Donnerstag, November 28

Wladimir Putin spricht von einer Reaktion auf den Einsatz weitreichender westlicher Waffen. Der Grossangriff ist aber weniger ein Vergeltungsschlag als die Fortsetzung der bekannten Zermürbungstaktik vor dem Wintereinbruch.

Anderthalb Wochen nach dem ersten Grossangriff in diesem Herbst hat Russland zu einem weiteren massiven Schlag gegen die ukrainische Energieversorgung ausgeholt. Gegen 100 Drohnen und 90 Marschflugkörper unterschiedlichen Typs haben in der Nacht auf Donnerstag Ziele im ganzen Land angegriffen. Sie wurden von Startrampen und Kampfflugzeugen abgeschossen und waren zum Teil mit Streubomben bestückt.

Die ukrainischen Streitkräfte haben laut eigenen Angaben 79 Raketen und 35 Drohnen abgefangen. 60 weitere unbemannte Fluggeräte seien vom Radar verschwunden. Die restlichen Geschosse richteten jedoch beträchtlichen Schaden an. Besonders in westlichen Regionen wie Lwiw oder Riwne, in denen das Kriegsgeschehen weiterhin weniger präsent ist als in Frontnähe, waren am Donnerstagmorgen mehrere hunderttausend Menschen ohne Stromversorgung. Die verwendete Streumunition erschwert laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski die Instandsetzung erheblich; er äusserte sich in einer Videoansprache zum Grossangriff.

Vermeintlicher Vergeltungsschlag

Wie in den beiden vorangehenden Kriegsjahren versucht Russland vor dem nahenden Winter, die ukrainischen Städte in Dunkelheit und Kälte zu tauchen und so den Widerstandsgeist der Bevölkerung zu brechen, auch wenn in offiziellen russischen Verlautbarungen immer nur von Angriffen auf militärische Ziele die Rede ist. Bereits seit Mitte des Monats gibt es in der Ukraine sporadische Stromunterbrüche, weil die Versorgung nicht überall zu jeder Zeit aufrechterhalten werden kann. Mit jedem Angriff auf Kraftwerke und Umspannstationen verschärft sich die Lage.

Obwohl der jüngste Angriff in diese mittlerweile wohlbekannte Zermürbungstaktik passt, stellte ihn der russische Präsident Wladimir Putin als Vergeltungsschlag dar und schob gewissermassen dem Westen die Verantwortung zu. An einer Medienkonferenz in der kasachischen Hauptstadt Astana erklärte Putin, Russland reagiere auf den ukrainischen Einsatz amerikanischer und britischer Marschflugkörper gegen Ziele auf russischem Territorium. Der russische Präsident hält sich für den Gipfel der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, eines Verteidigungsbündnisses einiger Nachfolgestaaten ehemaliger Sowjetrepubliken, in Kasachstan auf.

Der amerikanische Präsident Joe Biden hatte vor zwei Wochen sein Verbot gegen den Einsatz weitreichender Marschflugkörper des Typs Atacms gegen Ziele im russischen Hinterland gelockert. Kurz darauf griffen die ukrainischen Streitkräfte mit Atacms und britischen Geschossen des Typs Storm Shadow russische Stützpunkte in der Region Kursk an. Russland bereitet dort unter Beteiligung nordkoreanischer Soldaten eine Offensive zur Rückeroberung der ukrainisch besetzten Gebiete in der Grenzregion vor.

Daraufhin setzte Russland in einem beträchtlichen Eskalationsschritt zum ersten Mal im Krieg gegen die Ukraine eine Mittelstreckenrakete ein. Das Geschoss des Typs Oreschnik traf eine Munitionsfabrik in der Grossstadt Dnipro. Nach dem Angriff mit der atomar bestückbaren Waffe, mit der von russischem Boden aus alle grossen Bevölkerungszentren in Europa erreicht werden können, erklärte Putin in einer Ansprache, dass sich Russland vorbehalte, Militäranlagen westlicher Partner der Ukraine anzugreifen.

Putin weitet Drohkulisse aus

Die Ukraine hat sich von diesem Säbelrasseln nicht beeindrucken lassen. Auch nach dem Angriff mit der Oreschnik-Rakete setzen die ukrainischen Streitkräfte weitreichende westliche Präzisionswaffen ein. Anfang der Woche trafen Atacms-Geschosse unter anderem ein russisches Luftverteidigungssystem des Typs S-400 in der Region Kursk. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete am Mittwoch mit Verweis auf amerikanische Sicherheitsdienste, dass der Atacms-Entscheid die Gefahr einer nuklearen Eskalation nicht verändert habe. Washington schätze diese weiterhin als gering ein.

Putin versucht deshalb, die Drohkulisse aufrechtzuerhalten beziehungsweise auszuweiten. Am Donnerstag sagte der russische Präsident, das Verteidigungsministerium sei im Begriff, Ziele für einen weiteren Vergeltungsschlag zu definieren. Dazu könnten auch «Zentren der Entscheidungsfindung» in Kiew gehören, womit Regierungsgebäude gemeint sein dürften. Der ukrainische Präsidentenpalast oder das Parlamentsgebäude waren bisher nie Ziele russischer Angriffe gewesen.

Putin erwähnte dabei auch die Möglichkeit eines weiteren Einsatzes der Oreschnik-Rakete. Eine gleichzeitige Verwendung mehrerer Waffen dieses Typs habe dieselbe Wirkung wie eine Atombombe. Die Serienproduktion der Oreschnik-Rakete habe begonnen, erklärte der russische Präsident. Weitere Waffen ähnlichen Typs seien in Planung. Die russische Rüstungsindustrie produziere zehn Mal mehr Raketen als alle Nato-Staaten zusammen. Für das nächste Jahr sei eine weitere Erhöhung der Produktion geplant.

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