Donnerstag, Dezember 5

Russland verbindet mit Syrien weltpolitische Ambitionen. Nun kann es dem Vorstoss der Islamisten aber nicht viel entgegensetzen. Auf dem Spiel steht mehr als nur Moskaus Reputation.

Bärtige Männer werfen johlend den Mast um, an dem eine russische Flagge im Wind flattert. Sie treten mit ihren Stiefeln auf die Trikolore, giessen Benzin darüber und zünden das Stück Stoff an. So feiern die syrischen Islamisten ihren Erfolg in Aleppo. Es sind für Russland unschöne Bilder, die in den sozialen Netzwerken kursieren und mit der sonstigen Moskauer Siegesrhetorik stark kontrastieren. Unerwartet offenbar und zu einem ungünstigen Zeitpunkt findet sich der Kreml im Krieg in Syrien wieder, den er lange schon als erfolgreiche Operation abgebucht und von der Prioritätenliste gestrichen hatte. Jetzt ist Russland plötzlich wieder gefragt, um die Stellung des syrischen Diktators Bashar al-Asad zu sichern und damit auch die eigenen Interessen in der Region.

Kleinlaute Reaktion

Russlands Reaktion auf den Rückschlag ist kleinlaut. Der Kreml analysiere die Situation und denke darüber nach, was zur Stabilisierung in Syrien zu tun sei, liess der Sprecher Präsident Wladimir Putins verlauten und musste hörbar nach Worten suchen. Im Hintergrund laufen diplomatische Bemühungen zwischen Russland, Iran und der Türkei. Ende vergangener Woche soll ein rätselhafter Besuch Asads in Moskau stattgefunden haben. Die russische Luftwaffe griff in den vergangenen Tagen Ziele in Idlib und rund um die Städte Aleppo, Hama und Homs an, auf die es die Aufständischen der islamistischen Truppe Hayat Tahrir al-Sham abgesehen haben.

Unter Militär-Kommentatoren, aber auch unter politischen und militärischen Verantwortlichen, ist Beunruhigung und Nervosität zu erkennen. Kurzerhand wurde der bisherige Kommandant der russischen Truppen in Syrien, Generalleutnant Sergei Kisel, durch Generaloberst Alexander Tschaiko ersetzt. Tschaiko hatte früher bereits die Einheiten in Syrien kommandiert. Aber beiden haftet der Makel an, vor ihrer Versetzung nach Syrien mit den von ihnen angeführten Truppenverbänden im Krieg gegen die Ukraine versagt zu haben. Selbst der dem Verteidigungsministerium nahestehende Telegram-Kanal Rybar kritisierte diese Personalpolitik scharf. Zu lange habe der «syrische Sandkasten» dazu herhalten müssen, die Reputation von Versagern in der «Spezialoperation» in der Ukraine reinzuwaschen.

Russlands Ambitionen

Die Rolle Syriens hatte sich für Russland spätestens mit der Entscheidung zum Grossangriff auf die Ukraine geändert. Die Hauptziele schien Putin in Syrien erreicht zu haben. Als er im September 2015 in den syrischen Bürgerkrieg eingriff, um Asad das Überleben zu sichern und an dessen Seite unzimperlich gegen die moderaten Aufständischen und die Islamisten vorzugehen, ging es darum, den Status quo im Land zu sichern. Zugleich wollte er Russland als neue Ordnungsmacht in der nahöstlichen Region etablieren. Dabei wurde auch das Verhältnis zu Iran gestärkt, das Moskau im Ukraine-Krieg unentbehrlich geworden ist.

Ein Nebenaspekt war die Anziehungskraft der islamistischen Milizen für Muslime aus dem Nordkaukasus und aus Zentralasien. Russland bekämpfte sie in Syrien, um die Terrorgefahr im eigenen Land zu reduzieren. Daran erinnern Kommentatoren auch jetzt, vor dem Hintergrund intensiver Diskussionen in Russland um die Politik gegenüber zentralasiatischen Arbeitsmigranten.

Die russische Armee holte sich aber auch, wie Putin immer wieder hervorhob, praktische Erfahrung im Krieg. Die höheren Offiziere, die ab 2022 in der Ukraine im Einsatz waren, und auch manche niedrigeren Chargen waren durch den Wüstenkrieg gegangen. Noch wichtiger als diese Erfahrungen war die Gewissheit, in Syrien im Gegenzug zu der Stützung des Regimes Militärstützpunkte einrichten und sich an der Ausbeutung der Rohstoffe beteiligen zu können.

Umschlagplatz für Afrika

Die Luftwaffenbasis in Hmeimim und der Kriegshafen Tartus sind zentral für Russlands weltpolitische Ambitionen, sowohl im Nahen Osten als auch im östlichen Mittelmeer und in Afrika. Umso mehr steht jetzt auf dem Spiel, da Hmeimim beim Vorrücken der Islamisten in Frontnähe rückt und, wie auch Tartus, vom Rest des von Asad kontrollierten Gebiets abgeschnitten werden könnte. Am Dienstag zirkulierten unbestätigte Meldungen darüber, dass Russland begonnen habe, Kriegsschiffe aus Tartus abzuziehen.

Zwar sagen Fachleute, Russland habe trotz dem Krieg gegen die Ukraine die Präsenz in Syrien nicht markant verkleinert. Das stimmt aber wohl nur mit Bezug auf die regulären Einheiten. In Syrien hatte Russland in grossem Stil den Einsatz der Privatarmee Wagner getestet. Deren Angehörige gehörten zu den wichtigsten russischen Bodentruppen in dem Wüstenkrieg.

Mit dem Ukraine-Krieg verlagerte sich zunächst der Schwerpunkt des Wagner-Einsatzes nach Europa. Die Zerschlagung der paramilitärischen Truppe nach dem gescheiterten Aufstand Jewgeni Prigoschins im Sommer 2023 setzte auch ihrer Präsenz in Syrien ein Ende. Was von Wagner übrig blieb, wurde als Afrika-Korps des russischen Verteidigungsministeriums auf den Nachbarkontinent verlegt. Das Ausgreifen nach Afrika wurde zum neuen strategischen Projekt. Der Luftwaffenstützpunkt Hmeimim ist seither für Russlands Afrika-Operationen zum Transitzentrum geworden. Ein Verlust des syrischen Standbeins wäre für Russlands geopolitische Ambitionen und seine Reputation ein Desaster.

Seine Möglichkeiten sind aber beschränkt. Zusätzliche Truppen nach Syrien zu entsenden, wie sich das Asad wohl wünschte, wird in Moskau ausgeschlossen. Das ginge auf Kosten der Kämpfe in der Ukraine. Dass sich Russland in Syrien zu sehr in Sicherheit gewiegt hat und sich erlaubte, den Schauplatz ein wenig zu vernachlässigen, rächt sich jetzt. Auch das stets fragile Verhältnis zur Türkei, das dem Vorstoss der Islamisten keine Hindernisse bereitete, ist einer neuen Belastungsprobe ausgesetzt.

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