Dienstag, Oktober 22

Ruth Erdt setzt dem einst unbeliebten Aussenbezirk ein Denkmal.

Wenn die Fotografin Ruth Erdt in Zürich Schwamendingen unterwegs ist, hat sie neben ihrer Kamera häufig noch zwei weitere Dinge im Rucksack: eine orange Leuchtweste und einen Schutzhelm aus Plastik.

Diese Requisiten braucht sie, um sich Zugang zu den grossen Baustellen zu verschaffen, wo sie fotografiert, wie sich das Quartier verändert. «Wenn sie mich in dieser Kluft sehen, halten mich die Poliere für eine Architektin oder so. Und lassen mich in Ruhe meiner Arbeit nachgehen.» Sie sagt es, und die Freude an ihrer Verkleidung ist ihr anzusehen.

Der Trick ist simpel, aber effektiv. Er funktioniert auch an einem trüben Dienstag im September. Der Überlandpark auf dem Deckel der Schwamendinger Autobahn-Einhausung gilt bis zu seiner Eröffnung noch als Baustelle – und ist für die Öffentlichkeit gesperrt. Doch in ihrer Bauarbeitermontur kann Ruth Erdt so lange durch die Anlage führen, wie sie möchte. Die Gärtner, die in einem Abschnitt Pflänzchen in die Erde drücken, lassen sie gewähren.

Bei jedem Schritt knirscht der Kies unter den Schuhsohlen. Davon abgesehen, ist es still. Der Geruch von nasser Erde liegt in der Luft. Stauden und Bäumchen, Blumenbeete und Bänke säumen die 940 Meter lange Allee. Im Nebel dieses Herbsttages wirkt die Anlage wie ein verwunschener Park.

Dabei ist es bloss ein paar Jahre her, dass hier der Verkehr der A 1 mitten durch das Quartier donnerte – 120 000 Fahrzeuge jeden Tag. Mit der Hand zeigt Erdt auf eine Reihe kleiner Arbeiterhäuschen und sagt: «Die halbe Schweiz raste vorbei, und die Leute hatten ihre Stubenfenster zur Strasse hin.»

Was sie erzählt, klingt unwirklich: Bis auf etwas Russ, der sich auf ewig in die Fassaden gefressen hat, erinnert nichts mehr an die Zeit, von der sie spricht. Aber Ruth Erdt hat den Wandel dieser Gegend selbst erlebt – und ihn als Künstlerin genau dokumentiert.

Abbruchhäuser, Landwirtschaft und Stadtoriginale: Ruth Erdt hat in 20 Jahren rund 60 000 Aufnahmen von Schwamendingen gemacht.

«Wir waren ja ohnehin alles Aussenseiter»

Ruth Erdt lebt seit Anfang der neunziger Jahre in Schwamendingen. Sie war gerade Mutter geworden, als sie ein Zuhause suchte, in dem sie ein Atelier einrichten konnte. In Zentrumsnähe war die Kombination aus Wohn- und Arbeitsraum unerschwinglich. In Schwamendingen dagegen war noch Platz: Ein Freund vermittelte ihr ein Häuschen mit schlechter Heizung, dafür mit Garten und ausgebautem Dachstock. Für Erdt und die junge Familie ein Glücksfall – trotz der Lage.

Damals war Schwamendingen nur für seine beiden Kehrichtverbrennungsanlagen bekannt, für die Autobahn und für den höchsten Ausländeranteil aller Zürcher Stadtteile. Erdt wusste um den schlechten Ruf des Viertels: «Schwamendingen galt als das hässliche Entlein der Stadt. Die wenigsten waren hier je gewesen, aber alle schienen zu wissen, dass sie hier nicht hinwollten.»

Erdt zog trotzdem her. Und merkte bald: Dort, wo die Stadt langsam ausfranste, lebte es sich ungezwungener als im Zentrum. Es habe niemanden gekümmert, was man gemacht oder wie man sich angezogen habe. «Wir waren ja ohnehin alles Aussenseiter. Wir waren nicht so streng miteinander.»

Entsprach Schwamendingen also nie dem, was die Leute sich darüber erzählten? Zumindest sei das Quartier immer mehr gewesen als die Vorurteile, sagt Ruth Erdt. Sie habe sich an ihrem neuen Wohnort jedenfalls rasch wohlgefühlt. Ihre Umgebung empfand sie als inspirierend. Sie beschloss, mit der Kamera auf die Suche nach dem zu gehen, was dieses Quartier besonders macht.

Das war der Anfang eines aussergewöhnlichen Projekts.

Schwamendingen war bekannt für seine Kehrichtverbrennungsanlagen und hatte einen schlechten Ruf. Doch die Menschen waren stolz darauf, dass sie dort lebten.

Ein Monument von einem Buch

In der Tulpenstrasse musste 2019 eine ganze Siedlung weichen, weil dort die Zufahrt zur Baustelle für die Einhausung entstehen sollte. Mit ihrer Leuchtweste und dem Helm sah sich Ruth Erdt vor dem Abbruch in den Häusern um und fotografierte, was die Bewohner zurückgelassen hatten. Auf eine Wohnzimmerwand hatte zum Beispiel jemand geschrieben: «Danke für alles».

Die Baustellen spielen in Erdts Schaffen eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die einzige. Neben leer geräumten Wohnblöcken, Kernsanierungen und den Arbeiten an der Einhausung fotografiert sie auch junge Menschen, Strassenszenen, Landwirte, Stadtoriginale, Ladenlokale, die Schwamendinger Chilbi oder die Badi Auhof.

Es dürfte kaum ein Sujet geben, das sie in den letzten 20 Jahren nicht fotografiert hat: Rund 60 000 Bilder hat Erdt angefertigt, die meisten in der Zeit von 2012 bis heute. Studioaufnahmen, Porträts, Reportagen, Details oder Architekturbilder – alle Genres, alle Stile, alle Techniken. Alles im Kreis 12.

«K12», so heisst nun auch das kolossale Buch, in dem eine Auswahl dieser Bilder zu sehen ist. Es hat 900 grossformatige Seiten, enthält über 600 Abbildungen und wiegt so viel wie drei Ziegelsteine.

«K12» ähnelt eher einem Monument als einem Bildband: Es ist ein Denkmal für ein buntes, lautes, eigenwilliges Quartier. Die Bilder halten Gegensätze, Brüche, Spannungen und Überraschungen fest. Mal stehen sich auf einer Doppelseite zwei entsorgte Matratzen und ein Weihnachtsmann mit Armeegürtel gegenüber, mal klettert ein Nackter über frisch gefällte Bäume – und einmal hält eine Züchterin voller Stolz ihr Kaninchen in die Kamera.

Entsorgte Matratzen, Samichläuse, nackte Wanderer und weitere Kuriositäten: Ruth Erdts Blick auf ihr Quartier ist genau, aber liebevoll.

Sie habe der Vielfalt von Schwamendingen unbedingt gerecht werden wollen, sagt Ruth Erdt – auch wenn sie an diesem Anspruch beinahe zerbrochen sei. Zwei volle Jahre habe sie gebraucht, allein um die Fotografien für das Buch auszuwählen und in eine stimmige Reihenfolge zu bringen.

Bei sich zu Hause legte Erdt die ausgedruckten Bilder auf dem Boden aus, um den Überblick zu behalten. Schwamendingen in jeder Ecke des Hauses – im Dunkeln rutschte sie auf ihren Ausdrucken aus. Die Arbeit nahm obsessive Züge an.

Doch nach Monaten zahlte sich die intensive Beschäftigung langsam aus: Erdt begann in den Bildern einen Rhythmus zu erkennen. Später ergänzte eine Melodie den Rhythmus. Eine Erleichterung – denn da habe sie gewusst, dass das Projekt gelingen würde: «Das war der Sound von Schwamendingen.»

Brooklyn, East End, Neukölln – und Schwamendingen

Zurück im Überlandpark. Die idyllische Stille auf dem Deckel der Autobahn-Einhausung wird wohl nicht lange halten. Ringsum künden Baugespanne von ambitionierten Bauprojekten. Baulärm wird den eben erst verstummten Verkehrslärm ablösen. Bis es hier das nächste Mal still wird, ist das Quartier schon wieder ein ganz anderes.

«Schwamendingen war die Banlieue von Zürich, und die Leute waren stolz, von hier zu sein. Doch jetzt wird in kurzer Zeit alles neu und anders», sagt Erdt. Spätestens die Einhausung habe einen Prozess in Gang gesetzt, den man von den Aussenbezirken anderer Grossstädte bestens kennt: Gentrifizierung.

«Jetzt wird in kurzer Zeit alle neu und anders», sagt Ruth Erdt nach über 30 Jahren in Schwamendingen über ihre Heimat.

Schwamendingen wird Brooklyn, wird East End, wird Défense, wird Neukölln. «Schwamendingen ist überall» – das ist eine von Ruth Erdts Erkenntnissen nach 35 Jahren im Kreis 12. Wer sich in der Kunsthalle Zürich die Begleitausstellung zu «K12» anschaut, wird staunen, wie mondän Schwamendingen im Museum wirkt.

Die Ausstellung holt Schwamendingen, den Aussenbezirk, ins Innere der Stadt, verwandelt das «hässliche Entlein» in ein Gesamtkunstwerk. Ein grösseres Kompliment hätte Erdt ihrem Viertel nicht machen können.

Und jetzt?

Die Fotografin ist unsicher. Das Projekt ist abgeschlossen, aber das Quartier liegt noch immer vor ihrer Haustür. Sie lebt im gleichen Häuschen wie damals – unterdessen wurde es an das städtische Fernwärmenetz angeschlossen. Erdt weiss: Es gibt noch andere Projekte, denen sie nachgehen könnte. Sie weiss aber auch: Schwamendingen nach so vielen Jahren loszulassen, das wird schwierig.

«Vielleicht muss ich wegziehen, damit ich noch einmal etwas Neues anfangen kann.» Sie sagt es und lächelt.

Ruth Erdt: K12. Schwamendingen, ein Randbezirk von Zürich. Hg. von Urs Stahel. Steidl-Verlag Göttingen. 912 S., Fr. 75.–. Die Fotografin stellt ihr Buch am 1. November um 18 Uhr in der Kunsthalle Zürich persönlich vor. Die Ausstellung läuft bis am 19. Januar 2025.

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