Samstag, September 28

Russland belächelt die Konferenz auf dem Bürgenstock, verfolgt aber genau, was dort geschehen wird. Am Freitag erhob Präsident Putin überraschend neue, völlig inakzeptable Forderungen.

Russland versucht alles, die Konferenz zum Frieden in der Ukraine auf dem Bürgenstock in ein schlechtes Licht zu rücken. Von einem «Treffen unter ihresgleichen» sprach Aussenminister Sergei Lawrow nach dem Treffen der Aussenminister der Brics-Staaten in Nischni Nowgorod abschätzig. Die Versammelten seien sich darin einig gewesen, dass einseitige Herangehensweisen nichts brächten. Von Anfang an hatte Moskau kein gutes Haar an den Schweizer Bemühungen gelassen und sogleich betont, es werde daran nicht teilnehmen, egal ob es eingeladen werde oder nicht.

Lieber Opfer als Spielverderber

In der Sache ist sich Russland treu geblieben, aber es stilisiert sich jetzt opportunistisch zum Opfer der Umstände. «Wir wurden ja nicht eingeladen», sagte Präsident Wladimir Putin zum Abschluss seines China-Besuchs im Mai in der nordchinesischen Stadt Harbin. Also könne man auch gar nicht mitreden. Moskau will nicht als Spielverderber dastehen, sondern als Ausgeschlossener. Das ist taktisch klug, weil klar ist, dass auch die Freunde, die Partner und die selbsternannten Vermittler aus dem Kreis der nichtwestlichen Staaten es lieber früher als später sähen, wenn der Krieg in der Ukraine ein Ende fände.

Erst versuchte Russland, diese von einer Teilnahme auf dem Bürgenstock abzubringen. Bei China, Saudiarabien, Südafrika und anderen war es damit erfolgreich. Diejenigen, die doch in die Schweiz reisen, aber Moskaus Skepsis über die Veranstaltung teilen, etwa die Türkei oder Indien, sollen jetzt Russlands Sicht einbringen und als russische Augen und Ohren dienen. Zu erwarten, dass die Ergebnisse der Konferenz Russlands Führung und Bevölkerung beeindrucken und zur Reflexion über ihr Vorgehen gegenüber der Ukraine und dem Westen anstossen könnten, ist aber vollkommen weltfremd.

Russische Bedingungen

Die russische Führung, ihr nahestehende Experten und Propagandisten verbreiten die Ansicht, die Gegner Russlands hätten zu liefern, nicht Moskau. Sie sehen Russland in der Position der Stärke und den Westen in einer Sackgasse. Die Ukraine wird gar nicht als eigenständiger Akteur wahrgenommen. Erst wenn primär die Europäer ihre Aussichtslosigkeit eingesehen hätten, sei die Zeit reif für Verhandlungen, schrieb Sergei Krylow, ein früherer stellvertretender Aussenminister und russischer Botschafter in Deutschland, dieser Tage in einem Aufsatz. Die russischen Forderungen müssten sich dann an Putins Rede vom 24. Februar 2022 und an den Dokumenten über «Sicherheitsgarantien» für Russland vom Dezember 2021 orientieren.

Krylows Meinung spiegelt nicht zwingend die offizielle Position Russlands. Putin und hohe Funktionäre knüpfen aber ihre ständig wiederholte Gesprächsbereitschaft an Bedingungen. Moskau will sich nur auf einen Verhandlungsprozess einlassen, dessen Grundlage die Berücksichtigung russischer Interessen ist. Was Putin darunter versteht, sagte er unter anderem am Wirtschaftsforum in St. Petersburg. Er nannte die angeblichen Verhandlungsergebnisse der Friedensgespräche in Istanbul vom Frühjahr 2022 sowie die «territorialen Realitäten» als Bedingungen für die Wiederaufnahme von Gesprächen.

In einem Auftritt vor russischen Diplomaten am Freitag in Moskau wurde er noch konkreter: Dem Start von Verhandlungen müsste Kiews militärischer Rückzug aus dem gesamten Territorium der bereits annektierten, in der Verfassung als Teil Russlands festgeschriebenen Gebiete im Donbass und in der Südostukraine vorangehen, ebenso der Verzicht auf den Nato-Beitritt. Daraufhin würde Russland die Waffen schweigen lassen. Diese Bedingungen gehen weit über ein Einfrieren der Front hinaus und sind für die Ukraine zweifellos unerfüllbar.

Der polnische Politologe Daniel Szeligowski erinnerte nach Putins Auftritt in St. Petersburg daran, worauf das hinausliefe: Faktisch bedeuteten die Forderungen die Kapitulation Kiews, die Kontrolle Russlands über die politischen Prozesse in der Ukraine und die Teilung des Landes in eine Restukraine und in Territorien, die an Russland fielen. Damit hätte Putin vermutlich ein Ziel erreicht – und ginge darüber hinaus auch mit der Gewissheit vom Platz, als Sieger im Kampf gegen den Westen und dessen freiheitliche und völkerrechtliche Vorstellungen dazustehen.

Für die Propaganda gibt es die Ukraine nicht

Allerdings haben Putin und seine Apologeten immer wieder klargemacht, dass es ihnen um die Vernichtung alles Ukrainischen geht. Zum russischen Nationalfeiertag am 12. Juni verbreitete der frühere Präsident Dmitri Medwedew eine animierte Grafik, auf der sich die russische Flagge langsam von Osten nach Westen ausbreitet und zum Schluss die ganze Russische Föderation bedeckt. Das Territorium der Ukraine, die Medwedew stets nur noch mit dem Attribut «ehemalig» benennt, geht darin vollständig auf.

Früher schon hatte er eine Karte präsentiert, auf der die Ukraine weitgehend auf die Nachbarstaaten aufgeteilt war. Dass es Russland über die bereits besetzten Gebiete hinaus nach der Region Charkiw im Nordosten und dem gesamten Küstenstreifen des Schwarzen Meeres mit der Hafenstadt Odessa dürstet, ist kein grosses Geheimnis.

Neuerdings behauptet Putin auch, der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski habe seine Legitimität verwirkt, und die Verfassung sehe eine Verlängerung der Amtszeit auch in Kriegszeiten nicht vor. Am 20. Mai war dessen fünfjährige Amtszeit tatsächlich abgelaufen. Putins Unterstellungen haben aber keine rechtliche Grundlage. Sie dienen der Ablenkung und der psychologischen Kriegführung genauso wie die von russischer Seite wiederholt verbreiteten Gerüchte, der Westen sei Selenskis überdrüssig und bereite dessen Nachfolge vor.

Entspannung ist eine Illusion

Echten Friedenswillen lässt Putin jedenfalls nicht erkennen. Sonst würde er nicht völlig unrealistische Vorbedingungen dafür aufstellen. Im Westen geht gerne vergessen, dass das russische Regime nicht nur gegen die Ukraine Krieg führt, sondern auch nach innen, gegen alle Andersdenkenden in der russischen Gesellschaft. Wer aufbegehrt, wird physisch und moralisch zerstört. Deshalb lag im Tod Alexei Nawalnys im Straflager so viel niederschmetternde Symbolik.

Der Staat wurde in den vergangenen zwei bis drei Jahren systematisch auf die Bedürfnisse der Kriegführung und der Gleichschaltung ausgerichtet. Die Mehrheit der Bevölkerung hat sich daran angepasst und teilt, aktiv oder passiv, zumindest die antiwestliche Gesinnung. In der Gesellschaft mag es eine Nachfrage nach dem Ende der «Spezialoperation» geben. Auf die bereits einverleibten Gebiete im Osten der Ukraine will die Mehrheit aber nicht verzichten. Die Ideologisierung und Indoktrinierung würden auch nach einer Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine weitergehen. Sie prägen die nächsten Generationen.

Ein Zurück zu den Verhältnissen vor dem 24. Februar 2022 ist weder im Innern Russlands noch im Verhältnis zum Westen auf absehbare Zeit vorstellbar, selbst wenn die Konferenz auf dem Bürgenstock der Auftakt für weitere Gesprächsrunden, auch unter Einbezug Russlands, wäre. Dem immer wieder als Vorbild genannten Prozess der Entspannung zwischen Ost und West vor fünfzig Jahren gingen unmittelbar keine Kriegshandlungen voraus.

Neue Weltordnung

Für Russland müsste ein Ende des Krieges gegen die Ukraine mit einer sicherheitspolitischen Neuordnung Europas einhergehen. Putin sprach am Freitag von einer neuen eurasischen Sicherheitsarchitektur. Aus Sicht Putins und staatsnaher Experten ist die westliche Unterstützung für die Ukraine Ausdruck eines verzweifelten Festhaltens an einer alten, bereits verlorenen Weltordnung. Erst wenn der Westen seine Niederlage eingesteht und Russland, China und andere aufstrebende Mächte ihren gebührenden Platz in einer neuen Weltordnung bekommen, hat Moskau seine Ziele erreicht.

Westliche Beobachter mögen diese Vorstellungen unrealistisch, wirr oder gar lächerlich finden. Besser wäre es, sie ernst zu nehmen. Putins Russland ist von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt, und die vergangenen zweieinhalb Jahre haben es in seiner Haltung bestärkt.

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