Mittwoch, November 12

Russlands Fixierung auf die USA ist geradezu krankhaft. Nun frohlockt man im Kreml, dass die Unterstützung für die Ukraine fällt. Doch die Sache ist kompliziert.

Zum Mantra des Putin-Regimes gehört die Betonung der Souveränität Russlands und die Dämonisierung der USA als Quelle fast allen Übels auf der Welt. Die Fixierung auf Amerika ist geradezu krankhaft. Etwas vom Schmeichelhaftesten scheint es für viele Russen zu sein, Lob aus dem Munde von Amerikanern zu hören. Was amerikanische Politiker von sich geben, wird auf Vor- und Nachteile für Russland abgeklopft. Schwang in den Beobachtungen des amerikanischen Gegners lange Zeit eine Portion Ehrfurcht mit, sind es jetzt vor allem Mitleid und Besorgnis über die Auswüchse des amerikanischen Wahlkampfs.

Frohlocken über Vance

Hoffnung verbinden viele mit Donald Trump, der in Russland weitherum ziemlich positiv gesehen wird. Das Attentat vom Samstag bestärkte den Chef-Propagandisten Wladimir Solowjow in seinen Ahnungen: Das Szenario eines Anschlags auf das Leben Trumps hätten er und seine Gäste schon oft besprochen, so leitete er seine Diskussionssendung ein. Er hielt sich auch mit Verschwörungstheorien nicht zurück: Trump sei gegen den dritten Weltkrieg, aber der Westen versuche alles, um den Politiker zu stoppen. Die ganze Entwicklung sei natürlich eine «Tragödie für Selenski», sagte er und insinuierte damit: Wenn Trump die Präsidentschaftswahl gewinnt, hat die Ukraine definitiv verloren. So tönte es auch aus zahlreichen Telegram-Kanälen.

Diese Sicht hat mit der Wahl von J. D. Vance zu Trumps Vizepräsidentschaftskandidaten in zahlreichen russischen Reaktionen an Gewicht gewonnen. Dass Vance eine «Katastrophe für die Ukraine» ist, wie das Magazin «Politico» schrieb, fand ebenso Resonanz wie Vances Aussage von 2022, das Schicksal der Ukraine sei ihm egal. Später sagte er, die USA sollten aufhören, die Ukraine zu finanzieren; jeder, der einigermassen denken könne, verstehe, dass es Verhandlungen geben müsse und dass die Ukraine ohnehin ein zerstörtes Land sei.

Trumps «wohldurchdachten Plan» für die Ukraine, den auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban in einem Brief an führende EU-Politiker erwähnte, nannte Vance nun eine Priorität nach einem Wahlsieg im November. Solowjows Propagandisten-Schar mahnte dazu, sich gut darauf vorzubereiten. In Trump und Vance sehen Russlands Erzkonservative oder «Traditionalisten», wie sie sich selbst gerne nennen, ideologische Verbündete. Aber weder im Zusammenhang mit dem Krieg noch in jenem mit Amerikas Stellung in der Welt ist die Sache aus russischer Sicht so eindeutig. Auch Trump-Bewunderer und Vance-Unterstützer warnen vor Illusionen.

In den eigenen Reihen aufräumen

Wie der Kinoregisseur und Solowjow-Dauergast Karen Schachnasarow vermuten sie, auch bei einem republikanischen Wahlsieg würden «Klasseninteressen» überwiegen. Erst wenn der Krieg nichts mehr bringe, werde es zum Umdenken kommen. Ein «patriotischer» Telegram-Kanal bezeichnet Vance gar, mit Verweis auf seine Karriere in der Wirtschaft, seine in Kalifornien aufgewachsene Frau und sein Studium an der Eliteuniversität Yale, als «künstlichen Prinzen des Deep State» – also mitnichten als jemanden, der wirklich mit dem System bricht.

Schachnasarow plädierte vielmehr dafür, auf das eigene Land zu schauen und die eigenen Hausaufgaben zu machen. Russland sei gespalten in die Kämpfer mit den «einfachen Gesichtern der Arbeiter aus den Dörfern», die sich an der Front ins Zeug legten, und die Schickeria, die sich in den Städten vergnüge und das Geld verprasse, das den Soldaten im Kampfgebiet fehle. Auf diese Weise gewinne Russland die Schlacht gegen den Westen nicht.

Auch der patriotische Militärkommentator Roman Aljochin schrieb, zu viele setzten in Russland Hoffnungen auf Trump. Dabei habe dieser doch in erster Linie das Wohl der USA im Blick. Es lohne sich für Russland, jetzt erst recht in der Ukraine noch weiter voranzukommen, um vor einem Frieden mehr Territorien zu erkämpfen, als Russland 2022 annektiert hatte. Deren Anerkennung als Teil Russlands hatte Putin jüngst zur Vorbedingung für Friedensgespräche gemacht.

Konfrontation wird weitergehen

Angesichts der Verunsicherung, die Joe Bidens Schwäche und Trumps Siegeszug in Europa auslösten, fühlt sich Russland in vorteilhafter Position. Selbst wenn Vance Trumps Position zur Ukraine noch stärker zu radikalisieren vermag, ist für manche Kriegstreiber in Russland ein Frieden nach deren Lesart nicht unbedingt erstrebenswert.

Die nüchterneren russischen Betrachter sind sich im Klaren darüber, dass auch ein Friedensarrangement zwischen Russland und den USA die Konfrontation zwischen den beiden Grossmächten vorerst nicht beenden wird. Im Nahen Osten etwa unterscheiden sich die Positionen Trumps und Vances von denjenigen Russlands diametral. Ein wenig thematisierter Aspekt sind auch die Folgen von Trumps Fokussierung auf China für Russland. Mit der Verbrüderung Moskaus und Pekings ist Russland unweigerlich Teil der chinesisch-amerikanischen Konfrontation, unabhängig davon, ob es Putin und Trump gelingen könnte, ihr bilaterales Verhältnis zu verbessern.

Die Europäer schliesslich betrachtet Russland als von Washington ferngesteuert. Sie hätten sich mit Beginn des Ukraine-Krieges dazu entschieden, keine eigenständige Position gegenüber Russland einzunehmen, sondern sich voll und ganz den USA auszuliefern, schrieb der zum Kreml loyale Aussenpolitik-Experte Fjodor Lukjanow in der Regierungszeitung «Rossiskaja Gaseta». Deshalb reagierten sie jetzt besonders hysterisch auf einen möglichen Wahlsieg Trumps. Vielleicht liessen sie sich von Trump und Vance aber auch auf deren Seite ziehen und versagten der Ukraine weitere Unterstützung, frohlockte ein Telegram-Kanal.

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