Dienstag, Oktober 1

Geht es nach Präsident Putin, umfassen die russischen Streitkräfte bald 1,5 Millionen Militärangehörige. Aber schon jetzt besteht die grösste Herausforderung darin, Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine zu rekrutieren.

Die russische Armee wird immer grösser – zumindest auf dem Papier. Zu Wochenbeginn hat Präsident Wladimir Putin zum dritten Mal seit dem Grossangriff auf die Ukraine im Februar 2022 eine Aufstockung des Personalbestands der Streitkräfte verfügt, diesmal um 180 000 Militärdienstleistende. Ab dem 1. Dezember beträgt dieser 2 389 000 Personen, von denen 1 500 000 Militärangehörige und der Rest zivile Angestellte sein sollen. Damit stünden fast eine halbe Million mehr Soldaten und Offiziere im Armeedienst als vor Beginn des Krieges gegen die Ukraine. Noch nie seit der Sowjetzeit war die Armee grösser als jetzt.

Putins Sprecher Dmitri Peskow begründete die Massnahme mit den Bedrohungen entlang der russischen Grenzen: Er sprach von ausserordentlich feindseligen Zuständen an den westlichen Rändern und der Instabilität an den östlichen. Deshalb habe Handlungsbedarf bestanden. Im Dezember 2023 hatte er Putins damaligen Erlass mit den Worten kommentiert, der Westen führe einen Stellvertreterkrieg gegen Russland. Die entscheidende Frage ist aber: Wie will die Armee überhaupt diese Bestände füllen?

Immer höhere finanzielle Anreize

Militärexperten sehen in Putins jüngster Anordnung auch einen Papiertiger. Je höher der Armeebestand ist, desto mehr Geld kann das Verteidigungsministerium beanspruchen – der Erlass dürfte mit den bevorstehenden Budgetberatungen in der Staatsduma zusammenhängen. Manche Verbände, die aufgrund früherer Erlasse neu geschaffen wurden, sind in Wahrheit nie voll bestückt worden. Sie dienten zuweilen primär dazu, höheren Offizieren eine Funktion zu geben. Es mangelt an Ausrüstung und Ausbildungsmöglichkeiten. Auch «tote Seelen» werden gezählt – Soldaten, die als vermisst gemeldet werden, bleiben formell ihrer Einheit zugeordnet.

Mehr denn je ist das Verteidigungsministerium auf der Suche nach neuen Soldaten. Solange der Kreml auf eine neue Welle der Mobilmachung verzichtet, die äussert unpopulär wäre, muss er andere Anreize setzen. Wie sehr das Preisschild – Sold und Prämien – mittlerweile den Appell an die patriotische Pflicht des Mannes überstrahlt, zeigt sich in Moskau. Unübersehbare Plakate versprechen in riesiger Schrift 5,2 Millionen Rubel (rund 52 000 Franken) für den Dienst am Vaterland. Sitzbänke und Poller auf den Gehwegen sind damit beklebt, sie säumen die grossen Strassen und hängen an Bushaltestellen und in Schaufenstern aus. Selbst im Billettautomaten der Metro scheint die Werbung während des Kaufvorgangs auf.

Glaubt man den offiziellen Aussagen, hat der ukrainische Vorstoss in der Grenzregion Kursk den Rekrutierungsbemühungen geholfen. Mehr Männer als zuvor seien bereit, sich für den Einsatz an der Front zu verpflichten, heisst es. Das exilrussische Rechercheportal «Waschnije Istorii» leitete aus offiziellen Zahlen zu den Militärausgaben in der ersten Hälfte des Jahres ab, dass die Zahl der neu rekrutierten Vertragssoldaten im Vergleich mit der Vorjahresperiode auf fast das Sechsfache – knapp 170 000 – angestiegen sei. Im Laufe des Jahres verdoppelte nicht nur Putin die staatliche Prämie für den Vertragsabschluss, auch zahlreiche Regionen zogen nach und erhöhten ihren Anteil an den finanziellen Anreizen.

Falsche Hoffnungen

Manche Männer reisen extra in die Hauptstadt, wo die höchste Summe winkt. Nicht immer ist ihnen aber bewusst, worauf sie sich einlassen. Zum einen zirkulieren oft beschönigende Berichte vom Kampf an der Front, in denen sich die frisch rekrutierten Soldaten nicht wiederfinden. Zum anderen unterschätzen sie, wie viele eigene Mittel in die Ausrüstung investiert werden müssen, um im Überlebenskampf nicht von vornherein verloren zu sein. Auch wissen nicht alle, dass Verträge mit dem Verteidigungsministerium kein Ablaufdatum haben. Sie gelten bis zum Ende der «militärischen Spezialoperation». Eine vorzeitige Kündigung ist seit zwei Jahren nicht mehr möglich. Flexiblere Arrangements erlauben nur Freiwilligenverbände.

Trotz den stärkeren finanziellen Anreizen, die Russlands Staatsausgaben immer mehr belasten, dünnt die Rekrutierungsbasis aus. Es hat sich herumgesprochen, was für ein Himmelfahrtskommando der Einsatz an der Front ist. Allein um die hohen, bis heute offiziell nicht bezifferten Verluste zu kompensieren, ist ein hohes Tempo an neuen Rekrutierungen nötig. Erhöht Putin den Personalbestand der Armee zusätzlich, wird die Lücke noch grösser.

Deshalb suchen das Verteidigungsministerium und der Gesetzgeber immer neue Wege, um an Soldaten zu kommen. Wer sich als neu Eingebürgerter nicht rechtzeitig auf dem Wehramt meldet, soll die russische Staatsbürgerschaft wieder verlieren. Das Alter für Dienstpflichtige wurde bereits ausgedehnt. In Kursk kamen erstmals junge Wehrpflichtige im Kampfeinsatz zum Zug, die zuvor mehrheitlich von der Front ferngehalten worden waren. Auch der Druck auf Rekruten, sich nach wenigen Wochen als Vertragssoldat zu verpflichten, nimmt zu.

In den Krieg statt ins Gefängnis

Freiwillig melden sich oft nur noch die Verzweifelten und diejenigen, die im Einsatz an der Front den einzigen Ausweg aus einer schwierigen Lebenssituation sehen. Es sind Männer, die sich mit ihrer Frau gestritten haben oder auf hohen Schuldenbergen sitzen – manche mit den Propagandaslogans aus dem Fernsehen im Kopf und im Glauben, den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

Auch Strafgefangene werden weiterhin angeworben. Das Verteidigungsministerium hat ein neues Programm gestartet, mit dem ehemalige Front-Kämpfer in Strafkolonien auf Werbetour gehen. Das russische Parlament will es auch Personen, gegen die erst ermittelt wird, unter gewissen Umständen ermöglichen, einen Vertrag mit der Armee abzuschliessen. Zeichnen sie sich im Feld aus, wird das Strafverfahren beendet, ohne dass es zum Urteil kommt. Juristen sehen darin eine schwerwiegende Verzerrung rechtsstaatlicher Abläufe. Sie berichten auch darüber, dass nun öfter Verfahrensfehler hingenommen würden, weil die Richter ohnehin davon ausgehen, dass Verurteilte ihre Strafe nicht absitzen, sondern stattdessen in den Krieg ziehen.

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