Sonntag, Oktober 6

Die ukrainischen Verteidiger sind der russischen Übermacht bei weitem nicht gewachsen. Der Rückzug nimmt zum Teil chaotische Formen an. Die Hoffnung, dass die ukrainische Offensive bei Kursk eine Wende bringen könnte, erfüllt sich nicht.

Die russischen Truppen rücken am wichtigen Frontabschnitt bei der Stadt Pokrowsk im Donbass schneller denn je vor und haben in den letzten Tagen die Ukrainer aus einer Reihe von Verteidigungsstellungen vertrieben. Allein im Verlauf der vergangenen Woche näherten sie sich der Stadt um etwa zweieinhalb Kilometer und sind nun noch gut acht Kilometer von den Aussenvierteln entfernt. Derweil verstärkt sich die Massenflucht aus der Stadt, die vor dem Krieg rund 60 000 Einwohner zählte.

Besorgniserregend ist vor allem, mit welcher Leichtigkeit die Invasoren schwieriges Gelände einnahmen, wo ein zäherer Widerstand erwartet worden war. So nahmen sie das Städtchen Nowohrodiwka vergangene Woche in kurzer Zeit ein, überschritten die dortige Eisenbahnlinie und rückten gleich weiter vor. An Kleinstädten dieser Grösse hatten sich die Russen früher wochen- oder gar monatelang die Zähne ausgebissen. Weiter südlich wurden die Ukrainer Ende der Woche auch aus dem Ort Karliwka vertrieben. Damit haben sie keinerlei Zugang mehr zum gleichnamigen Stausee, der im August noch als wichtiges Hindernis gegen die Russen diente.

Pokrowsk hat für beide Seiten grosse Bedeutung. Es ist die viertgrösste Stadt, die den Ukrainern im Donbass noch verbleibt, und bildet mit ihren Vororten die zweitgrösste Agglomeration. Auch gemessen an ihrer Rolle als Verkehrsdrehscheibe wird sie nur von Kramatorsk übertroffen. In Pokrowsk verzweigt sich eine Autobahn und kreuzen sich mehrere Eisenbahnlinien.

Die ukrainische Militärlogistik ist bedroht

Ein ehemaliger ukrainischer Offizier, der Analysen unter dem Pseudonym Tatarigami veröffentlicht, betont, wie wichtig die Stadt für die gesamte Armeelogistik im Donbass sei. Er verweist auf die Versorgung der von Russland belagerten Stadt Wuhledar weiter südlich, aber auch auf die Strasse nach Nordosten, über die Nachschub an den Frontabschnitt bei Tschasiw Jar geliefert wird. Bereits jetzt sind diese Verkehrslinien akut bedroht, weil sie in Reichweite der russischen Artillerie geraten sind.

Eine Reihe von Militärexperten glaubt nicht, dass der Fall von Pokrowsk unmittelbar bevorsteht. Die Russen bewegen sich in einem relativ engen Korridor, der wie eine Ausstülpung nach Westen ragt. Um die Ausgangslage zu verbessern, könnte der Kreml auf eine frontale Erstürmung der Stadt verzichten und zuerst versuchen, das eroberte Gebiet zu verbreitern. Ausserhalb von Pokrowsk haben die Ukrainer ringförmige Verteidigungslinien errichtet. Wie gut sie sich bewähren werden, ist eine offene Frage, nachdem die Kämpfe der letzten Wochen grosse Schwachstellen gezeigt haben.

Berichte von ukrainischen Offizieren und Soldaten deuten darauf hin, dass es an allem fehlt – an erfahrenen Infanteristen, an Artillerie, Munition und Drohnen. Der Kommandant einer Aufklärungseinheit an der Pokrowsk-Front erklärte gegenüber der britischen Zeitung «Telegraph», er habe noch nie ein solches Tempo einer russischen Offensive gesehen. Der ukrainische Militärkommentator Olexander Kowalenko schrieb vor ein paar Tagen scharf von einem «völligen Versagen der Verteidigung». Die Schuld daran trügen nicht die einfachen Soldaten, die bis zum Letzten kämpften, sondern die Kommandanten.

Fällt Pokrowsk in den nächsten Wochen oder Monaten, so kommt Russland seinem Ziel, die gesamte Provinz Donezk zu erobern, ein grosses Stück näher. Von dieser Stadt bis zur westlich angrenzenden Provinz Dnipropetrowsk sind es danach nur noch zwanzig Kilometer. Präsident Wolodimir Selenski und sein Oberbefehlshaber Olexander Sirski haben anerkannt, dass die Lage sehr ernst ist.

Die Kursk-Offensive – eine Fehlkalkulation?

Aber Selenski hat sich in den vergangenen Tagen kommunikativ ungeschickt verhalten. Er behauptete in einer Pressekonferenz, der gegnerische Vormarsch habe sich verlangsamt, seit die Ukrainer ihre überraschende Offensive in die russische Provinz Kursk lanciert hatten. Das Gegenteil trifft zu. Die von regierungsunabhängigen Beobachtern wie der Analysegruppe «Deep State Map» ausgewerteten Frontverschiebungen deuten darauf hin, dass Russland derzeit durchschnittlich doppelt so viel Terrain pro Tag hinzugewinnt wie vor einem Monat.

Die Kursk-Operation hat den Gegner zwar überrumpelt und gezeigt, dass die Ukrainer weiterhin zu schnellen Vorstössen fähig sind. Aber inzwischen ist diese Offensive weitgehend festgefahren. Vor allem hat sich nicht die Hoffnung erfüllt, dass Russland gezwungen sein könnte, deswegen die Front bei Pokrowsk zu vernachlässigen. Als Ablenkungsmanöver hat «Kursk» kaum funktioniert.

Erwartungsgemäss gerät Selenski deshalb unter innenpolitischen Druck von Stimmen, die ihm eine Fehlkalkulation vorwerfen. Zu den Kritikern zählt der frühere Präsident Petro Poroschenko, der kürzlich am Stadtrand von Pokrowsk einen Medienauftritt inszenierte. Zur allgemeinen Besorgnis trägt bei, dass die Fronten auch andernorts wanken. So nahmen die Russen im August weiter nördlich die Ortschaft Nju-Jork ein, die lange als Bollwerk im Donbass gedient hatte. Auch im Osten der Provinz Charkiw rücken sie vor und nähern sich von zwei Seiten dem ukrainisch kontrollierten Regionalzentrum Kupjansk.

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