Montag, Januar 27

Imago

Die hohen Himmel und endlosen Weiten Russlands laden ein zu Imagination. Doch die Mythologie des russischen Raumes ist nicht zu denken ohne den Realismus seiner Eisenbahn. In ihrem Bild vereinen sich imperiale Macht, Naturbezwingung, Fortschrittsoptimismus und Volksgemeinschaft, aber auch politische Abgründe.

Der Himmel über Russland ist hoch, die Landschaft weit, und die Seelen der Menschen quellen über. Für Geständnisse und Beichten ist der offene Raum aber eine denkbar ungünstige Umgebung. In der russischen Literatur dient deshalb das Eisenbahnabteil als mobiler Beichtstuhl.

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So beginnt etwa Dostojewskis Roman «Der Idiot» in einem Waggon dritter Klasse der Petersburg-Warschau-Bahn. Der Titelheld Fürst Myschkin reist buchstäblich mit der letzten Kopeke aus der Schweiz in die russische Heimat, während sein ebenso schlecht gekleideter Reisegenosse Rogoschin in Kürze ein Millionenerbe antreten kann.

Das Eisenbahnabteil wird zum Mikrokosmos des menschlichen Schicksals. So wie die unterschiedlichsten Charaktere vom reinen Zufall an einen Ort geworfen werden, so ungerecht und unvorhersehbar ist die Zuteilung der irdischen Güter. Genau darum geht es aber in Dostojewskis Roman: Fürst Myschkin ist ein neuer Christus, der allerdings von den Mitmenschen nicht erkannt wird. Sie sind in andere Leidenschaften verstrickt: Die einen jagen der politischen Macht nach, die anderen häufen Geldsummen an, die Dritten werden schliesslich von der erotischen Leidenschaft geblendet.

Am Ende des Romans verfällt der «Idiot» – wörtlich aus dem Griechischen: der, der für sich bleibt – dem Wahnsinn, und die Welt um ihn herum bleibt unerlöst. Für den Chauvinisten Dostojewski ist klar: Fürst Myschkin verfügt zwar über die richtige Erlösungsreligion – in einer Brandrede verdammt er den Katholizismus und den Sozialismus als Irrlehren –, aber er kommt aus der falschen Richtung, nämlich aus der westlich von Russland gelegenen Schweiz. Dorthin entschwindet er am Schluss auch wieder, in ein Sanatorium in den Bergen.

Überhaupt hatte die Schweiz bei Dostojewski einen denkbar schlechten Ruf. Ein anderer gescheiterter Messias, Stawrogin (wörtlich: der Kreuzträger), denkt am Ende der «Dämonen» darüber nach, ob er Selbstmord begehen oder Bürger des Kantons Uri werden will. Aus Dostojewskis Sicht sind das gleichwertige Optionen. Für Dostojewski war klar, dass das Heil aus dem Osten kommen werde – dorthin aber muss man wie der Mörder Raskolnikow aus «Verbrechen und Strafe» als Büsser zu Fuss pilgern.

Die Profanierung der Reise

Auch in Tolstois «Kreutzersonate» beichtet der Protagonist Posdnyschew den Eifersuchtsmord an seiner Frau der einzigen Jury, die Tolstoi je anerkannt hat: der zufällig zusammengewürfelten menschlichen Gemeinschaft eines Eisenbahnabteils.

Eng gedrängt finden sich hier die wichtigsten Motive von Tolstois Weltverbesserungsreligion. Tolstoi war davon überzeugt, dass Musik, Malerei und Belletristik falsche und letztlich gewalttätige Gefühle in den Menschen hervorrufen. Das Unheil nimmt seinen Lauf, als Posdnyschews Ehefrau mit einem befreundeten Violinisten Beethovens «Kreutzersonate» spielt. Die aufwühlenden Akkorde verstärken sich beim eifersüchtigen Ehemann zu einer blinden Raserei, in der er seine Frau ersticht.

In einem Nachwort hat Tolstoi die denkbar platteste Deutung seiner vielschichtigen Erzählung vorgelegt. Als wichtigste Lehre aus der Geschichte empfiehlt er jungen Männern, weniger Fleisch zu essen, körperlich hart zu arbeiten und sexuell enthaltsam zu leben. Auf den möglichen Einwand, dass bei allgemeiner Keuschheit das Menschengeschlecht aussterben würde, entgegnet Tolstoi, dass in diesem Fall vielleicht das Ziel der Menschheit erreicht sei und es deshalb keinen Grund mehr für ihre weitere Existenz gebe.

Diese statische Erlösungsvision steht in denkbar grösstem Gegensatz zur Eisenbahn, die Menschen möglichst schnell von einem Ort an einen anderen bringen will. Tolstoi stellt bei solchen technischen Errungenschaften immer die Frage: Wozu? Welchen Gewinn zieht der Mensch aus der beschleunigten Fortbewegung, die ihm bestenfalls ein Glück der Zerstreuung bieten kann?

In seinem Tagebuch schrieb er: «Die Eisenbahn verhält sich zur Reise wie das Bordell zur Liebe. Ebenfalls bequem, aber genau so unmenschlich maschinenhaft und mörderisch eintönig.» Das stärkste Bild für seine tiefgreifende Technologieskepsis hat Tolstoi im Roman «Anna Karenina» gefunden, in dem sich die tragische Heldin vor einen Zug wirft. Eine Ironie des Schicksals wollte es, dass Tolstoi selbst während der Flucht vor seiner Familie auf einer entlegenen Eisenbahnstation starb.

Mit Volldampf in die leere Zukunft

Die Eisenbahn ist das wichtigste Fortschrittssymbol in Andrei Platonows Revolutionsroman «Tschewengur». Der Vater des Helden hat sich aus Neugier auf den Tod in einen See gestürzt und ist dort ertrunken. Der Protagonist wächst als Waise auf und wird als Lehrling in eine Lokomotivwerkstatt aufgenommen. Die Maschine erscheint ihm als Inbegriff der revolutionären Technik, die der sich gleichgültig reproduzierenden Natur überlegen ist. Angesichts der Hungersnöte ist nicht einmal das Überleben der Menschen durch die Natur sichergestellt. Frauen können ihre schreienden Säuglinge nur beruhigen, indem sie ihnen giftige Pilzaufgüsse verabreichen.

Platonows literarische Überzeugungskraft liegt aber darin, dass er nicht bei einer einfachen Gegenüberstellung von Natur und Technik stehen bleibt. Die Revolution ist für ihn jene Zeit, in der die überzogenen Erwartungen an den Fortschritt jäh in einen Gewaltexzess zusammengedrängt werden. Der Held nimmt auf einem Panzerzug am Bürgerkrieg teil und kämpft gegen Vertreter der alten Ordnung. Platonow entwirft schliesslich das utopische Bild einer kommunistischen Stadt in Sibirien, eben Tschewengur.

Die zeitliche Entfernung des Kommunismus, der in der marxistischen Lehre in der Zukunft liegt, wird hier durch eine räumliche Distanz ersetzt. Allerdings erweist sich auch die Utopie in Tschewengur als verderblich. Die Menschen fragen sich, ob der Kommunismus auch die Naturgesetze ändern werde. Wenn es in der neuen Ordnung keine Winter mehr gebe, dann müsse man auch keine Vorräte mehr anlegen.

Letztlich kann man Platonows Roman als literarische Widerlegung von Karl Marx’ berühmter These lesen, die Revolutionen seien die Lokomotiven der Geschichte. Der Protagonist sagt am Ende des Romans sogar explizit: «Früher dachte ich, die Revolution sei eine Lokomotive, aber jetzt sehe ich, dass das nicht so ist.»

Gott im Panzerzug

Unmittelbar nach der Oktoberrevolution brach der Bürgerkrieg in Russland aus. Die «Roten» und die «Weissen» bekämpften sich erbittert. Der Sieg der Bolschewiken wurde wesentlich durch das taktische Geschick und die eiserne Hand des Kriegskommissars Lew Trotzki ermöglicht. Bereits im August 1918 stellte er seinen berühmten Panzerzug zusammen, mit dem er sich schnell zwischen den verschiedenen Frontabschnitten bewegen konnte.

In seiner Autobiografie widmete Trotzki dem «Zug» ein ganzes Kapitel. 105 000 Kilometer habe er in den zwei Jahren des Bürgerkriegs im Panzerzug zurückgelegt. Trotzki nannte den Zug zärtlich einen «fliegenden Verwaltungsapparat». Die Ausstattung war umfassend. In den Waggons befanden sich ein Sekretariat, eine Druckerpresse, ein Telegraph, eine Funkstation, eine Bibliothek, ein Restaurant und ein Bad.

Als erfahrener und vor allem rücksichtsloser Kommandant vertraute Trotzki auch auf die psychologische Wirkung des Panzerzugs, den er als treuen Kampfgefährten beschrieb: «Der Zug löste dringende Probleme vor Ort, stärkte die Kampfmoral, lieferte Nachschub, erzog, belohnte und bestrafte.» Diese Vision des Zugs, der wie ein alttestamentarischer Gott in den Gang der Geschichte eingreift, wurde von zahlreichen Autoren literarisch gestaltet. Der Panzerzug rattert als Schicksal auf Rädern durch Boris Pasternaks «Doktor Schiwago» und durch Gaito Gasdanows «Ein Abend bei Claire».

Militär und Wirtschaft

Von Anfang an war die Eisenbahn in Russland ein ambivalentes Phänomen. Die Dampflokomotiven galten als Inbegriff englischer Ingenieurskunst. Der Bewunderung der westlichen Innovationskraft stand allerdings die Besinnung auf die eigene Tradition gegenüber.

Es ist kein Zufall, dass ein österreichischer Ingenieur, Franz von Gerstner, dem Zaren Nikolaus 1835 ein erstes Memorandum über ein russisches Schienennetz vorlegte. Als erste Strecke wurde 1837 die Verbindung von der Hauptstadt Petersburg zur etwa 25 Kilometer südlich gelegenen Zarenresidenz gebaut. Franz von Gerstner stand selbst im Führerstand, als die Strecke feierlich eingeweiht wurde. Der russische Nationaldichter Alexander Puschkin war in einem Duell, das er selbst provoziert hatte, wenige Monate vor der Eröffnung ums Leben gekommen. Er hatte sich aber lebhaft für das Projekt interessiert und nannte die Eisenbahn eine «grossartige Erfindung, der die Zukunft gehört».

Bald folgten die ersten Fernstrecken. Es lag nahe, dass die beiden Hauptstädte Moskau und Petersburg bereits 1851 durch einen Schienenstrang verbunden wurden. Damals gab es Diskussionen über die Spurbreite. Die erste lokale Eisenbahn in Petersburg hatte eine Spurweite von sechs Zoll (1829 mm). Für die Verbindung Petersburg–Moskau empfahl eine Kommission eine Verringerung der Spurbreite auf fünf Zoll (1524 mm), wodurch sich drei Prozent der Baukosten einsparen liessen.

Damit war aber die russische Eisenbahn inkompatibel mit der europäischen Normalspur (1435 mm) – dieser Zustand dauert bis heute an. Damals schien diese Frage aber vernachlässigbar, weil für jede Strecke verschiedene Endbahnhöfe gebaut wurden und Transitverbindungen durch grosse Städte gar nicht zur Diskussion standen. So wurde die Linie vom damals zum Zarenreich gehörenden Warschau nach Wien in Normalspur erstellt. Gleichzeitig plante man auch eine Verbindung zwischen Petersburg und Warschau, das seit dem polnischen Novemberaufstand 1830 als unsicheres Terrain galt und enger an Russland gebunden werden sollte.

Allerdings machte der Krimkrieg (1853 bis 1856) den Eisenbahningenieuren einen Strich durch die Rechnung. Die prekären Wege vom Landesinneren auf die Halbinsel im Schwarzen Meer erschwerten Versorgung und Nachschub. Die Niederlage in diesem Krieg führte den Zaren deutlich die Notwendigkeit einer modernisierten Infrastruktur vor Augen.

In den 1860er Jahren debattierten Militärs und Unternehmer über den Ausbau des russischen Schienennetzes – jede Seite versuchte, ihre eigene Agenda durchzusetzen. Am Schluss erhielten beide Parteien ihr Vorzeigeprojekt. Im Jahr 1888 erreichte die Transkaspische Eisenbahn Samarkand – diese Strecke wurde von einem Eisenbahn-Bataillon errichtet und sollte Militäreinsätze in Turkmenistan ermöglichen.

In den 1890er Jahren wurde die Transsibirische Eisenbahn gebaut – entscheidenden Anteil an diesem Projekt hatte der rührige Minister Sergei Witte, der den Warenverkehr zwischen Europa, China und Japan fördern wollte. Dabei waren zahlreiche Hindernisse zu überwinden. Der Brücke über den Fluss Ob bestand aus zehn Pfeilern und war fast 800 Meter lang. Bei diesem Übergang entstand die Stadt Nowosibirsk. Das zweite Hindernis war das schwierige Gelände am Baikalsee. Auf einer Länge von 260 Kilometern sprengte man 39 Tunnels in den Fels. Bevor diese Strecke im Jahr 1905 endlich fertiggestellt wurde, mussten die Züge auf speziellen Fähren über den Baikalsee verschifft werden.

Bahnbau als Sträflingsarbeit

Im 20. Jahrhundert kam eine weitere Spielart des Eisenbahnbaus hinzu. Stalin liebte grosse Infrastrukturprojekte und träumte von der Bezwingung der bösartigen Natur durch die grandiose sowjetische Ingenieurskunst. Bodenschätze lagerten am Polarkreis und mussten erschlossen werden. Menschliche Ressourcen waren kein Problem: Es gab Hunderttausende Strafgefangene, die auch zu härtesten Arbeitseinsätzen abkommandiert werden konnten.

Auf dem Höhepunkt des Stalin-Terrors begann man mit dem Bau der Baikal-Amur-Magistrale, die etwa 500 Kilometer nördlich der Transsibirischen Eisenbahn verläuft. 1938 arbeiteten 150 000 Häftlinge an der neuen Bahnstrecke. Allerdings wurde im Grossen Vaterländischen Krieg bereits 1942 ein Teil der verlegten Schienen wieder abgebaut und nach Zentralrussland transportiert. Dort legte man am Wolga-Ufer innerhalb von sechs Monaten eine tausend Kilometer lange Verbindung nach Stalingrad, die bei der Verteidigung der Stadt eine wichtige Rolle spielte.

1947 gab Stalin den Befehl zum Bau einer jenseits des Polarkreises liegenden Eisenbahnlinie, die vom Straflager Workuta zu einem neu zu bauenden Hafen am sibirischen Fluss Ob führen sollte. Allerdings zeigten sich bei diesem Projekt schnell die Grenzen der Leistungsfähigkeit einer totalitären Diktatur. Die Planung der Strecke war noch nicht fertig, als man schon mit den Arbeiten begann. Bald stellte sich jedoch heraus, dass der Ob an der für den Hafen anvisierten Stelle gar nicht schiffbar war.

Die bereits angelaufenen Bauarbeiten gestalteten sich äusserst schwierig. Die Böden gehören zur Permafrostregion. Sie tauen nur im Sommer an und verwandeln sich in eine matschige Oberfläche, auf der man kaum etwas befestigen kann. In der rollenden Planung der Stalinbahn am Polarkreis verfiel man auf die Idee, die Bahnstrecke um 1200 Kilometer nach Osten an den Fluss Jenissei zu verlängern. Eine Brücke über den breiten Fluss Ob war dabei nicht vorgesehen: Im Sommer wollte man eine Fähre benutzen, im Winter sollten provisorische Gleise über den gefrorenen Fluss gelegt werden.

Lokomotiven entfalteten jene maschinelle Kraft, die den Menschen zum Herrn über die Natur machte. Bilder: sowjetische Propaganda-Plakate.

Kaum war Stalin im Jahr 1953 gestorben, stoppte die Sowjetregierung dieses unsinnige Bauprojekt.

Bedeutungsstarke Zugunglücke

Die Symbolkraft der Eisenbahn in Russland war umfassend: Die Bahnstrecken konnten als «Lebensadern» des Staats gedeutet werden. Die Bahnhöfe wurden zu Kathedralen der Moderne. Die Lokomotiven entfalteten jene maschinelle Kraft, die den Menschen zum Herrn über die Natur machte.

Noch in ihren Katastrophen entfaltete die Eisenbahn eine erhabene Aura. Die Regierungszeit von Alexander II. stand unter dem Zeichen des Terrors. Zahlreiche Attentate wurden auf den Zaren ausgeübt. Erst der siebte Anschlag im März 1881 kostete dem Herrscher das Leben.

Meistens setzten die Revolutionäre Revolver und Bomben ein. Am 17. November 1879 explodierte ein Sprengsatz auf der Linie Kursk–Moskau. Die Attentäter hatten fälschlicherweise geglaubt, der Zar befinde sich im zweiten der beiden Hofzüge, die im Abstand von einer halben Stunde vorbeifuhren. Die Detonation führte nur zur Entgleisung des späteren Hofzugs, dessen Insassen mit dem Schrecken davonkamen.

Viel einschneidender war das Zugunglück von Borki am 17. Oktober 1888, das nicht auf Fremdeinwirkung zurückzuführen war. Der Zug entgleiste südlich von Charkiw, weil er zu schnell fuhr und zu lang war. Ausserdem waren einige Bahnschwellen an der Unglücksstelle morsch. Das Zugunglück forderte 23 Todesopfer und 24 Verletzte. Der Zar und die mit ihm reisenden Familienmitglieder überlebten das Zugunglück.

Die öffentliche Kommunikation war ganz auf das angebliche «Wunder von Borki» ausgerichtet. Dabei rückten schützende Faktoren wie die «göttliche Vorsehung» in den Vordergrund. Gleichzeitig wurde aber auch berichtet, dass der kräftige Zar mit seinen Armen das herunterstürzende Dach des Speisewagens gestützt habe.

Dieses heroische Framing verfehlte seine Wirkung nicht: In ganz Russland wurden Dankgottesdienste abgehalten, in Borki selbst wurde ein ganzer Gedenkbezirk mit einem Obelisken und einer überdimensionierten Gedächtniskirche errichtet. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie allerdings zerstört.

Fast genau hundert Jahre später ereignete sich bei Ufa das schwerste Zugunglück in der Sowjetunion. In einer Bodensenke hatte sich aufgrund eines Lecks in einer Pipeline eine grosse Menge Gas angesammelt. Als zwei Passagierzüge sich am 4. Juni 1989 genau an dieser Stelle kreuzten, explodierte das Gas-Luft-Gemisch. 575 Menschen starben, unter ihnen 181 Kinder. 623 Menschen wurden verletzt.

Diese Katastrophe wurde weitherum als Zeichen des maroden Zustandes der Sowjetunion wahrgenommen. Allerdings entfaltete das Unglück nur eine begrenzte mediale Wirkung. Am selben Tag schlug das Militär in Peking die Demonstration auf dem Tiananmen-Platz gewaltsam nieder: 2600 Menschen starben, 7000 wurden verletzt. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit richtete sich auf China, nicht auf die baschkirische Provinz in der bereits moribunden Sowjetunion.

Weit vorausblickende Eisenbahngeopolitik

Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems musste sich auch die Eisenbahn neu orientieren. Bald wurden auf Fernverkehrszügen nur noch personalisierte Tickets verkauft, weil findige Bürger ein Geschäft aus dem überteuerten Wiederverkauf von Fahrkarten gemacht hatten.

In den 2000er Jahren begann man mit der Planung von Hochgeschwindigkeitsstrecken und verliess sich dabei vor allem auf deutsche Technik. Im Sommer 2009 absolvierte ein ICE unter dem Namen «Sapsan» (Falke) seine Jungfernfahrt auf der 650 Kilometer langen Strecke von Moskau nach Petersburg, die nun unter vier Stunden bezwungen werden konnte.

Ab 2005 war der Putin-Vertraute Wladimir Jakunin Chef der russischen Eisenbahnen. Dem ehemaligen Geheimdienstler ging es nicht einfach um eine Modernisierung der Transportinfrastruktur.

Im Rückblick kann man deutlich erkennen, dass sich Russland bereits damals nach neuen Verbündeten umschaute. Schon 2001 hatte Putin mit dem nordkoreanischen Verteidigungsminister die Rekonstruktion des Eisenbahnkorridors an der nur 17 Kilometer kurzen russisch-nordkoreanischen Grenze vereinbart.

Zwei Monate nach dem russischen Fünftagekrieg in Georgien legte Jakunin im Oktober 2008 den Grundstein für dieses Projekt, das die einzige Landverbindung zwischen Russland und Nordkorea darstellt. Später fiel Jakunin in Ungnade und betätigte sich darauf erfolglos als Propagator nationalistischer Ideen. Seit einem Jahr rollen über die «Brücke der Freundschaft» Züge mit nordkoreanischer Munition, mit Raketen und Mannschaft nach Russland. Diese Fracht aus dem fernen Osten wird von der russischen Armeeführung in der Ukraine eingesetzt.

Die Eisenbahner als Helden der Ukraine

Seit Russlands offenem Überfall gibt es in der Ukraine keinen zivilen Flugverkehr mehr. Umso wichtiger ist die Eisenbahn geworden. Zahlreiche westliche Politiker haben Präsident Selenski mit Sonderzügen besucht. Immer wieder versucht Russland, mit Raketenschlägen die ukrainische Eisenbahn zu blockieren, bisher allerdings ohne nachhaltigen Erfolg.

Das bisher schlimmste Kriegsverbrechen gegen eine Bahnanlage war der russische Raketenangriff auf den Bahnhof Kramatorsk. Im April 2022 kamen dabei 57 Menschen ums Leben, 109 wurden verletzt. Grosse Verdienste um die Erhaltung der Betriebsfähigkeit der ukrainischen Eisenbahn hat sich der CEO Olexander Kamischin erworben. Er sorgte dafür, dass stillgelegte grenzüberschreitende Strecken von der Ukraine nach Rumänien und in die Moldau wieder reaktiviert wurden und den Ausfall des internationalen Schiffsverkehrs über das Schwarze Meer kompensieren konnten.

Die Derussifizierung hat mittlerweile auch die Eisenbahn erreicht: Die Streckenkilometer werden nun nicht mehr vom Nullpunkt Moskau aus gerechnet, sondern von Kiew. Auf den Fahrkarten gibt es seit kurzem keine Informationen auf Russisch mehr, sondern nur noch solche auf Ukrainisch und Englisch.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Im Jahr 2018 legte er bei Suhrkamp vor: «Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur».

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