Mittwoch, November 12

Im Widerstreit der Mächte kommt der Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit mehr Aufmerksamkeit zu. Die Vielfalt der Mitgliedstaaten setzt ihrer Bedeutung aber Grenzen.

Russlands Präsident Wladimir Putin ist darauf erpicht, regelmässig zu zeigen, dass weder er noch sein Land in der Welt isoliert sind. An eigenen Veranstaltungen gelingt das nicht immer gut. Als Putin vor einem Monat am St. Petersburger Wirtschaftsforum mit den Präsidenten Boliviens und Simbabwes auf dem Podium sass, erschien das als unfreiwillige Bestätigung der im Westen verbreiteten Ansicht, Moskau habe sich mit der Entscheidung zum Krieg gegen die Ukraine ins Abseits gedrängt. Auch dem Besuch beim nordkoreanischen Diktator Kim Jong Un haftete der Ruch der Verzweiflungstat an.

Putin trifft Erdogan und Xi

Eindeutiger ist es bei den internationalen Organisationen, die Russland gewogen sind. Die Teilnahme Putins an deren Zusammenkünften suggeriert mehr als nur Normalität. Russland sieht darin die neue geopolitische Wirklichkeit gespiegelt, in der es selbst und andere nichtwestliche Staaten das Sagen haben. Die Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SCO) ist aus russischer Sicht dafür ein besonders geeignetes Beispiel. An diesem Mittwoch und Donnerstag treffen sich die Präsidenten der derzeit neun, demnächst zehn Mitgliedstaaten und einiger ständiger Gäste in der kasachischen Hauptstadt Astana zum jährlichen Gipfeltreffen.

Den ersten Tag nutzte Putin vor allem für eine Reihe bilateraler Begegnungen, unter anderem mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der als Gast zum Gipfel geladen ist. Im russisch-türkischen Verhältnis ruckelt es ein weiteres Mal. Erdogan wandte sich nach seiner Wiederwahl 2023 auch wieder dem Westen zu, statt, wie Putin es wohl gehofft hatte, noch engere Bande zu Moskau zu knüpfen. Seit Monaten ist von einem Besuch Putins in der Türkei die Rede, aber die beiden Präsidenten sind immer noch dabei, ihre Terminkalender aufeinander abzustimmen. Fast wie die Fortsetzung eines grossen Gesprächs wirkte dagegen das Treffen mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping, hatte Putin doch erst Mitte Mai China besucht.

Der dem Kreml loyal gesinnte russische Aussenpolitikexperte Fjodor Lukjanow verwies in einem Kommentar zum SCO-Gipfel darauf, in der sich neu formierenden Weltordnung seien Organisationen wie die SCO ein Erbe der vorangegangenen Periode. Die Interessen der aufstrebenden Mächte widersprächen einander nicht unbedingt, aber sie seien zu vielfältig, als dass ihnen der Rahmen von starren Organisationen dienlich sei. Gefragt seien situative Verbindungen.

Die SCO ist beides: Entstanden als geografisch und inhaltlich relativ eng gefasste Interessengemeinschaft zur Bekämpfung des Terrorismus und des Separatismus – eigentlich zur vereinten Repression gegen interne Unruhestifter – im Herzen Eurasiens, verfügt sie über ständige Organe. Parallel zur Ambition, wichtiger zu werden, ist sie immer weiter angewachsen. Dieses Jahr stösst Weissrussland als Mitglied dazu, was den Ruf einer Vereinigung von Autokraten festigt. Dass die einander feindlich gesinnten Indien und Pakistan seit 2017 Mitglieder sind, setzt die SCO einer steten Zerreissprobe aus und limitiert die Schlagkraft nach aussen. Ihr Wert liegt vermutlich mehr darin, dass sie, gleichsam als Basar, einen Raum für Treffen in unterschiedlichen Konstellationen schafft.

Hochtrabende Hoffnungen Russlands

Lukjanow und wohl auch Putin selbst sehen in der SCO eine Plattform, um die Idee einer «eurasischen Sicherheitsarchitektur» voranzubringen, die der russische Präsident kurz vor der Bürgenstock-Konferenz lanciert hatte. Paradox mutet es an, dass Lukjanow mit Verweis auf die «Herzland»-Theorie des britischen Historikers Halford Mackinder die Bedeutung Eurasiens für Europas und Asiens Sicherheit hervorhebt. Mackinders Theorie war gegen Russlands Einfluss in Zentral- und Südasien gerichtet und aus eben derjenigen kolonialistischen Sichtweise heraus gedacht, die Putin ständig dem Westen vorhält.

Die Widersprüche, die sich innerhalb der SCO auftun, machen es ohnehin schwer vorstellbar, auf dieser Grundlage Putins erst vage formulierte Idee zu konkretisieren. Indien und die zentralasiatischen Mitglieder sowie die Beisitzer Türkei und Mongolei etwa verfolgen gegenüber dem Westen eine zwar eigenständige, aber niemals derart ablehnende Politik, wie das die SCO-Mitglieder Russland und Iran tun. Das betrifft auch den Ausgangspunkt von Putins Initiative, den Ukraine-Krieg, bei dem nur Weissrussland, Iran und, mit Abstrichen, China klar Moskaus Seite eingenommen haben.

Die Annahme, Putins «eurasische Sicherheitsarchitektur» lasse sich über die SCO voranbringen, verweist auch auf eine weitere Eigenschaft dieses losen Staatenverbunds: Jedes Mitglied interpretiert die Organisation auf seine Weise. Russland überschätzt sich aussenpolitisch gerne. Sosehr es dem Kreml und den russischen Propagandisten gefiele: Am Gipfel in Astana dreht sich nicht alles um Russland. Gerade für die zentralasiatischen Mitgliedstaaten liegt der Reiz der Gruppierung darin, dass sie mit China und Russland an einem Tisch sitzen und, falls nötig, deren Interessen in ihrer Region gegeneinander ausspielen können. Das vergrössert ihren Handlungsspielraum und zeigt Putin, dass nicht alle nur auf ihn gewartet haben.

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