Freitag, August 1

Gibt es eine Lösung, wenn man alle Konfliktparteien einfach in einen Bunker sperrt? Wie gehen die Opfer mit den Folgen von Willkürherrschaft um? In Salzburg ringt man diesen Sommer so intensiv wie lange nicht mit politischen Fragen.

Christoph Waltz schaut missmutig. Er kann diesen Ödipus einfach nicht leiden, daran lässt der bekannte Schauspieler keinen Zweifel. Denn dieser Aufschneider brüstet sich immer noch damit, wie er einst die Sphinx überlistet und Theben im Alleingang sozusagen wieder «great» gemacht hat. Dabei wissen doch alle längst, dass der König nebenbei seinen Vater erschlagen und die eigene Mutter ins Ehebett gezerrt hat.

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Waltz aber soll, so will es der Text von Jean Cocteau, den er an diesem Abend rezitiert, nicht nur Verachtung für den antiken Namensgeber des Inzests schüren – ein wenig soll man auch mitfühlen mit dem, der angeblich nur durch die Launen des Schicksals zum Täter geworden ist. Waltz ist jedoch nicht der Mann für Verklärungen à la Cocteau. Also setzt er dieses unnachahmliche Gesicht mit dem zynischen Grinsen auf, das man aus seinen Tarantino-Filmen kennt, und entlarvt Ödipus mit maximal distanziertem Ton als selbstherrlichen Machtmenschen.

Das schauspielerische Kabinettstück ist Teil einer hochkarätigen Aufführung von Igor Strawinskys «Oedipus Rex» mit den Wiener Philharmonikern unter Esa-Pekka Salonen im Festspielhaus von Salzburg. Strawinskys Opernoratorium hat im Programm der diesjährigen Sommerfestspiele eine raffinierte Scharnierfunktion: Es schlägt eine Brücke von der traditionsreichen «Ouverture spirituelle», die dem Thema «Fatum» gewidmet war, zum Reigen der Opernproduktionen. Hier beschäftigt man sich mit verschiedensten Spielarten von «Macht».

Ein gewagtes Konzept

Das Thema liegt in der Luft, es war 2019 schon Leitmotiv am Lucerne Festival. Die ersten beiden Opernpremieren in Salzburg machen indes klar, dass der Festspielintendant Markus Hinterhäuser nicht bloss dem Zeitgeist nachlaufen will. In der Neuinszenierung von Händels «Giulio Cesare in Egitto» zoomt der Regisseur Dmitri Tcherniakov bedrängend nah an das Leben eines Diktators heran, der sich in privaten Liebesspielen ergeht, während er die damals bekannte Welt aus den Angeln hebt. Dagegen richtet die zweite Premiere den Blick auf die Opfer solcher Herrschertypen, die über Leichen gehen. Der von Peter Sellars konzipierte Doppelabend «One Morning Turns into an Eternity» ist zugleich eine der ungewöhnlichsten Festspielproduktionen seit langem.

Arnold Schönbergs Monodram «Erwartung» mit dem fast zur selben Zeit, um 1908, entstandenen «Abschied» aus Gustav Mahlers «Lied von der Erde» zu kombinieren – auf die Idee muss man erst kommen. Doch die Regie deutet eine mögliche Verbindung an. Bei Schönberg schildert eine Frau in einem erregten Bewusstseinsstrom ihre Gefühle und Ängste beim Warten auf ihren Partner, von dem sie schwanger ist. Im «Abschied» imaginiert eine andere Frau die Wiederbegegnung mit einem Freund, der jedoch ebenfalls nur in ihrer Phantasie erscheint; denn ihm war, so heisst es im Text, «auf dieser Welt das Glück nicht hold».

Sellars suggeriert, dass die Erwarteten in den beiden Stücken dieselbe Person sind. Und mehr noch: dass der Mann, der wie Becketts Godot niemals kommt, wahrscheinlich ein Opfer jener beiden finsteren Schergen geworden ist, die gleich zu Beginn einen Leichensack auf die Bühne schleppen. Das ist harter Tobak und vielleicht doch eine Spur zu klug erdacht. Das Verblüffende aber: Viel schlüssiger als in der Regie, die sich mit atmosphärischen Andeutungen begnügt, gelingt die Verbindung auf musikalischer Ebene. Schönberg und Mahler schöpften nämlich aus der gleichen Quelle – aus dem am Beginn der Wiener Moderne erwachten Interesse für die menschliche Psyche und deren Ausnahmezustände.

Schönbergs «Erwartung» gilt von jeher als frühes Beispiel einer komponierten Psychoanalyse. Dass sich aber auch Mahlers Ringen mit letzten Fragen im «Abschied» als innerer Monolog einer gefährdeten Seele verstehen lässt, ist die Erkenntnis des Abends. Esa-Pekka Salonen, auch hier am Pult der Wiener, unterstreicht die Nähe, indem er in beiden Stücken die modernen Aspekte herausstellt, etwa das radikal aufgebrochene Klangbild oder die fast grafische Anschaulichkeit, mit der in beiden Werken feinste Seelenregungen in musikalischen Gesten gespiegelt werden.

Die Interpretinnen der beiden Solopartien setzten gleichwohl unterschiedliche Akzente: Während die stimmgewaltige Sopranistin Ausrine Stundyte ihre Rolle bei Schönberg expressionistisch, fast mit der Attacke einer Straussschen Elektra angeht, bleibt die Mezzosopranistin Fleur Barron im Kern einer lyrischen Innerlichkeit verhaftet, die Mahlers Orchesterlied gerade nicht ins Opernhafte übersteigert.

Ab in den Bunker!

Anders als bei Sellars muss man bei Tcherniakovs Lesart des «Giulio Cesare» nicht erst das Programmheft zu Rate ziehen, um die zentrale These der Inszenierung zu erfassen. Sie wird einem drastisch durch das vom Regisseur selbst konzipierte Bühnenbild klargemacht. Er sperrt alle Beteiligten in einen unterirdischen Bunker – und das Publikum gleich mit.

Sirenen, Detonationen und eingeblendete Warnmeldungen vor und während der Aufführung lassen keine Zweifel, dass draussen ausserhalb der heilen Festspielwelt irgendein bewaffneter Kampf ausgebrochen ist. Vielleicht ist es bloss ein Reenactment jenes Alexandrinischen Krieges, in den sich der historische Cäsar um 48 vor Christus eingemischt hat. Vielleicht aber, und das lässt einen kurz schaudern, würde es tatsächlich so wirken, wenn ein Krieg unserer Zeit die Strassen der altehrwürdigen Mozart-Stadt erreichte.

Die Beklemmung währt allerdings nur kurz. Denn schnell liegt auf der Hand: Der hyperrealistische Rahmen ist ein typisches Tcherniakov-Setting, in dem sich die kommenden vier Stunden der Opernhandlung abspielen werden. Die Idee dahinter erscheint durchaus bedenkenswert: Was würde wohl passieren, wenn man die Anführer der jeweiligen Konfliktparteien kurzerhand mit einigen ihrer Opfer in einen hermetischen Raum sperrte, und zwar so lange, bis sie eine Lösung gefunden hätten? Händels Oper gibt darauf eine Antwort: Plötzlich geht es nicht mehr um irgendwelche ideologisch aufgebauschten Kriegsziele, sondern unmittelbar um die Klärung der menschlichen Beziehungen untereinander.

Ein schöner Gedanke. Bloss läuft es in der realen Welt selten so wie auf der Opernbühne. Und viel mehr ist Tcherniakov zu dem Stück leider auch nicht eingefallen, zumal der klaustrophobe Rahmen den Interaktionen zwischen den acht Protagonisten enge Grenzen setzt. Hier begnügt sich der Regisseur mit einem teilweise aggressiven Naturalismus, von Handgreiflichkeiten, Schreien und Lachen in die Musik hinein bis zur angedeuteten Vergewaltigung. In der Oper wirkt das schnell aufgesetzt und unglaubwürdig – auch hier. Folglich ist es wiederum die Musik, die den Abend retten muss.

Mit den Waffen der Frau

Zum Glück bildet die Dirigentin Emmanuelle Haïm am Cembalo und am Pult ihres vorzüglichen Originalklang-Ensembles Le Concert d’Astrée ein eigenes Kraftzentrum, das dem ermüdenden Hin und Her auf der Bühne belebende Impulse und überhaupt erst jene emotionale Bandbreite verleiht, die Händels antikes Historiendrama auszeichnet. Zudem ist die Besetzung, die nicht weniger als vier Countertenöre (anstelle der ursprünglichen Kastraten) verlangt, uneingeschränkt festspielwürdig.

Christophe Dumaux, hoch virtuos als Cesare, und seine Gegenspieler Yuriy Mynenko als Tolomeo und Federico Fiorio als Sesto schenken sich nichts. Sie macht nicht erst der Bunker zu gleichrangigen Rivalen; schon Händels phantasievolle Partitur zeigt einen jeden von ihnen in allen Zuständen zwischen Verzweiflung, Hass und Euphorie. Eine Lösung für ihren Konflikt finden die Männer dennoch nicht. Es bedarf dazu erst der beiden grossen Frauengestalten des Werks: der Cornelia von Lucile Richardot, die mit eindrucksvollem Mezzosopran den Opfern eine Stimme gibt, und der raffinierten Cleopatra von Olga Kulchynska.

Die ägyptische Herrscherin ist Politikerin und wohl die einzige Vernünftige in dem Spiel. Sie ist aber auch eine liebende Frau, und Kulchynska hält raffiniert in der Schwebe, in welcher dieser Rollen sie Cäsar schliesslich für sich gewinnt. Tcherniakov, ganz Realist, glaubt freilich auch nicht an dieses Happy End. Mit einem letzten krachenden Gruss von oben löscht er allen das Licht.

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