Dienstag, April 22

Landesgrenzen bleiben in Friedenszeiten unangetastet. Das nährt den Trugschluss, sie seien unabänderlich. Das Gegenteil ist vielmehr die Regel.

Wir kennen drei Arten von Grenzen: politische, natürliche und kulturelle Grenzen. Sie definieren sich als Trennung, Teilung und Anderssein. Politische Grenzen sind das Ergebnis der Geschichte, und Geschichte ist eine Abfolge von Ereignissen, die oft durch Gewalt und deren Anwendung bestimmt wird.

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Im Laufe der Zeit wurde die rohe Gewalt immer weiter verfeinert, erst wurden Hellebarden durch Gewehre ersetzt, dann haben Panzer die Kavallerie vernichtet, und heute stehen wir mit Drohnen und Atomwaffen am Übergang zu kybernetischen Kriegen.

Machen wir uns keine Illusionen: Grenzen werden immer von Gewalt diktiert, auch wenn territorialer Besitz heute nicht mehr die Bedeutung hat wie um 1800 oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der wirkliche Frieden, der über Jahre hinweg hält, ist jener, der auf einen Krieg folgt, in dem eine der Konfliktparteien eine schwere Niederlage erlitten hat. So geschehen nach dem Sieg über Deutschland und Japan im Jahr 1945. Oder er wird durch die Anwesenheit einer Grossmacht erzwungen, wie es in Rom von Augustus bis Marcus Aurelius der Fall war, der Pax Romana von 30 v. Chr. bis 180 n. Chr.

Lebenslüge des Westens

Hitlers törichte und sinnlose Kriegserklärung an die Sowjetunion und der Bruch des Abkommens von 1939 mit Stalin und Molotow brachten die Sowjetunion, auch dank den Opfern ihres Volkes, auf die Seite der Sieger. Dies ist die erste historische Lebenslüge des Westens. Denn es waren nicht die Demokratien allein, wie behauptet wurde, die in dieser epochalen Konfrontation gesiegt haben. Es gab einen Makel, weil sie eine grausame Diktatur im Schlepptau hatten, die ihre Kritiker längst im Gulag einsperrte.

Die zweite offizielle Lüge war die Behauptung, dass vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Überfall auf die Ukraine Frieden in Europa herrschte. Das stimmt nicht, es gab einen Kalten Krieg mit einigen indirekten Konflikten ausserhalb Europas, man denke an Korea (1950–1953) und bei uns an die Kriege in Jugoslawien (1991–2002).

Roosevelt stand zwar an der Spitze der Nation mit der stärksten Armee, war aber an der Konferenz in Jalta durch Krankheit geschwächt. Roosevelt liess es zu, dass Stalin, der am Tisch der Sieger sass, die Grenzen Europas veränderte, da man ihm die Kontrolle über Länder überliess, deren Geschichte und deren Geografie eine kommunistische Herrschaft Moskaus in keiner Art und Weise rechtfertigten. Länder wie Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei. Die Aufstände in Polen und Ungarn (1956) sowie in der Tschechoslowakei (1968) zeugen von den konfliktreichen Beziehungen zwischen Russland und seinen Nachbarländern.

Es gibt auch die natürlichen Grenzen, die durch die Topografie der Länder vorgegeben sind. Flüsse oder Berge können zwar Hindernisse darstellen, sind aber nicht entscheidend und mit den heutigen Mitteln leicht zu überwinden.

Zugleich hat Hannibal bereits zur Zeit der Punischen Kriege mit 50 000 Kriegern und 6000 Reitern von der afrikanischen Seite des Mittelmeers, von Karthago, 37 Kriegselefanten über die Alpen gebracht, um gegen die Römer zu kämpfen. Natur und Klima können den Charakter und den sozialen Aufbau einer Gesellschaft beeinflussen, aber die natürliche Grenze ist die am wenigsten einflussreiche.

Trügerische Euphorie

Kulturelle Grenzen hingegen sind von grösserer Bedeutung. Man kann ein Gebiet besetzen, aber es ist viel schwieriger, eine Kultur auszulöschen. Eine Kultur im anthropologischen Sinne umfasst Sitten und Gebräuche, Traditionen, Glaubensvorstellungen, den Stolz auf Siege und die Demütigung durch Niederlagen. Ebenso wichtig sind Religion und Klerus.

Es gibt das Erbe heftiger Kriege zwischen Gläubigen verschiedener Glaubensrichtungen, mit Nachwirkungen, die Jahrhunderte andauern. Man denke an den Streit zwischen Hinduismus und Islamismus in Indien oder an die Ressentiments, die in Serbien wegen der Schlacht zwischen Christen und Muslimen von 1389 noch immer virulent sind.

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR, nach dem Fall der Berliner Mauer und der Befreiung der osteuropäischen Länder von der sowjetischen Tyrannei ist das Problem der politischen und kulturellen Grenzen zwischen Europa und Russland wieder aufgetaucht. In der Euphorie oder durch bewusste Ablenkung wurde es unterschätzt. Wir haben uns bis gestern der Illusion hingegeben, dass de Gaulle recht hatte mit der Feststellung, Europa reiche von Gibraltar bis an den Ural. Wir haben uns vorgemacht, dass Tolstoi, Dostojewski oder Gogol auch unsere Autoren waren. Wir vergassen, dass nur ein Russe wie Gogol von «toten Seelen» sprechen konnte und dass der Antichrist aus Dostojewskis unvergesslicher Rede nicht aus der Feder eines Thomas Mann stammen konnte.

Für die Hochkultur könnte man den Einfluss einer transeuropäischen Neugierde geltend machen. Hinsichtlich der politischen Kultur hingegen gibt es keinen Zweifel: Russland hält sich immer noch für ein Imperium und denkt auch imperialistisch über Grenzen.

Gewalt legt die Grenzen fest

In ihrer Eile, den Kalten Krieg mit der Wiedervereinigung Deutschlands zu beenden, vergassen die Amerikaner angesichts des geschwächten Gorbatschow, dass Russland eine Rolle hatte, die die Geschichte diesem riesigen und geheimnisvollen Land zugewiesen hatte. Hier hatten Zaren wie Iwan der Schreckliche, Peter der Grosse und Katharina von Russland mit eiserner Faust geherrscht. Im letzten Jahrhundert wurden sie von nicht weniger grausamen Diktatoren wie Lenin und Stalin abgelöst. Als historische Konstante taucht immer wieder das Interesse auf, die Grenzen zum Nachteil der polnischen und litauischen Nachbarn zu erweitern, die Krim (ehemals osmanisch), Teile der Ukraine und Weissrussland zu besetzen.

Es ist fraglich, ob die beiden Nachbarstaaten, die früher zur Sowjetunion gehörten, der einen oder der anderen Zone zugeordnet werden sollten. Ein Weissrussland, dessen Regierung eng mit Russland verbunden ist, ist eindeutig ausgerichtet. Die Ukraine mit ihrer eigenen Sprache und mit Kiew, das in der Geschichte auch die Hauptstadt Russlands war, bietet viele Vorwände für Anschuldigungen.

Wie schon immer in der Geschichte wird die Gewalt die Grenzen festlegen. Leider ist die Ukraine ungeachtet ihrer begrenzten Kräfte dazu aufgerufen, Russland allein zu bekämpfen. Das Verhältnis zur EU ist zweideutig, und diese erlaubt keine militärische Intervention, die Hoffnung auf einen Sieg machen könnte. Bestenfalls wird der Krieg am Leben erhalten, der weiterhin Opfer fordert und das Land und seine Infrastrukturen zerstört, während der Gegner lediglich geschwächt wird. Mit seiner geostrategischen Vision, die sich nicht auf die europäischen Grenzen beschränkt, kommt Trump nicht umhin, die Niederlage der Ukraine und die mangelnde Bereitschaft Europas, eine direkte Rolle bei der Verteidigung seiner Grenzen zu spielen, zur Kenntnis zu nehmen.

Auf welcher Seite der Grenze steht die Ukraine? Es ist wieder eine Frage der Stärke, einer Stärke, die Europa fehlt. Macrons kriegerische Drohgebärden reichen nicht aus, und er vergisst, dass die französische Armee seit 1870 jeden Krieg verloren hat.

Angesichts der Schwäche Europas sollten wir vielleicht mehr als über die europäischen Grenzen über jene der westlichen Zivilisation sprechen. Um sie zu schützen, brauchen wir die Unterstützung der USA.

Grosszügige Versuche, Gewalt und damit verbundene Konfrontationen mit Verhaltensregeln vorzubeugen, haben zwar Verbesserungen gebracht, sind aber im Wesentlichen gescheitert. Siehe Uno, die heute von einer Mehrheit autokratischer Länder beherrscht wird.

Jenseits der Ressentiments verfallener und verärgerter Aristokraten muss der politische Realismus deutlich machen, dass das Merkelsche Europa mit einem Anteil von 5 Prozent an der Weltbevölkerung und 25 Prozent an der weltweiten Wirtschaftsleistung gescheitert ist. Es spielt in der Weltpolitik keine oder nur eine bescheidene Rolle.

Europas Grenzen können nur dann wirksam verteidigt werden, wenn sie mit westlichen Grenzen übereinstimmen. Hier muss man mit anderen notgedrungen leben, weil man nicht der Stärkste ist.

Tito Tettamanti, Jahrgang 1930, ist Jurist und wurde mit 28 Jahren CVP-Staatsrat im Kanton Tessin. Danach betätigte er sich als Anwalt, Financier und Industrieller. Er ist Präsident der Stiftung Fidinam, die Projekte in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, soziale und wirtschaftliche Entwicklung unterstützt.

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