfner hat er das Buch «Von der Eiswüste zur Arena der Grossmächte. Die geopolitischen Folgen des Klimawandels in der Arktis» (NZZ Libro, 234 S., Fr. 38.–) verfasst. Doepfner war von 1973 bis 2007 Auslandredaktor der NZZ sowie Korrespondent in Stockholm und London.