Am Freitagmorgen versuchten Moskauer Truppen, mit Infanterie und gepanzerten Fahrzeugen die Ukrainer zurückzudrängen. Die Lage ist unklar, die Kämpfe dauern offenbar an. Für die Verteidiger in der Region kommt die Eröffnung einer neuen Front ungelegen.
Russland hat am Freitagmorgen eine neue Front eröffnet. Nach heftigem Beschuss in der Nacht mit Gleitbomben, Artillerie und Raketenwerfern drangen kleinere Einheiten mit Infanterie und gepanzerten Fahrzeugen nordöstlich von Charkiw über die Grenze auf ukrainisches Gebiet vor. Mindestens zwei Personen wurden laut Angaben des Militärgouverneurs der Region Charkiw getötet, mehrere verletzt. Über militärische Verluste wurde nichts bekannt.
Die Lage an dem während der letzten zwei Jahre relativ ruhigen Frontabschnitt präsentierte sich am Freitagnachmittag unübersichtlich: Während offizielle Stellen in Charkiw festhielten, «kein einziger Meter» sei verlorengegangen, zitierte die Zeitung «Ukrainska Prawda» anonyme Militärquellen, wonach die Russen vier Dörfer eingenommen hätten. Die üblicherweise vertrauenswürdige «Deep State Map» markierte gut 40 Quadratkilometer entlang der Grenze als «graue Zone», was bedeutet, dass die Kämpfe dort andauern. Kiew hat Verstärkung geschickt.
Russlands Plan für einen Cordon sanitaire
Über eine neue russische Offensive auf das Gebiet Charkiw wird seit Monaten spekuliert. Moskau hat in der Gegend laut Angaben des ukrainischen Geheimdienstes 35 000 Mann zusammengezogen und baut diese Kräfte weiter aus. Der Kreml hatte im April seine Absicht kundgetan, in der Gegend einen Cordon sanitaire zu errichten, um Raketenangriffe auf die russische Grenzstadt Belgorod zu verhindern.
Die Kämpfe vom Freitag finden in dem Gebiet statt, das Belgorod am nächsten liegt. Eine Quelle im ukrainischen Militär erklärte der Agentur «Reuters», Russland wolle die Verteidiger 10 Kilometer zurückdrängen. Am härtesten getroffen wurde die ukrainische Stadt Wowtschansk, die vor dem Krieg 19 000 Einwohner hatte. Die Behörden haben die verbliebenen Menschen zur Evakuierung aufgefordert. Der Ort dürfte weiterhin stark beschossen werden, zumal er auch eine Rolle spielt als logistischer Knotenpunkt für die ukrainische Armee.
Ob die Kämpfe lokal begrenzt bleiben oder den Auftakt zu einer grösseren Offensive bilden, bleibt ungewiss. Die kremlnahe Analyseplattform «Rybar» bezeichnete die Angriffe als «bewaffnete Aufklärung», um die Verteidigungsstellungen des Gegners zu schwächen. Weitere Schlüsse seien voreilig.
Region und Stadt Charkiw stehen aber bereits seit Ende letzten Jahres unter massiven Angriffen – die Metropole aus der Luft, die südlicheren Teile der Oblast auch vom Boden aus. Bisher haben die Russen wenig Boden gutgemacht, weil die Ukrainer erbittert Widerstand leisten. Zudem sind sich Militärexperten einig, dass es für eine Eroberung der zweitgrössten Stadt mehrere hunderttausend Soldaten brauchte.
Die Gefahr für Charkiw
Dennoch ist die Sorge in der Ukraine und im Westen gross. Einerseits hat Russland demonstriert, wie stark seine Luftwaffe auch aus der Distanz die Infrastruktur Charkiws beschädigen kann. Bereits eine Annäherung der Front um wenige Kilometer würde Teile der Stadt zudem in Artillerie-Reichweite rücken. Dies könnte sie mittelfristig unbewohnbar machen, fürchten Fachleute.
Darüber hinaus weist der Militärexperte Franz-Stefan Gady darauf hin, dass grössere Angriffe auf Charkiw erhebliche ukrainische Truppenkontingente in diesem Frontabschnitt binden würden. Es sind Soldaten, die beispielsweise im Donbass fehlen würden.