Donnerstag, Oktober 3

Erstmals seit dem Zerfall der Sowjetunion führt Moskau ein grosses, kontinentumspannendes Flottenmanöver durch. Auch China macht mit. Die Zusammenarbeit der beiden Mächte im Pazifik wird enger.

Von der Ostsee bis an den Pazifik, vom Nördlichen Eismeer bis zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer dehnt sich Russlands Landmasse aus. Mit seiner Kriegsflotte ist Russland auf allen Weltmeeren präsent – zur unmittelbaren Verteidigung des Landes wie auch zur Wahrung seiner globalen Interessen. Dieser Tage versucht es, den Anspruch darauf, eine kontinentumspannende Macht zu sein, zu bekräftigen.

Das jährliche strategische Grossmanöver der russischen Streitkräfte, das gewöhnlich einem geografisch eingeschränkten Operationsraum gewidmet ist, findet dieses Jahr auf hoher See statt und heisst «Ozean-2024». Präsident Wladimir Putin, das Verteidigungsministerium und die Staatsmedien werden nicht müde, zu betonen, dass Moskau seit 1985, also der Endphase der Sowjetunion, nie mehr eine solch grossangelegte Übung auf den Weltmeeren durchgeführt habe.

Schwarzmeerflotte fehlt

Zufall ist es nicht, dass Russland gerade jetzt seine militärische Stärke und Präsenz auf hoher See beweisen will. Der Krieg gegen die Ukraine dient dem Kreml auch dazu, seine Vorstellungen von einer neuen Weltordnung voranzutreiben.

Putin nannte zwar bei der – über eine Videokonferenz abgehaltenen – Eröffnung des Grossmanövers den Ukraine-Krieg als einen Beleg dafür, wie die USA um jeden Preis an ihrer Vorherrschaft in der Welt festhalten wollten, indem sie die Ukrainer «bis zum letzten Mann» kämpfen liessen. Daher müsse Russland auf alles gefasst sein, auch in anderen Teilen der Welt. «Wir zeigen eine gigantische Kraft, die nicht in die ‹militärische Spezialoperation› eingebunden ist. Sollen sie nur merken, mit wem sie sich angelegt haben!», schreibt etwa Alexander Sladkow, ein Militärkorrespondent und Kriegspropagandist, in seinem Telegram-Kanal.

Diese Sichtweise, die Amerikas Interesse am Ukraine-Krieg und seine Verantwortung für diesen und dessen Ausbruch suggeriert, verbreitet die staatliche Propaganda 24 Stunden am Tag. Die russische Führung sieht in der Konstellation auch eine Chance: sich bei allen mit Amerika Unzufriedenen auf dem Globus als Gegengewicht und Garant einer anderen, multipolaren Ordnung anzubieten.

Beteiligt sind die Ostsee-, die Nordmeer- und die Pazifikflotte mit Kriegsschiffen und Unterseebooten sowie die Kaspische Flottille. Schauplätze sind entsprechend die Ostsee, das Kaspische Meer, das Nördliche Eismeer, der Pazifik, aber auch das Mittelmeer. Die Schwarzmeerflotte fehlt, obwohl das Schwarze und das Asowsche Meer zu den strategisch wichtigsten Räumen an Russlands Südflanke zählen. Die Ukrainer haben sie jedoch erfolgreich in die Enge getrieben, arg dezimiert und faktisch gelähmt. Mit dem Auftrumpfen auf den anderen Meeren versucht Russland, von dieser Schmach abzulenken.

Signal an die USA in Asien

Strategisch im Mittelpunkt des Manövers scheinen weniger Europa als vielmehr Ostasien und die Arktis zu sein, zwei Schauplätze, die angesichts der Konkurrenz zwischen den USA und China von geopolitischer Brisanz sind. Deshalb ist auch Chinas Beteiligung an «Ozean-2024» nicht zu unterschätzen, obwohl sie zahlenmässig bescheiden ausfällt.

Während Russland nach eigenen Angaben mehr als 400 Schiffe, 125 Fluggeräte und rund 90 000 Soldaten einsetzt, steuert Peking 3 Schiffe und 15 Flugzeuge bei. Das exilrussische Portal «Agentstwo» zweifelt die russischen Zahlen allerdings an: Die russische Marine verfüge bei weitem nicht mehr über 400 Schiffe, die Zahl liege höchstens bei knapp 300, wobei die nicht im Einsatz stehenden Einheiten der Schwarzmeerflotte davon abgezogen werden müssten. Die offiziellen Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Chinas Teilnahme an russischen Grossmanövern ist in den vergangenen Jahren zur Praxis geworden. In der regimefreundlichen Zeitung «Iswestija» betont aber der auf China und Militärfragen spezialisierte Politologe Wasili Kaschin, immer häufiger sprächen Russland und China davon, auf militärische Bedrohungen gemeinsam reagieren zu wollen. Diese Zusammenarbeit werde jetzt besonders geübt. Ein anderer Kommentator frohlockt in derselben Zeitung, der amerikanische Albtraum einer russisch-chinesischen Allianz werde immer realer.

Auch wenn in solchen Einschätzungen und angesichts des bescheidenen chinesischen Beitrags die propagandistische Wirkung offensichtlich ist: Rücken China und Russland im Pazifik militärisch enger zusammen, verschärft das die durch den amerikanisch-chinesischen Gegensatz, etwa in der Taiwan-Frage, ohnehin erhöhten Spannungen zusätzlich. Russland will an die USA offenbar das Signal aussenden, dass es in einem Krieg um Taiwan nicht tatenlos bliebe.

Verteidigung des nördlichen Seewegs

Neben dem Pazifik nimmt auch die Arktis eine besondere Rolle im Manöver ein, und auch das ist nicht zufällig. Laut dem Oberkommandierenden der russischen Kriegsmarine, Admiral Alexander Moisejew, gibt in der Übungsanlage die Nordmeerflotte den «Feind»; die Pazifik- und Ostseeflotte und die Kaspische Flottille stellen sich diesem entgegen. Russland hat in den vergangenen Jahren dem Ausbau der militärischen Präsenz in der Arktis viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das hat mit dem Ressourcenreichtum der Region zu tun, aber ebenso sehr mit Russlands langer Küste entlang des Eismeers und den Hoffnungen, die mit dem nördlichen Seeweg verbunden sind.

Dieser beginnt im Osten an der Beringstrasse, an Russlands nordöstlichstem Ende im schwer zugänglichen und von harschem Klima geprägten Tschukotka. Dort übte die Pazifikflotte nun im Rahmen von «Ozean-2024» die Anlandung und das Aufstellen von P-800-Onyx-Lenkwaffen, die gegen maritime Ziele geeignet sind, und damit die Verteidigung dieser noch wenig benutzten Handelsroute.

Das Grossmanöver «Ozean-2024» ist in Teilen vermutlich Blendwerk, aber es ist mehr als eine Routineübung. Der Krieg gegen die Ukraine und die Verluste der Schwarzmeerflotte haben zwar Zweifel an Russlands maritimen Fähigkeiten geweckt. Den Ambitionen haben sie aber keinen Abbruch getan. Russland will der Welt vermitteln, dass mit der russischen Flotte überall zu rechnen sei.

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