Mittwoch, Oktober 30

Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

26. Oktober

Der Fall Puschkins in Charkiw neigt sich dem Ende entgegen. Es begann mit der Zerstörung des Puschkin-Denkmals vor fast einem Jahr, dann wurde das nach Puschkin benannte Theater umbenannt (auf Wunsch der Theaterangestellten selbst, die so viele Jahre lang stolz auf den Namen gewesen waren, aber plötzlich eine Erleuchtung hatten). Dann übergoss jemand das Wandgemälde, auf dem Puschkin abgebildet war, mit roter Farbe, die offenbar Blut darstellen sollte.

Dann wurden die Einwohner von Charkiw aufgefordert, Puschkins Bücher ins Altpapier zu bringen, und in einem Charkiwer Café gab es für jeden zerstörten Puschkin-Band einen Rabatt auf Kaffee (von einer Hrywna). Die Charkiwer Entkolonisatoren begannen, diese gute Nachricht so freudig zu verbreiten, dass sie sich selbst schadeten. Die Leute dachten, dass lediglich Puschkin als Altpapier akzeptiert werde, und brachten nur Bücher von ihm, anstatt alle Bücher in russischer Sprache abzugeben, was die Infektion durch das russische gedruckte Wort vollständig zum Verschwinden gebracht hätte.

Dann wurden in der Metro von Charkiw Puschkins Gedichte vernichtet. Zum Beispiel dieses hier:

«Ich erinnere mich an jenen magischen Moment, als du mir zum ersten Mal erschienst. Wie eine flüchtige Vision, wie ein Omen reiner Schönheit und Freude . . .»

Die Einwohner unserer Stadt sollten das nicht lesen. Diese Metastase des russischen Imperiums musste so schnell wie möglich eliminiert werden.

Und schliesslich wurden vor einigen Tagen die letzten beiden Puschkin-Wandbilder übermalt. Die Ehre, dies zu tun, wurde der Künstlerin und Dichterin Dina Chmuzh zuteil, denn ein einfacher Maler vermag einen Akt von so bedeutender Symbolik nicht zu vollbringen.

Einerseits waren die Wandbilder aus künstlerischer Sicht ekelhaft, und die Wandbilder, die Dina Chmuzh selbst malt, sind tausendmal besser. Aber andererseits ist die Ehre, den letzten Puschkin in Charkiw zu übermalen, ungefähr so gross wie die Ehre, die Zarenfamilie zu erschiessen – und die Geschichte wird sich an sie erinnern, so wie sie auch diejenigen nicht vergessen hat, die Nikolaus II. und seine Nächsten ermordet haben.

Nikolaus II. wurde nicht hingerichtet, weil er schuldig war, sondern weil er ein ideologisch falsches Symbol darstellte. Puschkin wird aus demselben Grund beseitigt: Er ist ein ideologisch falsches Symbol. Russland hat Puschkin immer benutzt, wie eine läufige Katze ihren Urin benutzt: um ihr Revier zu markieren. Aber das bedeutet nicht, dass Puschkin per se schlecht ist, sondern dass mit Russland etwas nicht stimmt.

Die Entkolonisatoren indes verstehen diesen feinen Unterschied nicht und machen Puschkin für alle möglichen und unmöglichen Sünden verantwortlich: von der Graphomanie bis zum Hass auf die Ukraine. Das erinnert mich an eine Geschichte, welche der Kinderbuchautor Kornei Tschukowski einmal erzählt hat.

Diese ereignete sich in den dreissiger Jahren, auf dem Höhepunkt von Stalins Terror. Ein Lehrer verkündete überraschend, Puschkin persönlich habe mit dem Gedicht «Kirsche» Stalins Verfassung vorbereitet. Das war ziemlich unlogisch, denn «Kirsche» ist ein Gedicht erotischen Inhalts, aber Puschkin bereitete darin dennoch das Terrain für Stalins Verfassung.

In der Zwischenzeit lässt der Rektor einer der grössten ukrainischen Universitäten wissen, dass die russische Literatur in der Ukraine fortan nur noch unter der Aufsicht eines Spezialisten studiert werden kann. Das muss ein rechter Fachmann sein, der erklären kann, wie die russische Literatur von Dostojewski zu Prilepin, einem wütenden Putinisten, kam. Das heisst dann wohl, man kann nicht einfach einsam in seiner Kammer über Dostojewski brüten, sondern man muss dies unter Aufsicht und im Zusammenhang mit Prilepin tun.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Auch die Einteilung der Nationen in gute und schlechte Exemplare ist nicht neu. Tatsächlich vollzog sich darin die sowjetische Version von Rassismus. Historiker schätzen, dass in der Sowjetunion etwa sechs Millionen Menschen (vier Prozent der Gesamtbevölkerung) als Angehörige schlechter Nationen eingestuft wurden. Neben den Krimtataren waren das meschetische Türken, Inguschen und Tschetschenen. Und natürlich waren es die Sowjetdeutschen, die zum schlimmsten Volk ernannt wurden: Waren sie doch die Feinde, welche einst um vier Uhr morgens heimtückisch das Vaterland angegriffen hatten, ohne den Krieg zu erklären.

Das Verbot des freien Gebrauchs der deutschen Sprache, das Fehlen deutschsprachiger Buchverlage, eines Deutsch-Bezugs im nationalen Bildungssystem oder der Möglichkeit, an deutschsprachiger Kultur Anteil zu nehmen, führten dazu, dass während der Sowjetzeit innerhalb von etwa zwanzig Jahren, also einer Generation, die Sprachkenntnisse der jungen Sowjetdeutschen verschwanden. Auch das Deutsch der sowjetischen Intelligenzia und in den Kirchen verschwand.

Damit wurde ein totaler und unumkehrbarer Kulturozid begangen. Übrigens sprach einer der Ideologen des ukrainischen Nationalismus, Dmitri Donzow, in seiner Kindheit Deutsch, obwohl er in der Ukraine geboren worden war und dort lebte. Nach Stalin hörte Deutsch in der Sowjetunion so gut wie auf zu existieren.

Zur Person

PD

Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?

Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 398. Beitrag des vierten Teils.

Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.


Serie: «Kriegstagebuch aus Charkiw»

Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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