Freitag, September 27

Der russische Präsident Wladimir Putin hat Anpassungen an der Nukleardoktrin angekündigt. Revolutionär sind sie nicht. Aber sie sollen die westlichen Unterstützer der Ukraine verunsichern.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Mittwochabend eine neue, kaum verschleierte Warnung an die westlichen Unterstützer der Ukraine gesandt, Russland nicht zu unterschätzen. In einem kurzen, vom Fernsehen übertragenen Auftritt vor der sonst geheim tagenden Ständigen Kommission des Sicherheitsrats zur nuklearen Abschreckung stellte er Modifikationen an der russischen Nukleardoktrin vor. Dieses Dokument regelt den Einsatz der Atomwaffen. Seit einigen Monaten hatten Putin und höhere Funktionäre von der Notwendigkeit gesprochen, diese Regeln den neuen Umständen anzupassen.

Präventivschläge bleiben tabu

Nun scheinen die Überlegungen westlicher Staaten, der Ukraine den Einsatz der von ihnen gelieferten weitreichenden Waffen auch auf russischem Territorium zu erlauben, den Zeitpunkt für Putins Äusserungen bestimmt zu haben. Eine dramatische Wendung bringen die Neuerungen nicht. Atomare Präventivschläge, wie sie von Experten empfohlen und von Propagandisten inbrünstig gefordert wurden, bleiben weiterhin tabu. Russland senkt formal die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen, verschafft sich aber zugleich auch mehr Spielraum dabei und schürt so Verunsicherung bei den Gegnern. Letzteres dürfte das Hauptziel des Vorhabens sein. Nach innen und aussen operiert das Regime vorzugsweise mit Unberechenbarkeit als Machtinstrument.

Russland weitet die atomare Abschreckung auf mehr Staaten und Bündnisse aus, als das bis anhin der Fall gewesen war, und erweitert auch die Liste mit den militärischen Bedrohungen, auf die es mit Massnahmen der nuklearen Abschreckung reagiert. Präziser äusserte sich Putin hierzu nicht.

Wichtiger und konkreter ist die Ankündigung, jede Aggression gegenüber Russland, die von einem Staat ohne Atomwaffen ausgehe, aber mit Unterstützung einer Atommacht oder zusammen mit dieser ausgeführt werde, als gemeinsamen Angriff auf Russland zu betrachten. Darin lässt sich unschwer eine Antwort auf die Unterstützung der Ukraine durch die Nuklearmächte USA, Frankreich und Grossbritannien erkennen. Ohnehin verbreitet der Kreml unbeirrt die Meinung, die Kiewer Führung handle stets nur auf Anweisung aus westlichen Hauptstädten.

Worin Moskau genau den Kipppunkt sieht, der die rüstungstechnische Hilfe zu einer gemeinsamen Aggression macht, bleibt offen. Putins Warnungen vor zwei Wochen nach zu urteilen, läge er beim Einsatz westlicher Raketen gegen Ziele im russischen Kernland. Ob das wirklich so ist, bleibt jedoch fraglich. Solche Äusserungen dürften hauptsächlich der Drohkulisse dienen. Schon den Einsatz weitreichender Waffen gegen russische Ziele auf der besetzten Krim hatte Moskau als «rote Linie» dargestellt, doch diesen später wohl oder übel hingenommen.

Drohnen könnten atomare Reaktion hervorrufen

In der revidierten Atomdoktrin werden auch die Angriffswaffen, von denen die Bedrohung Russlands ausgeht, präzisiert. Drohnenschwärme, die die russische Grenze überqueren, gehören neu ebenso dazu wie die taktische Luftwaffe, Marschflugkörper, Hyperschallraketen und andere Flugkörper. Sobald glaubwürdige Informationen über deren Start und Eindringen in den russischen Luftraum vorlägen, solle künftig die Anwendung von Atomwaffen in Betracht gezogen werden, sagte Putin. Strenggenommen würden umfangreiche ukrainische Drohnenangriffe, wie sie in den vergangenen Wochen mehrmals gegen strategisch wichtige Ziele in Russland erfolgten, bereits unter diese Kategorie der Bedrohung fallen.

Schliesslich wird auch Weissrussland explizit in die Überlegungen einbezogen. Ein Angriff auf den Nachbarn würde demnach gleich behandelt wie einer auf Russland. Russland hatte sich schon jetzt vorbehalten, Verbündete mit seinem Atomschirm zu schützen. Weil mittlerweile atomwaffenfähige Raketen in Weissrussland stationiert sind und das Land in totaler Abhängigkeit von Moskau steht, ist es nicht verwunderlich, dass der Kreml auch diesen Schritt macht.

Das gilt nach Putins Worten bereits dann, wenn ein Gegner mit herkömmlichen Waffen die Souveränität beider Staaten bedroht. Auch das setzt die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen tiefer, als es in der bisherigen Fassung der Doktrin der Fall gewesen war. Dort war die Rede von der Bedrohung der Existenz des Staates gewesen.

«Rote Linien» bleiben verschwommen

Offene und versteckte Drohungen mit Russlands Atomwaffen-Potenzial begleiten den Krieg gegen die Ukraine seit dem Grossangriff am 24. Februar 2022. Putin hatte damals in seiner Rede den Westen davor gewarnt, Russlands «militärische Spezialoperation» durch Unterstützung der Ukraine zu behindern, und nie da gewesene Konsequenzen angedroht für den Fall der Missachtung dieser Warnung.

Seither hat es zahlreiche Momente gegeben, in denen westliche Politiker und Kommentatoren befürchteten, der Kreml könnte zum Äussersten greifen – nicht zuletzt auch deshalb, weil Vernichtungsphantasien an die Adresse des Westens fast normal geworden sind in russischen Fernseh-Talkshows und angesehene Experten laut über nukleare Präventivschläge gegen Ziele in Europa nachdachten. Der Unmut Chinas, des wichtigsten Verbündeten Moskaus, soll den Mut im Kreml diesbezüglich gekühlt haben.

Die «roten Linien» sind jedoch in den vergangenen zweieinhalb Jahren verrutscht. Entgegen ursprünglichen Annahmen unterscheidet der Kreml insgeheim weiterhin zwischen den vor zwei Jahren annektierten «neuen Territorien» im Osten und Südosten der Ukraine einerseits und dem völkerrechtlich anerkannten russischen Staatsgebiet anderseits. Aber selbst der ukrainische Vorstoss auf die russische Grenzregion Kursk, mithilfe westlicher Militärtechnik, war keine «rote Linie».

Wie der Kreml mit solchen Entwicklungen künftig umgehen wird, ist auch mit der erneuerten Nukleardoktrin nicht vollkommen klar. Experten glauben, Russland werde sich angesichts der unermesslichen Tragweite eines solchen Tuns ohnehin kaum zu einem Atomschlag hinreissen lassen. Aber offenbar glaubt Putin, seine Ziele nur noch dann erreichen zu können, wenn er sich vor seinen Gegnern als Herr über den roten Knopf aufreckt.

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