Dienstag, August 12

Die Tschechow-Oper «Drei Schwestern» von Péter Eötvös führt eindrucksvoll vor, wie originell man auf der Bühne mit der Gender-Frage spielen kann – in Salzburg werden die Hauptrollen von Männern gesungen.

Fünf Schwestern stehen im Kreis herum auf dem Salzburger Residenzplatz. Sie heissen Minna, Wilsis, Rose, Rui Rui und Soribel. Ihre Augen sind geschlossen, sie träumen. Erfunden und geformt hat diese bis zu elf Meter hohen Skulpturen der katalanische Künstler Jaume Plensa, nach Lebendmasken junger Mädchen. Sie umrahmen nun, in demonstrativer Passivität, die maskuline Machtprotzerei des barocken Residenzbrunnens, dessen fünf muskulöse Tritonen samt kriegerischen Meeresrössern Unmengen von Wasser in die Luft spritzen, seit mehr als dreihundert Jahren. Sie verändern damit den öffentlichen Platz am Dom. Man nimmt ihn jetzt anders wahr als zuvor. Die Leute kreuzen ihn nicht mehr in Eile – man verweilt. Man sitzt herum, als sei man irgendwo im Grünen, und denkt nach im Schatten der Riesenfrauen, die, so sagt es Jaume Plensa, «das Schweigen teilen und die Hoffnung».

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Ein paar Schritte weiter, in der Felsenreitschule, stehen drei Schwestern auf der Bühne und wissen nicht mehr weiter. Oder vielmehr: drei junge Männer, Countertenöre, in weissen Frauenkleidern. Sie singen in Sopranlage von Ohnmacht und Endzeit, heissen Irina, Olga, Mascha: drei tieftraurige Figuren aus dem Fin de Siècle, ratlos und ohne Zukunftswillen, erfunden von dem Schriftsteller Anton Tschechow. Als das Stück 1901 herauskam, befand ein Kritiker: «Diese ‹Drei Schwestern› legen sich wie ein Stein aufs Gemüt.» Rund hundert Jahre später verwandelte Péter Eötvös (1944–2024) dieses Drama in eine Oper. Sie wurde 1998 in Lyon uraufgeführt, als sich abermals eine grundstürzende Zeitenwende ankündigte.

Ideale Voraussetzungen

Die postmoderne Vielgestaltigkeit der Musik von Eötvös hat dazu beigetragen, dass die «Drei Schwestern» alsbald ein neues Repertoirestück wurden. In Zürich wurden sie letztmals 2013 inszeniert von Herbert Fritsch; dabei sangen drei Frauen die Titelrollen – eine vom Komponisten gebilligte Zweitversion. Jetzt ist das Stück endlich bei den Salzburger Festspielen angekommen, und zwar in seiner Originalfassung, die sämtliche Frauenrollen mit Männerstimmen besetzt. Die Voraussetzungen dafür sind ideal: Nie zuvor hat es so viele junge, phantastisch präzise und höhensicher singende Countertenöre gegeben wie zurzeit.

Einerseits wollte Eötvös mit der ungewöhnlichen Besetzung an den immer schon in der Oper praktizierten «Gender-Swap» erinnern: Bis ins frühe 19. Jahrhundert traten Kastraten in Männer- und Frauenrollen auf, bis heute singen Frauen sogenannte Hosenrollen. Allerdings schwärmte Eötvös andererseits von einer abstrakten Idealstimme: Er sah in den Schwestern «weder Frauen noch Männer» – vielmehr repräsentierten sie für ihn das «zeitlose Schicksal der Menschheit.»

Gleich im ersten Auftritt vereinen sich die drei hohen Stimmen zu einem fein verhäkelten Madrigal-Terzett, in dem es heisst: «Unser Leid wird sich in Freude verwandeln, für all diejenigen, die nach uns kommen.» Was nichts weiter ist als Selbsttäuschung. Irina, Olga und Mascha singen einander Mut zu, wie Kinder, alleingelassen im dunklen Wald. In Tschechows Drama taucht dieses eschatologische Schlusswort erst in der letzten Szene auf. Eötvös wertet es auf, es wird zum Motto, gleich im Prolog.

Eötvös stellt allerdings auch den latenten Komödienaspekt aus, der bereits in den raumgreifenden Dialogen bei Tschechow vorhanden ist. In der Vertonung tritt er in aller Schärfe hervor. Da klimpern die zerbrochenen Teetassen, da hagelt es unvermittelt ausbrechendes Gelächter und teilweise unverständliche, aus dem Kontext gerissene Pointen. Der Regisseur Evgeny Titov hat gerade diese grotesken Bizarrerien unerhört präzise ins Licht gesetzt – vor düsterem Hintergrund.

Verstörende Verfremdung

Denn offenbar hat ein Krieg stattgefunden in der Felsenreitschule. Das apokalyptische Bühnenbild von Rufus Didwiszus zeigt ein Trümmerfeld, wie man es von Bildern aus Gaza oder aus ukrainischen Städten kennt. Geborstene, verbogene Eisenbahngleise ragen steil aus einem Granattrichter, links ist ein Tunnel noch intakt, rechts endet der Schienenweg an einer Wand. Davor spielt sich, in verstörender Verfremdung, das Salongeplauder der drei Schwestern mit ihren Verehrern ab.

Die Kostümbildnerin Emma Ryott hat die Mitwirkenden teils in historische Uniformen und Krinolinen gesteckt, teils in zeichenhafte Comic-Klamotten. So ist es entlarvend und witzig zugleich, wenn sich Andrei (Jacques Imbrailo), der schwächliche Bruder der Schwestern, nach einem herzzerreissenden Lamento aufrafft und sich aus seinem Fatsuit schält: Er ist und bleibt ein Verlierer, nackt sieht er auch nicht besser aus. Oder wenn seine herrschsüchtige Gattin Natascha, über ausladende Röcke stolpernd, gleichwohl ameisenflink und in höchsten Tönen kreischend, die steilen Trümmerberge hinaufkraxelt: Sie ist der schrillste Farbfleck in dieser Tragödie und, verkörpert von dem unerhört geschmeidigen Countertenor Kangmin Justin Kim, die einzig echte Buffo-Rolle.

Dennis Orellana, ein Sopranist aus Honduras, stattet die jüngste Schwester Irina mit zauberhaft soubrettenhafter Oberflächlichkeit aus. Der kanadische Counter Cameron Shahbazi betört als Mascha mit stiller Dezenz. Als Olga steht, mit Wärme und grossem Ton, der amerikanische Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen im Fokus.

Das Klangforum Wien stellt sowohl das kleine Solistenensemble, welches sichtbar im Orchestergraben spielt und die Dialoge begleitet, wie auch ein zweites, gross besetztes Orchester, das unsichtbar aus dem Off Tutti-Klänge für Show- und Raumeffekte zuliefert. Dass die beiden Formationen so perfekt ineinandergreifen, dafür sorgt Maxime Pascal. Dieser junge, mit zeitgenössischer Musik leidenschaftlich erfahrene Dirigent ist genau der Richtige für dieses heikle Stück. Vom ersten zarten Ton des Akkordeons an baut sich eine Spannungskurve auf, die an Intensität nicht zu überbieten ist.

Puppenschwestern

Die «Drei Schwestern» wurden so zu einer Punktlandung: Das Zeitgenössische lieferte die beste Produktion der Salzburger Festspiele in diesem Sommer. Die zweitbeste spielte sich überraschenderweise im Kleinstformat ab. Der deutsche Maler und Bildhauer Georg Baselitz hatte für das Salzburger Marionettentheater eigens neue Puppen entworfen, für Igor Strawinskys «Geschichte vom Soldaten».

Die Puppen haben Knautschköpfe und endlose Papprollenglieder, kein Gesicht. Sie sprechen nicht und singen nicht, das erledigen andere für sie, etwa der Schauspieler Dominique Horwitz oder die Geigerin Isabelle Faust. Aber sie tanzen. Und wie! Allein für die akrobatisch überbordenden Ballerinasprünge der Prinzessin sind drei Puppen nötig, mit unterschiedlich langen Armen und Beinen. Drei winzige, lustige Schwestern, die am Ende dem Teufel direkt in die Hände spielen.

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