Sonntag, Oktober 6

In russischen Schulen fängt am Montag der Unterricht wieder an. Das neue Fach Familienführung soll Kinder ihre Identität lehren – anhand von «Ehe, kinderreicher Familie und Keuschheit».

Es stehe schlecht um die Geburtenzahlen, schlecht um die Scheidungszahlen, einfach schlecht um das Überleben ihrer geliebten russischen Heimat, hat Tatjana Larionowa kürzlich bei einer Sitzung in der Moskauer Staatsduma gesagt. Die bald 70-jährige Abgeordnete aus Tatarstan will diesem «Verfall» nicht einfach so zuschauen. Lediglich 1,4 Kinder pro Frau kamen im vergangenen Jahr in Russland zur Welt, ähnlich viele wie in der Schweiz. Sieben von zehn Ehen werden in Russland geschieden, in der Schweiz sind es nach Angaben des Bundesamtes für Statistik 40 Prozent aller Ehen.

Larionowa, wie auch andere Abgeordnete unterschiedlicher Parteien, fordert seit Jahren Massnahmen, um ihr Land vor dem «demografischen Abgrund» zu bewahren. Wo, wenn nicht in der Schule, könne den Kindern beigebracht werden, dass ihre reproduktive Funktion das Vaterland retten könne?

Junge Menschen, so heisst es im Duma-Komitee zum Schutz der Familie, müssten «in das für unser Heimatland typische traditionelle System der Familienwerte» eingeführt werden. Das soll mit einem neuen Schulfach namens Familienführung geschehen. Hier sollen die Schülerinnen und Schüler neuerdings ab Klasse fünf lernen, worauf «familienfreundliche Werte» basieren: auf Ehe, kinderreichen Familien und Keuschheit. Die Schule in Russland ist, wie zu Sowjetzeiten, längst zur Anstalt der Indoktrination geworden.

Der Staat weiss, was glücklich macht

Am kommenden Montag, dem sogenannten «Tag des Wissens», fängt russlandweit der Unterricht wieder an. Auch «Familienführung» soll für Kinder ab elf Jahren beginnen. Vorgesehen sind dafür 34 Stunden im Schuljahr, genauso viel wie etwa Chemie in der Oberstufe. Als Pflichtfach ist es nicht gedacht. Das waren aber auch die sogenannten «Gespräche über Wichtiges» nie, das Fach, in dem bereits Drittklässler lernen, dass es nichts Wichtigeres im Leben gebe, als für sein Vaterland zu sterben. Doch Kinder, die das nicht besuchen, bekommen nicht selten Probleme mit dem Schulamt oder gar dem Jugendamt.

Auch für den Schulanfang steht bei den «Gesprächen» wieder ein patriotisches Thema an: «Das Bild unserer Zukunft». Russland, das sein Nachbarland Ukraine überfallen und vielen die Zukunft genommen hat, diskutiert in den Klassenräumen darüber, wie hell das Morgen sei. Derweil nimmt der Krieg – auch im eigenen Land – einigen Kindern in diesen Klassenräumen Väter und Grossväter.

Ähnlich hohl verhält es sich mit den hochgelobten «Familienwerten». Noch im vergangenen Dezember hatte Präsident Wladimir Putin das Jahr 2024 zum «Jahr der Familie» erklärt. Familie – das ist im Verständnis der russischen Politik eine «vollständige Familie, also Mann und Frau, samt drei und mehr Kindern» – solle popularisiert, ja zur sozialen Norm werden. Alleinerziehende, Familien mit nur einem Kind oder kinderlose Familien werden so immer mehr als etwas «Unnormales» gesehen.

Dass Männer von der Front nicht mehr nach Hause kommen und die «Vollständigkeit der Familie» schon allein dadurch nicht erreicht wird, spielt da keine Rolle. Zudem ist es in Russland nicht untypisch, dass Kinder bei Mutter und Grossmutter aufwachsen. Homosexuelle Beziehungen gelten im Land als «extremistisch», queere Familien mit und ohne Kinder existieren für den Staat somit nicht.

Das neue Fach ist explizit als Ersatz für Aufklärungsunterricht gedacht, den es an staatlichen russischen Schulen bis heute nicht gibt. Während in den USA, so heisst es im Handbuch zur «Familienführung», bereits die Kleinsten mit Sexualkundeunterricht «malträtiert» würden, sollten russische Kinder viel über das «warme Gefühl der Liebe» erfahren. In den Klassen fünf bis neun gibt es fünf Blöcke der «Familienführung». In «Mensch, Familie und Gesellschaft» sollen die Kinder lernen, wie sie einen «richtigen Begleiter fürs Leben» finden. «Nicht jeder lebt in einer vollständigen Familie, aber jeder sollte eine vollständige Familie anstreben, denn nur damit wird man glücklicher», soll die Botschaft der Lehrer an ihre Klasse lauten.

In «Meine Verwandten» sollen die Schüler ankreuzen, inwieweit die Mutter die Rolle der Köchin, der Putzfrau oder der Hausaufgabenhilfe erfüllt, ob sie stricken mag oder lieber lesen und Klavier spielen. Die Rolle des Vaters müssen sie dabei weder kategorisieren noch bewerten. «Ist Papa zu Hause das Oberhaupt?», soll die Lehrerin fragen oder: «Wen begrüsst ihr mit einem Lächeln: Mama oder Papa, wenn sie nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommen?»

Im Block «Familiäre Wärme und mehr» stehen «Schönheit und Komfort zu Hause» auf dem Programm. Hier wird den Jugendlichen erklärt, wie eine Wohnung einzurichten ist. Denn die Atmosphäre zu Hause sei das Wichtigste. In Tabellen sollen die Schüler ihr Verhalten bewerten und Punkte vergeben, welche Tätigkeiten sie im Haushalt übernehmen. Die Lehrer sollen es später vergleichen und bewerten. Als Tipps für eine «wohlige Atmosphäre» wird so etwas Banales wie «gemeinsame Spaziergänge und Ausflüge» vorgeschlagen oder auch empfohlen, gemeinsam zu putzen. In «Moderne Familie und ihre Rechte» lernen die Jugendlichen, wie sie die Unterlagen fürs Standesamt ausfüllen oder welche Gelder ihnen als künftige Eltern zustehen.

Früh heiraten und an den Nachwuchs denken

In den Klassen zehn und elf sollen die Teenager ihre «Bereitschaft zur Geburt von Kindern» ausarbeiten, indem sie sich «Wissen über die intimen Aspekte des menschlichen Lebens» aneignen. Was diese «Aspekte» ausmacht, wird im Handbuch nicht erklärt. 13 von 34 Stunden sind dem Block «Familien und ihr Alter» gewidmet. Hier heisst es, junge Frauen seien mit 20 bis 22 Jahren bereit zum Heiraten, junge Männer mit 23 bis 28. Da hätten sie eine «bürgerliche Reife und ein moralisches Bewusstsein». Es soll ihnen beigebracht werden, wie sie ihre Hochzeit vorbereiten, die Schwiegereltern kennenlernen und ihre reproduktive Gesundheit in Ordnung bringen sollen. Denn bei «Zeugung des Nachwuchses müssen die jungen Menschen im Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlstandes sein», steht da.

«Fächer wie dieses rauben den Kindern ihre Persönlichkeit. Der Staat erzählt ihnen hier über die einzig wahre Art der Liebe, der Familie, des Aufwachsens. Es ist absoluter Mist», sagt der mittlerweile im Exil lebende Pädagoge Dima Zicer. Genau darum aber geht es dem russischen Staat: dass die Menschen ohne jeglichen Zweifel aufwachsen.

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