Zum ersten Mal seit Monaten regnet es wieder Kamikaze-Drohnen, Raketen und Marschflugkörper auf die ukrainischen Städte. Kiew wehrt die Attacke grösstenteils ab – der Winter wird schwierig.
Zum ersten Mal seit fast drei Monaten hat Russland in der Nacht auf Sonntag die ganze Ukraine mit fast allen Waffen in seinem Arsenal angegriffen. Laut Angaben der Luftwaffe in Kiew setzte Moskau 120 Raketen und Marschflugkörper sowie 90 Drohnen ein. Zwar schossen die Verteidiger 144 Flugkörper ab, unter anderem mit F-16-Kampfjets. Trotzdem wurden mindestens sieben Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt. Es ist eine der grössten Attacken des Krieges.
Der Beschuss richtete sich, einmal mehr, primär gegen das Energiesystem. Wegen Schäden an Unterwerken mussten Atomkraftwerke die Produktion drosseln. Drei Regionen nahmen mehrere Stunden lang Notabschaltungen bei der Elektrizität vor. Auch die Eisenbahn stellte zeitweise auf Diesellokomotiven um, weil manche Linien keinen Strom hatten. Besonders betroffen war die Region Odessa, wo die Wasserversorgung ausfiel. Sie liegt nahe am Schwarzen Meer und bei der besetzten Halbinsel Krim. Viele der Raketen werden von Schiffen der russischen Flotte und Stellungen der Luftwaffe dort abgeschossen.
Wettlauf am Himmel über Kiew
Überraschend kam der Angriff für die Ukrainer nicht. Sie erleben nun schon den dritten Frühwinter, in dem Russland versucht, die Städte in Dunkelheit und Kälte zu versetzen. Es ist eine Strategie der Zermürbung, um die Bevölkerung zu demoralisieren, auch wenn Moskau stets behauptet, nur militärische Ziele anzugreifen.
In Kiew hatte sich die grosse Attacke besonders angebahnt: Seit Wochen beschiesst Moskau täglich die ukrainische Hauptstadt mit so vielen Shahed-Drohnen wie nie zuvor. Jüngst sprach Präsident Wolodimir Selenski von einer Verzehnfachung der Angriffe im Vergleich zum Herbst 2023. Experten gehen davon aus, dass die Russen damit versuchen, Schwächen und Lücken der Luftverteidigung zu finden. Sie setzen auch Drohnen ohne Sprengköpfe als Köder ein und lassen die unbemannten Flugobjekte in unterschiedlicher Höhe und aus verschiedenen Richtungen fliegen. Das erschwert die Abwehr und bindet Ressourcen.
Dennoch ist die Luftverteidigung der Hauptstadt im Vergleich zum restlichen Land gut aufgestellt. Hier stehen nicht nur amerikanische Patriot-Abwehrsysteme, sondern auch deutsche Iris-T und norwegische Nasams. Das Wettrüsten zwischen westlicher und russischer Hightech auf dem Schlachtfeld ist hier besonders ausgeprägt.
Dies zeigt auch der Angriff vom Wochenende. Laut Kiew setzten die Russen nicht nur Ch-101-Marschflugkörper in grosser Zahl ein. Dazu kamen erstmals seit Anfang Jahr auch wieder hochmoderne Hyperschallraketen des Typs Zirkon und Kinschal, gesamthaft neun Stück. Erstere wollen die Ukrainer abgeschossen haben, Letztere zumindest teilweise. Ihre grosse Geschwindigkeit und schwer berechenbare Flugbahn machen sie selbst für neuste westliche Systeme zu einer grossen Herausforderung.
Ukrainer in heikler Lage
Für die Ukraine erhöht der Angriff die Unsicherheit auf verschiedenen Ebenen. Zwar machte sie sich nie Illusionen über die gegen Zivilisten gerichtete Zerstörungswut ihres Gegners. Dennoch hielten sich seit Sommer Gerüchte, es gebe geheime Verhandlungen über ein gegenseitiges Ende der Attacken auf die Energieversorgung. Schliesslich hatte auch Kiew der russischen Infrastruktur erhebliche Schäden zugefügt, etwa mit Drohnenangriffen gegen Raffinerien.
Seit dem Wochenende dürfte eine Einigung noch unrealistischer geworden sein. Laut Dtek, dem Unternehmen, das die Stromverteilung in den wichtigsten ukrainischen Regionen betreibt, war dies die achte grosse Attacke in diesem Jahr. Seine Kraftwerke seien seit 2022 190-mal beschossen worden.
Wie belastbar das ukrainische Stromnetz nun zu Winterbeginn ist, bleibt ungewiss. Genaue Zahlen sind Verschlusssache, doch Experten glauben, dass durch Russlands Attacken die Hälfte bis zwei Drittel der Vorkriegskapazität von 37,6 Terawatt verlorenging. Zwar haben Flucht und der Verlust eines Teils des Staatsgebiets auch den Verbrauch verringert. Aber das System ist anfälliger geworden und stützt sich stark auf die verbliebenen Atomkraftwerke sowie Stromimporte aus dem Westen. Ob es funktionsfähig bleibt, hängt von der Stärke der Luftverteidigung und den weiteren russischen Angriffen ab.
Noch gefährlicher für die Ukrainer ist aber die weltpolitische Unsicherheit. Kaum zufällig stieg die Zahl der Angriffe unmittelbar nach Donald Trumps Wahlsieg um fast die Hälfte an. Moskau ist nicht entgangen, dass der Republikaner für Kiew ein deutlich unsicherer Verbündeter ist als sein Vorgänger und ein rasches Kriegsende um jeden Preis will. Für Wladimir Putin lohnt es sich, den Druck zu erhöhen – an der Front wie im Hinterland.
Ermüdungserscheinungen im Westen
Er kann hoffen, dass die westliche Allianz der Ukraine-Unterstützer weitere Ermüdungserscheinungen zeigt. Politiker wie Viktor Orban, die seit 2022 auf «Äquidistanz» zwischen West und Ost setzen, fühlen sich ohnehin bestätigt. Dazu kommen nun angezählte Figuren wie der deutsche Bundeskanzler, die sich als Vermittler positionieren wollen. Olaf Scholz telefonierte diese Woche erstmals seit 2022 mit Putin.
Russia launched one of the largest air attacks: drones and missiles against peaceful cities, sleeping civilians, critical infrastructure. This is war criminal Putin’s true response to all those who called and visited him recently. We need peace through strength, not appeasement.
— Andrii Sybiha 🇺🇦 (@andrii_sybiha) November 17, 2024
Resultate brachte das Gespräch zwar nicht. Kiew kritisierte es aber sofort als Zeichen an Putin, dass sich seine diplomatische Isolation lockere. Die neuste Attacke Russlands nutzte der ukrainische Aussenminister Andri Sibiha für eine Breitseite gegen Scholz: «Sie ist die Antwort des Kriegsverbrechers Putin an jene, die ihn kürzlich angerufen oder besucht haben.» Es brauche Frieden durch Stärke, kein Appeasement.