Im russisch-ukrainischen Grenzgebiet kämpfen die beiden Armeen mit Kampfjets und Soldaten um einen Prestigesieg. Offen bleibt, ob und wo Moskaus Sommeroffensive kommt.
Im Krieg um die ukrainischen Städte spielen Fabrikgelände eine zentrale Rolle. Die Bastionen der Schwerindustrie lassen sich leicht befestigen und werden zu mächtigen Symbolen: Die Verteidiger Mariupols hielten die Stahlwerke bis zuletzt, in Bachmut ebnete die Eroberung der Metallfabrik den Wagner-Paramilitärs den Weg ins Zentrum, und in Awdijiwka hielten die Verteidiger monatelang die Koksfabrik am Stadtrand. Nun könnte die dortige Chemiefabrik über das Schicksal von Wowtschansk entscheiden und den bedrängten Ukrainern neuen Mut geben.
Die Kleinstadt nördlich von Charkiw wurde im Mai zum Hauptziel von Russlands neuer Offensive gegen die Metropole. Knapp 20 000 Menschen lebten vor dem Krieg in Wowtschansk, inzwischen besteht die Ortschaft fast nur noch aus Ruinen. Die Ukrainer wurden vom Ansturm zunächst überrascht, und die Truppen Moskaus eroberten einen Teil der Stadt. Doch Kiew schickte Verstärkung und stoppte den Gegner am Fluss Wowtscha. Die Chemiefabrik liegt direkt am Ufer.
Dutzende von russischen Gefangenen?
Die Russen eroberten das Gelände bereits vor Wochen. Inzwischen sollen mehrere hundert Soldaten darin verschanzt sein. In den letzten Tagen publizierten ukrainische und westliche Medien zahlreiche Berichte darüber, dass sie eingekesselt seien und sich zu Dutzenden ergäben. Seriöse Quellen wie das Institute for the Study of War haben dies bisher nicht bestätigt. Auch bestehen Zweifel, ob im Internet kursierende Videos der Gefangennahme aus Wowtschansk stammen. Beide Seiten betreiben intensiv Propaganda, was die objektive Beurteilung der Situation erschwert – und dafür spricht, dass hier eine wichtige Schlacht auf der Kippe steht.
Unbestritten ist, dass die Lage der Besetzer sehr schwierig ist. Wie auch russische Quellen bestätigen, beschiesst die ukrainische Luftwaffe das Fabrikgelände seit Tagen, unter anderem mit französischen Gleitbomben. Dass offenbar Kampfjets der Typen MiG-29 und Su-27 so nahe an der Front fliegen, ist neu. Es dürfte die Folge der Erlaubnis des Westens an Kiew sein, auch Ziele ennet der Grenze anzugreifen und so Russlands Überlegenheit in der Luft zu reduzieren.
Gut informierte ukrainische Kanäle schreiben, die missliche Lage der Russen sei dadurch entstanden, dass es den Verteidigern jüngst gelang, einen Keil in die gegnerischen Stellungen westlich der Fabrik zu treiben. Die Deep State Map weist das Gebiet als graue, umkämpfte Zone aus, die an ihrer schmalsten Stelle nur 200 Meter breit ist. Sie schreibt, die Ukrainer kontrollierten die Zugänge. Laut dem Telegram-Kanal Swisdez Mangustu scheiterten mehrere russische Entlastungsangriffe an der starken Überwachung des Gebiets durch gegnerische Drohnen.
Für die Russen bedeutet die Kontrolle der Fabrik viel: Von hier aus versuchten sie im Juni erfolglos, über den Fluss vorzustossen. Ihre Hauptpositionen im Norden der Stadt befinden sich primär in einstöckigen Holzhäusern, wie sie in Osteuropa häufig in urbanen Gegenden anzutreffen sind. Umso wichtiger sind die Stellungen in der Fabrik mit ihren hohen Gebäuden, verstärkten Wänden und Tunneln. Manche Analytiker gehen deshalb davon aus, dass die Russen bei einem Verlust eher früher als später gezwungen sein könnten, Wowtschansk aufzugeben. Nördlich davon bauen sie bereits Verteidigungsstellungen.
Statt auf Charkiw vorzurücken, steht Russland also im Nordosten der Ukraine zunehmend unter Druck und erleidet hohe Verluste. Moskauer Militärblogger berichten gar von einer möglichen Gegenoffensive des Feindes in der Nähe von Wowtschansk. Für Kiew wäre selbst ein symbolischer Sieg bei Charkiw von grosser Bedeutung: Die anfängliche Überforderung der Verteidiger schlug politisch hohe Wellen und führte zum Rücktritt mehrerer Kommandanten.
Kommt Moskaus Sommeroffensive?
Es dürfte allerdings wenig sinnvoll sein, dafür grosse Ressourcen an diesen Frontabschnitt zu verlegen. Experten sind sich einig, dass der Überfall ukrainische Truppen binden sollte und keine Grossoffensive darstellte. Zu begrenzt waren die Kräfte, die der Kreml einsetzte. Dass den Russen keine grösseren Vorstösse im Donbass gelangen, überrascht den amerikanischen Analysten Rob Lee deshalb mehr als die Erschöpfung des Angriffs auf Charkiw. «Das Worst-Case-Szenario ist nicht eingetroffen.»
Ganz im Osten ist die Front zwar weiterhin in Bewegung. Die Russen rücken zwischen den Städten Awdijiwka und Pokrowsk vor, allerdings in Trippelschritten. Nördlich davon halten die Verteidiger die strategisch bedeutsame Kleinstadt Tschasiw Jar seit zweieinhalb Monaten gegen heftige Angriffe. Die Kämpfe toben hier nicht um ein Fabrikgelände, sondern um den Kanal am östlichen Stadtrand und die Hochhäuser in der Nähe. Noch etwas nördlicher davon gelang es den Ukrainern in den letzten Tagen sogar, die Russen im Wald von Serebrjanka um mehrere Kilometer zurückzudrängen.
Dabei bleibt die Frage offen, ob die vielen russischen Angriffe der letzten Monate Vorbereitungen für eine grössere Sommeroffensive darstellen oder ob sich diese bereits erschöpft hat. Die meisten westlichen Beobachter fürchten Ersteres, darauf deutet auch die Verschiebung von Material an die Front.
Am Dienstag schrieb Deep State Map zudem, die Russen hätten im Gebiet Luhansk beim Ort Borowa im äussersten Süden der Region Charkiw 10 000 Soldaten zusammengezogen. Am Dienstag meldete die dort stationierte 3. Sturmbrigade der Ukraine erste Angriffe. Auch wenn die Kräfte der Verteidiger überdehnt sind, dürften sie besser gerüstet sein als im Frühling: In den letzten Wochen haben sie dank westlichen Lieferungen wieder genügend Munition. Dank ihren Drohnen zerstören sie zudem regelmässig mechanisierte russische Kolonnen, bevor diese ihr Ziel überhaupt erreichen.