Donnerstag, Oktober 10

Frühere Beteuerungen Präsident Putins gelten offenbar nicht mehr. Die russische Armee schickt bewusst Rekruten ins Kampfgebiet. Das wirft ein Schlaglicht auf die Rekrutierungsprobleme der Armee.

Der überraschend erfolgreiche ukrainische Vorstoss auf die russische Grenzregion Kursk hat Russland überrumpelt – den Kreml, die Armee, die Bevölkerung. Dass Kiew Russland auf dem eigenen Territorium in dieser Weise herausfordert, ist ein Schock, dessen politische, militärische und gesellschaftliche Konsequenzen noch nicht fassbar sind. Ohne Zweifel gibt er dem von Russland losgetretenen Krieg gegen die Ukraine eine neue Wendung, nur schon deshalb, weil die russische Führung gezwungen ist, auf die neue Lage zu reagieren.

Zwang zum Vertrag mit der Armee

Ein gesellschaftlich heikles Thema gewinnt dabei an Gewicht: In Kursk waren seit Beginn des Vorstosses am 6. August auch junge Wehrdienstleistende von den Kämpfen betroffen. Sie gerieten in Kriegsgefangenschaft, wurden verwundet, getötet oder werden vermisst. Russische Exilmedien haben Zahlen, Namen und Geschichten dahinter recherchiert. Im Internet zirkuliert eine Petition an Präsident Wladimir Putin, in der Angehörige ihre Empörung über das Schicksal der Rekruten ausdrücken und den Präsidenten dazu auffordern, sich für einen schnellen Kriegsgefangenenaustausch einzusetzen.

Zugleich häufen sich auch Berichte darüber, dass die Armee gezielt Rekruten aus anderen russischen Regionen zum Kampfeinsatz nach Kursk verlegt. Bürgerrechtsorganisationen, die sich für die Rechte von Wehrpflichtigen einsetzen, erhielten in den vergangenen Tagen zahlreiche Hilferufe von Angehörigen, die vermeiden wollen, dass ihre Söhne, Brüder oder Enkel ins Kampfgebiet geschickt werden. In einigen Fällen ist das bereits geschehen.

In den Bitten an die Organisationen, in Veröffentlichungen in den sozialen Netzwerken und gegenüber verschiedenen russischen Exilmedien berichteten Angehörige auch davon, dass die Kommandanten die Rekruten dazu zu zwingen versuchten, sich per sofort zum Militärdienst als Vertragssoldat zu verpflichten. Sie stellten ihnen die finanziellen Anreize, die für Frontsoldaten gelten, in Aussicht und drohten denjenigen, die sich der Unterschrift verweigern sollten, mit rechtlichen Massnahmen. Am Ende würden sie ohnehin auch ins Kriegsgebiet geschickt, nur unter schlechteren Bedingungen, wurde kolportiert.

Ein weiterer Tabubruch

Der Einsatz von Wehrpflichtigen, die ihren obligatorischen einjährigen Militärdienst ableisten, kommt einem Tabubruch gleich und sorgt deshalb für Diskussionen. Zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine hatten Soldatenmütter mit ihrem Protest erreicht, dass im Kampfgebiet in der Ostukraine eingesetzte Rekruten in ihre Kasernen zurückverlegt wurden. Putin hatte damals versichert, an der «militärischen Spezialoperation», wie der Krieg gegen die Ukraine offiziell genannt wird, sollten keine Wehrdienstleistende teilnehmen müssen. Daran wird er jetzt erinnert. Die Online-Petitionärinnen hoffen denn auch auf Putins Hilfe. Dafür, dass die Rekruten an der Grenze eingesetzt waren, machen sie unfähige Armeekommandanten verantwortlich.

Das Versprechen, keine Mobilisierung auszurufen und die «Spezialoperation» allein mit Freiwilligen und Vertragssoldaten durchzuführen, hatte Putin allerdings im Herbst 2022 mit der Teilmobilmachung gebrochen. Für die Forderungen der Ehefrauen und Mütter von Mobilisierten nach einem Ende des Kriegsdienstes hat er keinerlei Gehör. Vielmehr gehen die Behörden gegen Exponentinnen dieser losen Bewegung mit repressiven Mitteln vor.

Auch der von Putin angeordnete Verzicht auf den Einsatz von Rekruten im Kampfgebiet wurde von Anbeginn an untergraben. Rechtlich gesehen gibt es dafür nur wenig Einschränkungen. Festgeschrieben ist nur, dass sie mindestens vier Monate ihres einjährigen Militärdienstes bereits absolviert und eine sogenannte militärische Spezialisierung bekommen haben sollen. In Zeiten, in denen Willkür und Rechtsnihilismus an der Tagesordnung sind, bedeutet das wenig. Auch der Versuch, die Rekruten schnellstmöglich – die Fristen dafür wurden seit Kriegsbeginn verkürzt – mit Schikanen und Drohungen dazu zu bringen, sich für den Armeedienst zu verpflichten, besitzt keine Rechtsgrundlage.

Wehrpflichtige wurden zudem in Kasernen unmittelbar an der Grenze zur Ukraine stationiert. In der bis zum Angriff auf Kursk am stärksten vom Krieg in Mitleidenschaft gezogenen russischen Region Belgorod wurden Rekruten zum Bau von Grenzbefestigungen eingesetzt und kamen dabei mitunter beim Beschuss durch Drohnen oder Artillerie ums Leben. Dass so viele Wehrdienstleistende von den Kämpfen in Kursk betroffen sind, ist ebenfalls darauf zurückzuführen: Sie waren zur Verstärkung der Grenztruppen eingesetzt.

Schwierigkeiten mit Freiwilligen

Putins schnelle Absage an den Einsatz von Rekruten im Kampfgebiet war auch der Erinnerung an frühere Kriege geschuldet. Das Verheizen kaum ausgebildeter Rekruten hatte in den beiden Tschetschenienkriegen und im sowjetischen Afghanistankrieg die Gesellschaft stark aufgewühlt. Damals hatten Angehörige allerdings noch weit mehr Möglichkeiten, auf das Schicksal ihrer Söhne, Brüder und Enkel hinzuweisen, als dies unter den scharfen Zensurgesetzen und Versammlungsverboten heute der Fall ist.

Dass das Regime es jetzt für vertretbar hält, diesen Unmut in Kauf zu nehmen, liegt nicht nur daran, dass die Angst die Gesellschaft in Schach hält. Allen Erfolgsmeldungen zum Trotz fällt es der Armee offenkundig schwer, schnell genügend freiwillige Vertragssoldaten anzuwerben. Auf den Plakaten, die im ganzen Land dafür Werbung machen, wird der finanzielle Anreiz immer deutlicher betont. Er ist längst viel wichtiger als die ideellen Motive.

Aber je klarer es auch weitab von der Front wird, wie sehr das der direkte Weg in den Tod ist, desto höher steigen die Anreize. Eben erst erhöhte Putin die Einmalzahlung des Staates bei Vertragsabschluss auf 400 000 Rubel (rund 4000 Franken). Moskau hält derzeit den Rekord mit 1,9 Millionen Rubel (rund 19 000 Franken) regionalem Zuschuss bei Vertragsabschluss, zusätzlich zu Sold und verschiedenen Prämien. Mittlerweile wird noch vor einem Gerichtsurteil fast jedem Untersuchungsgefangenen vorgeschlagen, das Verfahren zugunsten eines Fronteinsatzes einzustellen. So zynisch es ist: Die am schnellsten verfügbaren und günstigsten Einheiten sind da die Rekruten.

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