Donnerstag, Mai 15

Wer rettet Russland vor sich selbst? Schon Modest Mussorgskys «Chowanschtschina» stellt diese Frage. Claus Guth gelingt in Berlin mit der Dirigentin Simone Young eine spektakuläre Lesart. Sie räumt mit dem Klischee von der russischen Seele auf.

Die Oper hat viele offene Enden. Obwohl drei unterschiedliche Fassungen vorliegen, vervollständigt und instrumentiert von vier namhaften Komponistenkollegen, ist Modest Mussorgskys «Chowanschtschina» musikalisch und inhaltlich bis heute eine Baustelle. Diesen Begriff verwendet nun auch der Regisseur der Neuinszenierung des grandiosen Torsos an der Berliner Staatsoper Unter den Linden: Laufend wechseln in Claus Guths Lesart die verwendeten Mittel und die Blickwinkel.

Wie Puppen werden die Figuren ausgestellt, historisch kostümiert und eingefroren in lebenden Bildern. Dann wieder rücken sie uns, herbeigezoomt per Video, dicht auf den Pelz. Das ist aufregend und neu. Und man begreift schockartig, warum das, was da erzählt wird, zwar lange her ist, aber immer noch nicht abgegolten.

Der mordende Schwan

Zum Beispiel diese Szene im vierten Akt: Fürst Iwan Chowanski (Mika Kares), der historisch ironischerweise den Spitznamen «weisser Schwan» trug, betrinkt sich in seinem Salon. Sein Name gibt der Oper den nicht stubenreinen Titel, zu Deutsch etwa «Die Sauereien des Chowanski». Der war Anführer des Strelitzen-Aufstands von 1668, der von der Regentin Sofia angezettelt wurde, um den kleinen Zar Peter, ihren Halbbruder, aus dem Weg zu räumen. Das ist misslungen, jetzt ruft der Bojar nach seinen persischen Sklavinnen. Sie tanzen, wie Riesenkreisel fliegen die Röcke, zuckersüss kringeln sich Orientalismen ins Ohr. Doch entsetzlich das Massaker, das plötzlich losbricht: Chowanski wird zum mordenden, sterbenden Schwan. Er tötet eine Tanzende nach der anderen, reisst nach Herrscherart alles, was lebt, mit in den Tod: Politik der verbrannten Erde.

Claus Guth lässt ihn dazu in einen schneeweissen Russenkittel stecken, wie er die Strelitzen kenntlich macht auf Wasili Surikows Ölschinken «Morgen der Hinrichtung der Streltsy im Jahr 1698». Zar Peter, inzwischen «der Grosse», rottet sie aus, zu Tausenden werden sie auf dem Roten Platz geköpft. Die Rückwand der Bühne, die als «Wand der Geschichte» dient für allerhand dokumentarische Spotlights, verwandelt sich während des Tanzes in einen Kippspiegel. Schliesslich ist die gesamte Guckkastenbühne übersät mit weissen Flecken wie von geköpften Blumen. Ein Bild, das stärker und tiefer verankert ist im Hier und Jetzt, als es jede plakativ geschwenkte Ukraine-Flagge sein könnte.

Nebenbei wird klar: Das Klischee von der «russischen Seele» ist nichts Schicksalhaftes, auch nichts Gottgewolltes. Es ist menschengemacht, ein Produkt jahrhundertealter Despotie. Ein «musikalisches Volksdrama» hatte Mussorgsky komponieren wollen, um nach seinem «Boris Godunow» ein weiteres finsteres Kapitel der russischen Geschichte zu beleuchten. Das «Vergangene im Gegenwärtigen» wolle er beleuchten, teilte er Wladimir Stasow mit, der ihm Teile des Librettos schrieb. Weiter heisst es in dem Brief von 1872: «Allerlei Volksbeglücker verstehen es geschickt, ihre Berühmtheit noch dokumentarisch zu besiegeln. Das gemeine Volk aber stöhnt, und um nicht zu stöhnen, besäuft es sich und stöhnt nur noch mehr: Wir sind am gleichen Fleck stehen geblieben!»

Ein unsichtbarer Statist

Neun Jahre später, am 28. März 1881, ist das Particell fast fertig, nur das Finale ist noch nicht zu Papier gebracht. An diesem Tag stirbt Mussorgsky, der jahrelange Alkoholmissbrauch zieht ihn mit 42 Jahren aus dem Verkehr. «Chowanschtschina» zerfällt demzufolge, sehr modern, in Episoden, die unvermittelt nebeneinanderstehen. Der Zensur halber konnte Mussorgsky auch die wichtigsten «Volksbeglücker» seines Plots, die beiden Romanows, nicht auftreten lassen: Sofia kommt gar nicht vor, Peter der Grosse nur als Silhouette. Claus Guth lässt ihn nun als Statist durch die Tableaus laufen, als Running Gag.

Dafür verzichtet er auf einen anderen, naheliegenden Statisten: Wladimir Putin bleibt unsichtbar. Aber seine Möbel stehen herum, in zwei Tableaus zu Beginn und am Ende. Ortsmarke: Moskau, Datum: 2. Juni 2024. Wir blicken in sein hell erleuchtetes Arbeitszimmer. Hinter Putins Schreibtisch steht ein Denkmal von Zar Peter, seinem Idol. Neben dem Tisch platziert der Bürodiener gerade den Futternapf seines Hundes. Putin hat mehrere davon, mit den grösseren erschreckt er gern Staatsgäste.

Dieses Arbeitszimmer, menschenleer, kehrt nach dreieinhalb Stunden wieder. Es fährt von oben herein, während aus dem Graben die Glocken des Jüngsten Gerichtes dröhnen und aus dem Hubpodium darunter die Flammen des Autodafés hochschlagen: Gegenwart rahmt Vergangenheit ein. Das Volk bangt, hungert und leidet. Alte und neue Zaren bereichern sich und führen Krieg.

Neben dem Fall Chowanski und den Strelitzenaufständen gilt eine weitere Episode dem Fanatismus der Altgläubigen, die sich teils aus Protest, teils aus Verzweiflung selbst verbrennen: ein Massenselbstmord. Auch Kollateralschäden werden ausgeleuchtet: etwa das Schicksal der schönen Altgläubigen Marfa (Marina Prudenskaya), die nichts weiter sucht als die Wahrheit und sich doch aufopfert für einen Lügenbold, den jungen Fürsten Andrei Chowanski (Najmiddin Mavlyanov), von dem sie wohl weiss, dass er ein Schuft ist wie sein Vater. Oder: das des Fürsten Galizin (Stephan Rügamer), Liebhaber der Sofia und Opportunist, der von westlicher Lebensart träumt und in die Verbannung geschickt wird. Immerhin überlebt er.

Simone Young führt die blendend aufgelegte Staatskapelle mit Eleganz und Understatement sicher durch das zerklüftete Stück. Die Dirigentin trägt entscheidend dazu bei, dass das Publikum drei Stunden lang wie gebannt an den Lippen der durchwegs fabelhaften Sänger hängt. Am Ende erhebt es sich zu Ovationen.

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