Mittwoch, Januar 15

Neu zugängliche Dokumente zeigen: Schon 1993 – nach dem Ende des Kalten Kriegs – nahm man in der Schweiz den russischen Revanchismus gegenüber den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR als Bedrohung wahr.

«Der Einsatzraum der russischen Armee umfasst Russland und das ‹grenznahe Ausland›. Auf militärischer Ebene geht es bei derartigen Einsätzen um die ‹operative Stabilisierung von Spannungsherden›, was sowohl Verteidigungs- wie Angriffshandlungen umfassen kann.» Dies hält Bundesrat Kaspar Villiger im Spätherbst 1993 von seinem Gespräch mit dem russischen Verteidigungsminister Pawel Gratschow in einer Notiz fest, die kürzlich von der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) veröffentlicht worden ist. Die in Europa erstmalige Äusserung eines Mitglieds der russischen Führung zu Moskaus neu verabschiedeter Verteidigungsdoktrin, knapp zwei Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, erscheint heute in einem neuen Licht.

Nehmen Gratschows Ausführungen den als «militärische Spezialoperation» bezeichneten Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vorweg?

Tief verwurzelte Feindbilder

Ein Blick zurück auf die historischen Zusammenhänge: Gratschows Aufenthalt in Bern 1993 ist der Gegenbesuch zu einer Reise, die Bundesrat Villiger im April 1989 nach Moskau geführt hat. Der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements besucht damals noch die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Der Besuch beim «BöFei», dem «bösen Feind», dessen möglicher Angriff während Jahrzehnten das zentrale Bedrohungsszenario der hochgerüsteten Schweizer Armee war, steht sinnbildlich für einen Wandel.

Der Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow führt die UdSSR seit 1986 nicht nur in eine Phase der Demokratisierung (Glasnost und Perestroika), sondern verabschiedet sich auch von der sowjetischen Dominanz über Osteuropa, setzt auf Abrüstung und trägt so massgeblich dazu bei, dass schliesslich der Kalte Krieg mit den USA und Westeuropa beendet wird.

Nach dem Augenschein in der UdSSR trauen der Bundesrat und seine Militärs diesem Geist der Öffnung 1989 aber nicht. «Die Skepsis vor Beginn der Reise ist nicht gewichen», hält Villiger fest, «ganz im Gegenteil.» Die sowjetischen Streitkräfte hätten nicht nur nach wie vor tief verwurzelte Feindbilder, steht im offiziellen Reisebericht, sie würden diese auch benötigen und gezielt pflegen. «Bevor diese Sachlage sich nicht ändert, sind wirkliche Veränderungen nur sehr langsam möglich. Verschwinden diese Feindbilder (oder wird sich die Bevölkerung vollumfänglich bewusst, in welchem Umfang sie von einer korrupten und auf die eigenen Privilegien bedachten Oberschicht hintergangen worden ist), so sind eigentliche Erdrutsche nicht auszuschliessen.»

Tatsächlich stürzen noch 1989 Revolutionen die kommunistischen Regime in ganz Osteuropa. In Berlin fällt die Mauer. Im Oktober 1990 ist Deutschland wiedervereinigt. Im sowjetischen Sicherheitsapparat lösen der Machtzerfall im ehemaligen Einflussgebiet sowie die Unabhängigkeitserklärungen der baltischen Sowjetrepubliken existenzielle Ängste aus. Verteidigungsminister Dmitri Jasow, dem Villigers Besuch 1989 gilt, gehört zur Gruppe der Apparatschiks, die im August 1991 einen erfolglosen Putsch gegen Gorbatschow unternehmen. Als strahlender Sieger geht aus dem Machtkampf der russische Präsident Boris Jelzin hervor. Nun folgt, was in dieser Form niemand erwartet hätte: Die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei sowie die UdSSR als Grossreich lösen sich bereits Ende 1991 buchstäblich in Luft auf.

Mit der Sowjetunion und ihrer alten Garde verschwindet auch Marschall Jasow von der Bühne. Als russischer Verteidigungsminister folgt auf ihn General Pawel Gratschow, der sich als Kommandant einer Garde Luftlande-Division beim Putsch im August 1991 auf die Seite Jelzins gestellt hat. Die neue Militärdoktrin, die in chaotischen Zeiten eine Politik der Stärke im Innern und Äussern propagiere und so den Streitkräften neues Prestige und neue Mittel verschaffen solle, sei eine Folge des Schulterschlusses zwischen Jelzin und Gratschow, schreibt der Schweizer Nachrichtendienst in einer Analyse.

Annäherung an die Nato

Doch gibt es nach dem Zerfall der Sowjetunion durchaus hoffnungsvolle Zeichen einer Annäherung zwischen Russland und dem Westen, auch im sicherheitspolitischen Bereich.

Eine Delegation des schweizerischen Generalstabs berichtet im Sommer 1992 von Gesprächen in Moskau, die Exponenten der russischen Sicherheitspolitik seien sich einig, dass vom Westen keine Bedrohung mehr ausgehe: «In zahlreichen Fällen habe man heute nicht mehr nur keine Gegensätze mehr zur Politik der Nato und der USA, sondern – im Gegenteil – identische Interessen.» Es werde deshalb in Russland als wesentlich betrachtet, langfristig Teil einer europäischen Sicherheitsarchitektur zu werden und bereits kurzfristig mit der Nato ein partnerschaftliches Verhältnis aufzubauen.

In diesem Punkt befinden sich die gefallene Grossmacht Russland und der neutrale Kleinstaat Schweiz zu Beginn der 1990er Jahre anscheinend in einer gar nicht so unähnlichen Situation. Auch der Bundesrat möchte sich nach dem Ende des Kalten Kriegs sicherheitspolitisch neu orientieren. Die Armee will sich verstärkt an friedenserhaltenden Aktionen der Vereinten Nationen beteiligen. Bald schon soll ein erstes schweizerisches Uno-Blauhelmbataillon aufgestellt werden – ein Projekt, das allerdings 1994 an der Urne scheitern wird.

Die als entwertet angesehene Rolle der Neutralität für die europäische Politik und die verlorene autonome Verteidigungsfähigkeit der Schweizer Armee legen eine verstärkte sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf dem Kontinent nahe. Die just im Herbst 1993 lancierte Nato-Initiative für eine Partnerschaft für den Frieden (PfP) kommt dem Bundesrat entgegen. Sie ermögliche einen «lockeren, allmählichen Einstieg der Schweiz in gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen», freut sich das Aussendepartement. Die Schweiz tritt dem PfP-Programm der Nato 1996 bei. Russland tut dies bereits 1994.

Hegemoniales Handeln

Entsprechend findet der Besuch Gratschows eigentlich in einer «ausgezeichneten Atmosphäre» statt. Villiger ist es gar der Eintracht zu viel. Sein Gesprächspartner, wie er notiert, legte «verschiedentlich Wert darauf, eine Übereinstimmung der Haltungen beider Länder festzustellen, so dass es notwendig war, gewisse Unterschiede in der Auffassung explizit hervorzuheben».

Die dezidierte Differenzierung betrifft vor allem die schweizerische Überzeugung, dass friedenssichernde Militäreinsätze einwandfrei durch ein Mandat der Uno oder der KSZE legitimiert sein müssen. Gratschow dagegen lasse wenig Zweifel offen, «dass Russland nach wie vor an einer Stabilisierungspolitik mit hegemonialem Hintergrund festhält und diese wenn möglich als Friedenssicherung erscheinen lassen möchte». Dies bestätigt sich im Dezember 1994. Verteidigungsminister Gratschow ist eine treibende Kraft hinter der äusserst brutalen Militärintervention der Armee gegen die abtrünnige russische Kaukasusrepublik Tschetschenien.

Im Vorfeld und im Nachgang des Besuchs Gratschows bei Villiger bildet die Rolle Russlands in Bezug auf sein «nahes Ausland» Gegenstand verschiedener Diskussionen in Diplomatie und Öffentlichkeit. Schon Ende August 1993 warnt die NZZ auf der Titelseite vor Moskaus Ansprüchen als Ordnungsmacht auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. In Estland und Lettland diene die anhaltende Anwesenheit russischer Truppen als politisches Druckmittel.

Auch in Transnistrien, das sich von der neu gegründeten Republik Moldau abspalten will, in Georgiens sezessionistischer Region Abchasien sowie in Tadschikistan, wo ein Bürgerkrieg ausgebrochen ist, markiere die russische Armee Präsenz und scheine die Auseinandersetzungen «manchmal eher zu schüren als einzudämmen».

Irrationaler Nationalismus droht

In einem Positionspapier vom November 1993 hält das EDA fest, Russland habe gegenüber dem benachbarten Ausland zwar durchaus berechtigte Sicherheitsinteressen. In umgekehrter Richtung gelte dies aber in noch höherem Ausmass – etwa für Länder wie Estland oder die Ukraine. Die Schweiz habe eine besondere Verantwortung, die Anliegen von Staaten zu berücksichtigen, welche als «Spielball der Grossmächte» missbraucht werden könnten, und müsse jeder Unterminierung von deren Souveränität konsequent entgegentreten.

Konsens besteht darin, dass der Schlüssel für eine friedliche Zukunft des Kontinents die Integration Russlands in europäische Strukturen darstellt.

«Russland hat den dritten Weltkrieg verloren. Das sollten wir nie vergessen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir uns ihm gegenüber verhalten sollen», formuliert der schweizerische Botschafter in Moskau, Jean-Pierre Ritter, im Februar 1994. «Wir haben es mit einem Staat zu tun, der sich in der moralischen Situation Deutschlands von 1919 befindet.» Gefühle der Erniedrigung und Enttäuschung könnten zu einem übersteigerten und irrationalen Nationalismus führen, so Ritter. Deshalb solle der Westen in seinem ureigenen Interesse offen, freundschaftlich und einladend auf Russland zugehen. «Die Integration Russlands in das europäische Konzert ist der einzige Weg, um zu verhindern, dass es in eine aggressive Politik zurückfällt.»

Dies ist keine Vorhersage des Ukraine-Kriegs. Doch legt die Debatte von 1993 die Ambivalenzen im sicherheitspolitischen Verhältnis der Schweiz zu Russland offen, die auch für die folgenden drei Jahrzehnte prägend sein werden. Diese Beziehung ist einerseits determiniert durch das klare Bewusstsein für Russlands Anspruch, politischen Einfluss bis hin zu illegitimer militärischer Gewalt über seine Nachbarstaaten ausüben zu können, und andererseits durch die immer wieder enttäuschten Hoffnungen, dieser Anspruch liesse sich durch eine politische und wirtschaftliche Einbindung des Landes in ein gesamteuropäisches System neutralisieren. Die sukzessive aufzuarbeitenden historischen Quellen werden zeigen, wie sich dieser Prozess im Zuge der folgenden Jahre hin zum 24. Februar 2022 entwickelt.

Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). Die erwähnten Dokumente sind online verfügbar: dodis.ch/C2601.

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