Von Rilke bis Merkel verläuft ein roter Faden: Russland ist für manche im Westen ein Raum fiebriger Projektionen.
Neulich wurde bei einer Sitzung des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation verlautbart, im Krieg seien eine Million Ukrainer getötet worden. Eine offenbar hoch gegriffene Zahl, aber Genauigkeit spielte hier keine Rolle, es ging um die Freude über die Verluste auf der gegnerischen Seite. Sowohl der Patriarch als auch der Präsident und die ganze versammelte Truppe triumphierten.
Russland ist nicht Europa. Das lässt sich am Beispiel der paradoxen historischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland verstehen. Russland ist sehr wohl bereit, von Europa die neuesten Technologien zu übernehmen, doch die Werte unterscheiden sich dermassen, dass innerhalb einer Sekunde Freundschaft in Feindschaft umschlagen kann.
Wäre nicht Krieg, brauchte man eine brutale russische Redensart aus dem 18. Jahrhundert nicht in Erinnerung zu rufen. Sie wird Suworow zugeschrieben, dem Oberbefehlshaber der russischen Armee, der für alle Zeiten konstatierte: «Was gut ist für den Russen, ist des Deutschen Tod.»
Das Sprichwort ging auf eine Anekdote zurück: Ein russischer Soldat kippte fröhlich reinen Alkohol in sich hinein, ein deutscher Veterinär, der meinte, es sei Wodka, trank das Zeug und starb. Will heissen: Der Russe besiegt den Deutschen in Sachen Draufgängertum. Genau das ist für den Russen der wichtigste Sieg.
Beziehung mit Widersprüchen
So erstaunlich es sein mag, aber das ist bis heute aktuell: Die Heldentaten des russischen Recken, der zu allem bereit ist – das ist die Grundlage des russischen Geistes. Und solch einen Geist findet das rationale, besonnene Europa abstossend. Es vermag in jenem Obskurantismus, bei dem unter Gleichgesinnten selbst noch der Tod schön ist, keinen Fortschritt der Menschheit zu erkennen.
Und wann, wenn nicht jetzt, da die russische Welt einen gnadenlosen Krieg gegen die Ukraine und damit auch gegen den Westen führt, sollte man über das Paradoxon der russisch-deutschen Beziehungen sprechen, die historisch immer schon auf einem inneren Widerspruch beruhten? Die deutsche Welt steht für Ordnung und Multipolarität, die russische Welt dagegen für Unordnung in alternativloser Autokratie. Doch es existiert ein Raum, der dem Rationalen übergeordnet ist und in dem es Berührungspunkte zwischen Deutschen und Russen gibt.
Deutsche Bürokratie hat historisch gesehen jahrhundertelang in Russland den Ton angegeben, der russische Zarenhof war mit den Deutschen nicht nur verwandtschaftlich verbunden, sondern wurde 34 Jahre lang von der deutschen Zarin Katharina der Grossen beherrscht.
Die Russen haben für die Deutschen bekanntlich ein besonderes Wort. Sie heissen nicht Germanzy, sondern Nemzy, was so viel wie die nicht (Russisch) Sprechenden bedeutet. In der Nemezkaja Sloboda, der Deutschen Vorstadt im Nordosten Moskaus, gingen die Deutschen seit dem 15. Jahrhundert ihren Geschäften nach.
Aber das Interessanteste ist: Zwischen Russen und Deutschen waren es schon immer nur zwei Schritte von der Liebe zum Hass. Wie viele es waren, die sich gegenseitig umbrachten, lässt sich gar nicht zählen. Und nach den Kriegen findet der Deutsche immer wieder geschäftliche, kulturelle, alltägliche und romantische Beziehungen zu Russen.
Flegelhaftes russisches Benehmen
Ohne Goethe und Kant hätte der russischen Kultur etwas gefehlt, ohne Nietzsche wäre das russische silberne Zeitalter zu Beginn des 20. Jahrhunderts wohl kaum so aufgeblüht. Ohne Schiller hätte es den enormen Erfolg des jungen Dostojewski nicht gegeben, ohne Novalis hätte die russische Romantik vollkommen anders ausgesehen.
Ohne das Geld des Generalstabs der deutschen Armee hätte es auch Lenins russische Revolution nicht gegeben. Ohne Molotow und Ribbentrop wäre es vielleicht nicht zum Zweiten Weltkrieg gekommen. Hitler war für die Russen die Ausgeburt der Hölle schlechthin, den Deutschen assistierten die Russen beim Bau der Berliner Mauer, aber mit der tatkräftigen Hilfe Gorbatschows konnten sie diese einreissen.
Vor diesem Hintergrund klingen die Gespräche der deutschen Bundeskanzlerin Merkel mit Putin zu Fragen staatlicher Interessen banal. Zuerst gab es die Illusion, dass das beiderseitige Interesse an Nord Stream 2 eine grossartige Perspektive biete. In Wahrheit begann Putin sich nach und nach als Führer der russischen Welt zu sehen – der besten aller Welten. Seine Rede in München 2007 über die multipolare Welt war bereits Aggression, wenn auch noch eine verbale.
Doch neben derlei Deklarationen nehmen in der russischen Welt Aufsässigkeit, flegelhaftes Benehmen und unbotmässiges Verhalten einen wichtigen Platz ein. Da erscheint Putin zu einer bedeutenden G-8-Sitzung mit 45 Minuten Verspätung, denn er verspürt plötzlich Lust auf sein deutsches Lieblingsbier. Oder dann die Geschichte mit Putins Lieblingshund, der die sichtlich irritierte Merkel bedrängt hatte. Im russischen Traum ist diese Art der Aggressivität nicht weniger wichtig als das staatliche Interesse an Nord Stream 2.
All diese Details im Verhalten sind Vorzeichen weitergehender Aggressionen. Aus deutscher Perspektive waren das bloss unangenehme Lappalien.
Osterfest in Moskau
Blickt man in die künstlerischen Sphären, dann ist ein Dialog unter Russen und Deutschen möglich. Es hat ihn in der Tat auch gegeben. Rilke ist dafür das schönste Beispiel.
Den Ursprung seiner Liebe zu Russland verdankte Rilke seiner Freundin, der russisch-deutschen Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé. Im April 1899 machten sich beide gemeinsam auf den Weg nach Russland. Enttäuscht von den Werten der rastlosen westlichen Welt, war Rilke offen für eine begeisterte Wahrnehmung Russlands. Just zum Höhepunkt der Karwoche kam er in Moskau an.
Das russische Osterfest, der Klang der Kirchenglocken, die Massen inständig betender Pilger – all das berührte den Dichter in tiefster Seele. «Zum ersten Mal im Leben hatte ich ein unausdrückbares Gefühl, etwas wie ‹Heimgefühl›», gestand er. Er sah vor sich ein junges Land, unangefochten vom zersetzenden Einfluss der überzivilisierten westlichen Welt. «Dieses ist das Land des unvollendeten Gottes!», rief der Dichter aus. Rilke widmete Russland viele Jahre seines Lebens.
An seinem Lebensende war er ein leidenschaftlicher Verehrer der russischen Dichterin Marina Zwetajewa. «Wellen, Marina, wir Meer! Tiefen, Marina, wir Himmel. / Erde, Marina, wir Erde, wir tausendmal Frühling, wie Lerchen, / die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft», heisst es in der Zwetajewa gewidmeten Elegie.
Natürlich war Zwetajewa von diesen Worten aufgewühlt. Sie fasste das, was sie an Rilke so bezauberte, sogleich in Worte: «Rainer Maria Rilke! Darf ich Sie so anrufen? Sie, die verkörperte Dichtung, müssen doch wissen, dass Ihr Name allein – ein Gedicht ist.»
Im Dezember 1925 wurde in ganz Europa Rilkes 50. Geburtstag gefeiert. Viele Menschen unterschiedlichsten Alters und Berufs, unzufrieden mit der moralischen Lage in der modernen Welt, fühlten sich zu Rilke hingezogen, da sie in seiner Persönlichkeit und seinen Werken die Möglichkeit sahen, der «Seelenlosigkeit» ihrer Zeit etwas entgegenzusetzen.
Für Marina Zwetajewa selbst verwandelten sich Wirklichkeit und Traumbilder bisweilen in Tragödien. In der Pariser Emigration lebte sie mit ihrem Mann Sergei Efron, einem Offizier der Weissen Garde, der schliesslich Agent des NKWD wurde. In den Jahren des Grossen Terrors kehrten sie in die Sowjetunion zurück, er wurde erschossen und Marina Zwetajewa zu Beginn des Krieges an die Wolga evakuiert, wo sie sich das Leben nahm.
Tatsächlich war Rilke unter den Deutschen beziehungsweise Österreichern nicht der einzige seiner Art. Mag sein, dass er in seiner Russlandbegeisterung einfach nur radikaler war als andere. Aber die Vorstellung von tiefen vertrauten Gesprächen, wilden Tänzen, Festen, mystischen Offenbarungen traf auf die eine oder andere Weise auf viele deutsche Reisende zu, die die Andersartigkeit Russlands als himmlische Auszeit auffassten.
Fortsetzung des schwierigen Dialogs
Es sind einem in Moskau oft kreative Deutsche unterschiedlichen Alters begegnet, von Hippies bis zu bekannten Journalisten, Regisseuren, Produzenten, Geschäftsleuten und Schriftstellern. Selbst Diplomaten fanden bei all ihren Verpflichtungen die Debatten russischer Künstler stets anregend. Einige sagten, dass sie gerade in Russland frei leben könnten, das Leben hier kam ihren Wünschen entgegen.
Natürlich fanden sich in der russischen Philosophen- und Literatenszene auch antieuropäische Aktivisten. Sie wirkten allerdings eher wie schräge Vögel, und ihr Nationalismus schien ungefährlich. Das begann sich erst zu ändern mit dem Heranwachsen der russischen Welt in Putin selbst. Einige hochgestellte Liberale änderten ihre Position, andere waren von Anfang an Putins Gleichgesinnte.
Die russische Nachkriegswelt könnte, falls es eine Phase liberalen Tauwetters gibt, eine Quelle neuer kreativer Offenbarungen sein. Was aber die kollektive Schuld für den Krieg gegen die Ukraine betrifft, so wird sich zunächst niemand dazu bekennen. Mit dem Wechsel der Generationen ist jedoch alles möglich. Und die neuen deutschen Russlandreisenden werden der Bevölkerung mit einem komplizierten Gefühl von Ablehnung und Neugier gegenübertreten.
Erst allmählich kann sich Neugier in den Wunsch nach Traumbildern verwandeln, ein neuer Rilke kann einer neuen Zwetajewa begegnen – und der schwierige russisch-deutsche Dialog könnte so seine Fortsetzung finden.
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew lebt seit Beginn des Ukraine-Krieges im Exil in Deutschland. – Aus dem Russischen von Beate Rausch.