Donnerstag, November 13

Pal Jonson warnt davor, die Ambitionen des russischen Machthabers zu unterschätzen. Zwei Schlüsselmomente hätten die Schweden dazu bewogen, nach 200 Jahren die Neutralität aufzugeben.

Er hat turbulente Monate hinter sich. Als Pal Jonson im Oktober 2022 zum Verteidigungsminister ernannt wird, ist Schweden auf dem Papier noch ein neutrales Land. Doch was mehr als 200 Jahre lang als selbstverständlich galt, ist es nicht mehr. Der Überfall der russischen Truppen auf die Ukraine hat auch den Schweden gezeigt: Der Frieden in Europa ist fragil.

Jonson, der zuvor für die Mitte-rechts-Partei der Moderaten im nationalen Parlament politisiert hat, wird zum Mann, der Schweden in die Nato führt. Im März 2024 stimmt schliesslich auch Ungarn dem Beitritt zu. Doch damit hat die Arbeit erst begonnen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte Schweden Stützpunkte geschlossen, die Wehrpflicht abgeschafft und die Verteidigungsausgaben radikal gekürzt. Diese Defizite gilt es nun so schnell wie möglich wiedergutzumachen.

Herr Jonson, Russland stösst in der Ukraine vor. Wladimir Putin hat Schweden wegen des Nato-Beitritts gedroht. Schlafen Sie noch gut?

O ja. Ich schlafe gut. Aber das Sicherheitsumfeld hat sich nach Russlands Einmarsch in die Ukraine grundlegend verschlechtert. Wir wissen, dass Russland dazu neigt, grosse politische und militärische Risiken einzugehen. Zwar ist die russische Leistung auf dem Schlachtfeld in der Ukraine alles in allem nicht beeindruckend. Aber Moskau will die Streitkräfte wieder aufbauen und stärker werden als vor dem Ausbruch des Krieges. So plant Russland unter anderem, ein Armeekorps in Karelien zu errichten, unweit der finnischen Grenze. Für uns ist es daher enorm wichtig, mehr in die Verteidigung zu investieren.

Sie sagten in einem Interview, dass die schwedische Armee ein, zwei Jahre brauche, um aufzuholen. Bedeutet das, dass Ihr Land im Moment nicht auf einen Krieg vorbereitet ist?

Wir sind jetzt wesentlich stärker als noch vor fünf Jahren. Das hat zum einen mit den Nato-Manövern zu tun, an denen wir schon vor dem Beitritt zum Verteidigungsbündnis mitwirkten. Zum andern sind wir daran, unsere Streitkräfte so stark aufzurüsten wie nie zuvor seit den fünfziger Jahren.

Schweden wäre also bereit, sollte es zu einer militärischen Eskalation in Skandinavien kommen?

Wir sind bereit. Unsere Verteidigungsfähigkeit hat sich klar verbessert, und der Kampfwille ist gross. Aber es ist ein Prozess, an dem wir weiter arbeiten. Eine Herausforderung, der sich auch viele andere europäische Länder stellen müssen, ist die Verfügbarkeit und Bereitschaft ihrer Bodentruppen.

War es naiv, die schwedische Armee nach dem Ende des Kalten Krieges stark zu dezimieren?

Ja, ohne Zweifel. Es war naiv, die Streitkräfte so stark zu verkleinern – die meisten anderen europäischen Länder machten übrigens denselben Fehler. Das ist eine Lektion, die man aus der Geschichte gelernt hat und die sich nicht wiederholen sollte. Die baltischen Länder und auch Polen haben schon länger davor gewarnt, dass sich die Sicherheit in Europa verschlechtere. Aber es gab nur sehr wenige Staaten westlich von Warschau, die diese Botschaft hören wollten.

Schweden arbeitet seit 30 Jahren mit der Nato zusammen. Seit März dieses Jahres ist Ihr Land Mitglied. Welche Herausforderungen stellen sich Ihnen als Neumitglied?

Als Mitglied der Allianz sind wir in den verteidigungspolitischen Planungsprozess der Nato eingebunden. Damit müssen wir uns vertraut machen. Und dies geschieht zu einer Zeit, in der die Nato die grösste Umgestaltung seit dem Ende des Kalten Krieges erfährt. Eine weitere Schwierigkeit ist die Verfügbarkeit von Offizieren und anderen Mitarbeitern. Wir werden den Nato-Kommandos etwa 250 Offiziere zur Verfügung stellen. Genügend Personal zu haben, ist für uns eine der anspruchsvollsten Aufgaben.

Schweden hat wie andere nordische Länder zusätzlich ein Verteidigungsabkommen mit den USA unterzeichnet. Im Gegensatz zu Norwegen und Dänemark hat Stockholm aber die Stationierung von Atomwaffen nicht ausgeschlossen. Weshalb?

Lassen Sie mich Folgendes festhalten: In Friedenszeiten sehen wir keine Notwendigkeit für Atomwaffen auf schwedischem Territorium oder permanente Basen für ausländische Truppen. Niemand kann uns zwingen, Atomwaffen auf schwedischem Boden zu stationieren. Dies wurde den Amerikanern auch klar so kommuniziert.

Das bedeutet?

Es können nur dann Atomwaffen nach Schweden gebracht werden, wenn die schwedische Souveränität und das schwedische Recht dabei gewahrt bleiben. In dieser Frage gibt es einen überparteilichen Konsens. Das Parlament hat in dieser Frage das letzte Wort. Gleichzeitig möchte ich betonen, dass wir die Nato-Doktrin unterstützen, die auf nuklearer und konventioneller Abschreckung basiert.

Sowohl der Nato-Beitritt als auch das Verteidigungsabkommen mit den USA wären noch vor kurzem undenkbar gewesen. Über 200 Jahre war Neutralität ein grundlegender Bestandteil der schwedischen Identität. Dann vollzog Stockholm innerhalb von ein paar Monaten einen radikalen Richtungswechsel. Weshalb machte die Bevölkerung diese Kehrtwende mit?

Es gab zwei entscheidende Momente für Schweden. Am 17. Dezember 2021 schickte der russische Aussenminister Sergei Lawrow Briefe in zahlreiche Hauptstädte Europas, in denen er neue Regeln für die europäische Sicherheitsordnung forderte. Eine Erweiterung der Nato wollte Moskau ausschliessen. Dies hätte bedeutet, dass Schweden und Finnland nicht über die Freiheit und Souveränität verfügten, um selbst zu entscheiden, wie sie ihre Sicherheit gewährleisten möchten. Dies war für uns inakzeptabel. Der zweite Schlüsselmoment war der 24. Februar 2022, als Russland seinen Grossangriff auf die Ukraine startete. Die geografische Nähe Schwedens zur Ukraine spielt eine wesentliche Rolle bei der Wahrnehmung einer potenziellen Bedrohung. Die Distanz zwischen den beiden Ländern beträgt lediglich 800 Kilometer.

Im Januar hat die schwedische Regierung die Bevölkerung eindringlich dazu aufgerufen, sich auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. War diese Panikmache erforderlich?

Sie spielen auf Aussagen an, die ich und andere Regierungsmitglieder an einer Sicherheitskonferenz machten. Die Absicht war, in der schwedischen Gesellschaft ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sich das Sicherheitsumfeld grundlegend verschlechtert hat. Wir sind überzeugt, dass ein bewaffneter Angriff auf Schweden zwar als wenig wahrscheinlich einzustufen ist. Derzeit ist die Manövrierfähigkeit Russlands in unserer Region eingeschränkt. Die Angreifer haben einen Grossteil ihrer Bodentruppen verloren. Jedoch sollte nicht ausser acht gelassen werden, dass Russland nach wie vor grosse Ambitionen hat. Daher müssen wir uns mit möglichen weiteren Entwicklungen auseinandersetzen und uns darauf vorbereiten.

Wie schätzen Sie die Bedrohung konkret ein? Ihr estnischer Amtskollege erwartet einen russischen Angriff in einem Zeitfenster von drei bis fünf Jahren.

Ich nehme zur Kenntnis, dass Estland oder auch Deutschland zeitliche Angaben machen. Ich möchte das nicht. Es wird davon ausgegangen, dass Russland seine Streitkräfte innerhalb von drei Jahren wieder auf ein starkes Niveau aufstocken könnte. Der Ausgang des Krieges in der Ukraine entscheidet darüber, welche Gefahr von Russland ausgehen wird. Die konkrete Bedrohung hängt stets von der Kombination von Fähigkeiten, Absichten und Möglichkeiten ab. Die Bewahrung des Friedens in Europa kann am effektivsten durch eine glaubwürdige Abschreckung der Nato gewährleistet werden. Die Umsetzung der neuen Verteidigungspläne ist daher absolut prioritär.

Im Fall eines Angriffs an der Nato-Ostgrenze wäre Schweden ein wichtiges Transitland für Waffen und Truppen. Im Winter kam es auf einer der wichtigsten Bahnlinien in Schweden zu mehreren Unfällen. Möglicherweise waren Sabotageakte Russlands dafür verantwortlich. Welche Lehren haben Sie aus den Vorfällen gezogen?

Ich möchte mich nicht zu spezifischen nachrichtendienstlichen Angelegenheiten äussern. Generell lässt sich jedoch sagen, dass Russland Nordeuropa und die gesamte Nato bedroht. Neben konventionellen militärischen Mitteln werden auch hybride Methoden eingesetzt. Desinformation, Cyberspionage, Cyberangriffe, ausländische Direktinvestitionen in kritische Infrastrukturen sowie Sabotageakte haben zugenommen.

2012 sagte der damalige Oberbefehlshaber der schwedischen Armee, das Land könne sich im Fall eines militärischen Angriffs nur eine Woche verteidigen. Wie lange kann sich Schweden heute verteidigen?

Wie bereits dargelegt, sind wir nun besser aufgestellt, und die Nato ist stärker, da wir im Bündnis integriert sind. Dies bedeutet eine grundlegende Veränderung. Wir müssen Schweden nicht mehr allein verteidigen.

Sie geben also keine Schätzung dazu ab?

Nein. Aber ich möchte betonen, dass wir heute deutlich stärker sind als 2012, als wir 1 Prozent der Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aufwendeten. Derzeit liegen wir bei 2,2 Prozent. Darüber hinaus haben sich die Personalsituation und das Know-how verbessert. Es gab eine Zeit, da kannten einige unserer Kommandanten die afghanischen Berge besser als das Gelände in Schweden. Die Bedrohung hat für uns jedoch auch zugenommen, insbesondere durch das kriegerische Verhalten Russlands.

Im November findet in Amerika die Präsidentenwahl statt. Was würde eine neue Administration Trump für die Sicherheitslage in Europa und Schweden bedeuten?

Wir werden mit der Administration zusammenarbeiten, die nach den Wahlen im Weissen Haus sitzt. Ich bin jedoch der Meinung, dass Europa sich darauf vorbereiten muss, eine grössere Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Die jüngsten Bewertungen der Verteidigungsfähigkeit deuten darauf hin, dass wir auf dem richtigen Weg sind. 2014 gab es drei Nato-Staaten, die 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Verteidigung steckten; inzwischen sind es 23 Verbündete. Auch die Waffenlieferungen an die Ukraine dienen unserer Sicherheit. Die Ukraine ist unser Schutzschild gegen die russische Expansion, er darf nicht fallen.

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